Monatsarchiv: Dezember 2013

Kreditkartenklau und Ausweiskontrolle

Selten einmal fragt ein Kassierer nach dem Ausweis, wenn mit der Kreditkarte gezahlt wird. Dabei wäre dies ein wirksames Mittel gegen den sog. Identitätsdiebstahl. Wenn die Kassierer Feedback erhalten, verbessert sich das Abfrageverhalten.

Der sogenannte Identitätsdiebstahl betrifft vor allem die Unterschlagung von Kreditkarten. Durch gestohlene Kreditkarten entstehen in den USA jedes Jahr Schäden in Milliardenhöhe, in jedem Einzelfall mehrere 10.000 Dollar. Eine wirksame Maßnahme gegen den Identitätsdiebstahl besteht darin, Kunden, die mit Kreditkarte zahlen, um die Vorlage eines Personalausweises oder Führerscheins zu bitten. Leider tun das die wenigsten Kassierer regelmäßig. Downing und Geller (2012) konnten zeigen, wie man die Häufigkeit, mit der Kassierer nach dem Ausweis fragen, wenn ein Kunde mit der Kreditkarte zahlt, steigern lässt. Die 21 Kassierer eines Lebensmittelgeschäfts nahmen an der Maßnahme teil. 28 Kassierer eines anderen Geschäfts dienten als Kontrollgruppe. In den ersten 39 Tagen wurde lediglich die Basisrate erfasst. Dazu stand ein Forschungsassistent (für den Kassierer sichtbar) in der Nähe der Kasse und beobachtete, ob der Kassierer nach dem Ausweis fragte oder nicht. Insgesamt wurden während der ganzen Untersuchungsdauer knapp 2000 Bezahlvorgänge mit Kreditkarte beobachtet (insgesamt fanden über 12.000 Beobachtungen statt). Während der Basisratenphase fragte der Kassierer in nur 0,2 % (in der Kontrollgruppe 0,3 %) aller Fälle, in denen ein Kunde mit Kreditkarte zahlte, nach dem Ausweis. Nicht gezählt wurden alle Bezahlvorgänge, bei denen keine Kreditkarte benutzt wurde. Auch in dem Fall, dass ein Kunde Alkohol oder Zigaretten kaufte, wurde der Vorgang nicht gewertet, da der Kassierer hier aus anderen, gesetzlichen Gründen nach dem Ausweis fragen muss. Nach dieser Basisrate fand ein Treffen der Kassierer statt, bei dem die Forscher mit den Mitarbeitern über die Notwendigkeit der Identitätsprüfung diskutierten und anschließend alle gemeinsam ein Ziel vereinbarten. Die Mitarbeiter einigten sich darauf, künftig in mindestens 15 % aller Fälle, in denen ein Kunde mit Kreditkarte bezahlt, diesen nach seinem Ausweis zu fragen. An den folgenden 23 Tagen erhielten die Kassierer jeden Morgen mündliches Feedback darüber, wie zu wie viel Prozent sie am Vortag bei Kreditkartenzahlungen nach dem Ausweis gefragt hatten. Dieser Anteil betrug über die Zeit hinweg im Schnitt 9,7 % (in der Kontrollgruppe zur selben Zeit nur 0,4 %). Anschließend wurde noch einmal 15 Tage lang nur beobachtet, ohne dass die Kassierer Feedback erhielten. Nun wurde nur noch in 2,3 % aller Fälle nach dem Ausweis gefragt (Kontrollgruppe 0,7 %).

Die Kassierer und eine Auswahl der Kunden wurde zudem befragt, wie sie die Maßnahme (das Fragen nach dem Ausweis) fanden. Aus eine Skala von 1 bis 5 (wobei 5 bedeutete, dass die Maßnahme sehr befürwortet wurde) gaben die Kassierer im Schnitt einen Wert von 2,4, die Kunden von knapp 4. Beide Gruppen, die Kassierer und die Kunden, fanden die Maßnahme sinnvoll und richtig, den Aufwand vertretbar. Als problematisch wurde beschrieben, dass viele Kunden den Kassierern persönlich bekannt waren. In diesen Fällen war es nicht sinnvoll, nach einem Ausweis zu fragen. Auch die geringe  Unterstützung durch die Führungskräfte wurde von den Kassierern bemängelt.

Literatur

Downing, Christopher O. & Geller, E. Scott. (2012). A goal-setting and feedback intervention to increase ID-Checking behavior: An assessment of social validity and behavioral impact. Journal of Organizational Behavior Management, 32(4), 297-306.

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„Tiefendruck“ ist ein Verstärker

Von Pseudotherapien kann man tatsächlich etwas lernen. Von der Sensorischen Integrationstherapie etwa, dass das Eingepackt-werden-in-Matten für das Verhalten einiger Kinder ein Verstärker ist. Gut zu wissen. Hoffentlich wissen das auch die Anwender dieser Methode.

Einige Ergotherapeuten verwenden im Rahmen der sogenannten sensorischen Integrationstherapie verschiedene Maßnahmen, bei denen das behandeltet Kind einem physischen Druck ausgesetzt wird. Das Kind wird z. B. zwischen Matten oder Kissen gepackt oder vom Therapeuten gedrückt, auch von einer „Knuddel-Maschine“ (Edelson et al., 1999) wird berichtet. Dieser Behandlung liegt die Annahme zugrunde, dass der „Tiefendruck“ eine langanhaltende beruhigende Wirkung habe.

McGinnis et al. (2013) stellen sich die Frage, ob diese Maßnahmen als Verstärker wirken. Die Therapeuten verwenden diesen Tiefendruck vor allem, um Kinder, die problematisches Verhalten zeigen, zu beruhigen. Wenn Tiefendruck ein Verstärker ist, steht zu befürchten, dass sich das Problemverhalten verschlimmert, wenn sein Einsatz kontingent auf das Problemverhalten erfolgt. Mit anderen Worten: Das Kind mag zwar durch den Tiefendruck vorübergehend ruhig werden, langfristig aber wird das Problemverhalten häufiger auftreten, denn es wird ja durch diese Maßnahme verstärkt.

McGinnis et al. (2013) testeten diese Maßnahmen auf ihre Verstärkerwirkung hin. Drei Kinder mit einer schweren Form des Autismus nahmen an den Versuch teil. Die Kinder sollten lernen, entweder auf ein Kreissymbol oder ein Dreieck zu deuten. Deuteten sie auf das richtige Symbol, wurden sie zwischen die zwei Hälften einer Gymnastikmatte gepackt (der Kopf und der Hals des Kindes waren natürlich frei). Die Anforderung an das Kind wechselte mit den Phasen der Untersuchung. Zunächst sollten die Kinder auf das Dreieck deuten. Das Verhalten der Kinder passte sich schnell an, sie deuteten nach wenigen Versuchen kaum mehr auf den Kreis, sondern fast ausschließlich auf das Dreieck. In der nächsten Phase sollten die Kinder den Kreis berühren. Auch hier passte sich das Verhalten der Kinder schnell an. Auch bei weiteren Wechseln änderte sich das Verhalten in Abhängigkeit von der geltenden Kontingenz (der Regel, welches Verhalten – das Deuten auf eines der beiden Symbole – dazu führte, dass das Kind anschließend für kurze Zeit zwischen die Matte gepackt wurde).

Dieser Versuch legt nahe, dass die übliche Praxis des Einpackens (die Ausübung von Tiefendruck) für das Verhalten der so behandelten Kinder ein Verstärker ist. Die Autoren empfehlen, diese Maßnahmen, wenn überhaupt, nur gezielt und im Wissen um ihre mögliche Verstärkereigenschaft einzusetzen, z. B. um erwünschtes Verhalten zu formen.

Literatur

Edelson, S. M.; Edelson, M. G.; Kerr, D. C. R. & Grandin, T. (1999). Behavioral and physiological effects of deep pressure on children with autism: A pilot study evaluating the efficacy of Grandin’s hug machine. American Journal of Occupational Therapy, 53, 145-152.

McGinnis, Amy A.; Blakely, Elbert Q; Hervey, Ada C.; Hodges, Ansley C. & Rickards, Joyce B. (2013). The behavioral effects of a procedure used by pediatric occupational therapists. Behavioral Interventions, 28(1), 48-57. PDF 257 KB

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Falschdarstellungen der verhaltensanalytischen Autismustherapie und der Erfolg der Pseudotherapien

Die wissenschaftlich abgesicherte verhaltensanalytisch fundierte Therapie bei Autismus wird oft falsch dargestellt. Zudem werden pseudowissenschaftliche Verfahren angepriesen (ich berichtete). Oft hängt das eine mit dem anderen zusammen: Die wissenschaftlich abgesicherte Therapie wird diffamiert, damit die pseudowissenschaftliche Therapie als Lösung verkauft werden kann. Ein Phänomen, das aus der Vermarktung der Alternativmedizin bekannt ist.

Die verhaltensanalytische Therapie gilt beim frühkindlichen Autismus als der Gold-Standard. Foxx (2008) berichtete, dass über 1000 wissenschaftliche Artikel in Zeitschriften mit Gutachterverfahren erfolgreiche Ergebnisse der Therapie darstellen. Dennoch greifen sowohl Eltern als auch Therapeuten immer wieder zu Verfahren, für deren Wirksamkeit keine wissenschaftlichen Belege vorliegen. Sowohl die ethischen Richtlinien der amerikanischen Psychologenvereinigung als auch der Zertifizierungsstelle für Verhaltensanalytiker (BACB) betonen, dass ein ethisches Handeln voraussetzt, dass man nur die Verfahren einsetzt, die sich in einer wissenschaftlichen Überprüfung als wirksam erwiesen haben. Zwar verwenden einige dieser „alternativen“ Verfahren auch Methoden, wie sie ähnlich bei der verhaltensanalytischen Therapie eingesetzt werden. Dennoch ist ihr Einsatz in diesen alternativen Verfahren ohne eine wissenschaftliche Absicherung unethisch. Überaschenderweise nutzen sogar 16,4 % der zertifizierten Verhaltensanalytiker eine wissenschaftlich nicht abgesicherte Methode wie die sensorische Integrationstherapie (SIT), zum Teil parallel zu der verhaltensanalytischen Therapie (Schreck & Mazur, 2008). Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die Verhaltensanalytiker erleben mussten, dass man ihren Methoden mit Misstrauen und Vorbehalten begegnet ist. Ein „Buffet-Ansatz“, bei dem sich Therapeut und Klient jeweils das aus dem Angebot an Therapien heraussuchen, was ihnen gerade zusagt, ist wohl leichter durchzuhalten als die strikte Befolgung der wissenschaftlich abgesicherten verhaltensanalytischen Therapie.

Schreck und Miller (2010) geben einen Leitfaden, wie man alternative Behandlungsansätze in der Praxis schnell einschätzen kann. Zudem nennen sie die verbreitetsten Argumente, die gegen die verhaltensanalytische Therapie vorgebracht werden.

Hier ihr Leitfaden, wie man als Praktiker verfahren soll, wenn man mit einer „alternativen“ Therapie konfrontiert wird:

  1. Prüfe, ob es Metaanalysen oder Übersichten (Reviews) zu dem Verfahren gibt. Sofern es mehrere gibt, wäge diese gegeneinander ab. Verfolge dabei auch die Kritik an diesen Metaanalysen und beurteile diese Kritik vor dem Hintergrund deiner Methodenkenntnisse im wissenschaftlichen Arbeiten. Wenn die vorliegenden Metaanalysen und Übersichten nahelegen, dass das Verfahren wirksam ist, dann kannst du es ggf. auch einsetzen.
  2. Wenn es keine solchen Überblicksarbeiten gibt, verschaffe dir einen Überblick über die vorliegenden Studien zum Verfahren. Um die Qualität dieser Studien zu beurteilen, greife wiederum auf deine Methodenkenntnisse zurück und stelle dir u. a. folgende Fragen: Gibt es in diesen Studien eine Kontrollgruppe? Wurden die Versuchspersonen den Gruppen zufällig zugewiesen? Wurde die Studie in einer Zeitschrift mit Gutachterverfahren veröffentlicht? Usw.
  3. Wenn es kaum oder keine Studien zu dem Verfahren als Ganzes gibt, prüfe, ob es einzelne Komponenten dieses Verfahrens wissenschaftlich geprüft wurden. Beachte dabei:
    1. Die theoretische Basis dieses Verfahrens.
    2. Die verwendeten Methoden.
    3. Die Wirksamkeitsbehauptungen.

Welche dieser Komponenten kann sich auf fundierte Forschung berufen? Steht beispielsweise die theoretische Grundlage des Verfahrens in Widerspruch zu den wohletablierten Kenntnissen der Grundlagenwissenschaften? Können die Techniken zumindest theoretisch überhaupt funktionieren? Ist es z. B. wahrscheinlich, dass man durch Bewegungen der Extremitäten auf einer Körperseite nicht nur die motorischen Neuronen der gegenüberliegenden Hirnhälfte aktiviert, sondern auch bestimmte kognitive Fähigkeiten? Wenn dies zweifelhaft erscheint und zudem keine Wirksamkeitsbelege für das Verfahren oder Teile des Verfahrens vorliegen, sollte man davon Abstand nehmen, dieses Verfahren zu verwenden.

  1. Wenn anekdotische Belege für den Nutzen des Verfahren oder einzelner Techniken vorliegen, sollte man fragen, auf welche Weise diese scheinbaren Erfolge entstanden sein können. Eine Besserung der Symptome nach der Anwendung der Methoden des unwissenschaftlichen Verfahrens muss nicht bedeuten, dass das Verfahren wirksam ist (Wer-heilt-hat-Recht-Fehler).
  2. Wenn es naheliegt, dass tatsächlich die eingesetzten Methoden des unwissenschaftlichen Verfahrens wirksam waren, es andererseits jedoch unwahrscheinlich ist, dass die dem Verfahren zugrundeliegende Theorie gültig ist, dann überlege, welche anderen, verhaltenswissenschaftlich fundierten Prozesse für den anscheinenden Erfolg der Maßnahmen verantwortlich sein könnten.

Schreck und Miller (2010) demonstrieren den Einsatz dieses Leitfadens anhand der sensorischen Integrationstherapie (SIT).

  1. Es liegen keine Metaanalysen und Übersichtsarbeiten zur SIT vor.
  2. Es gibt auch keine Wirksamkeitsstudien, die den üblichen Kriterien genügen
  3. Es gibt keine publizierten wissenschaftlichen Studien, die die theoretischen Grundlagen der SIT belegen könnten. Einzelne Methoden der SIT (wie die Anwendung von „Tiefendruck“, taktiler Stimulation, grobmotorischer Übungen usw.) wurden nicht ausreichend auf ihre Wirksamkeit hin geprüft.
  4. Es gibt zahlreiche Erfolgsanekdoten, die die Wirksamkeit von SIT und einzelnen Techniken der SIT belegen sollen. In der Regel sind diese Erfolge aber nur scheinbare Erfolge, da sich die Besserung entweder nicht belegen lässt oder auch durch andere Faktoren (z. B. zyklischer Verlauf von Erkrankungen oder Zeit und Reifung) erklärt werden kann.
  5. Einzelne Methoden haben tatsächlich eine Wirkung, die sich aber besser vor dem Hintergrund der Verhaltenswissenschaft als vor dem Hintergrund der unwissenschaftlichen Theorie der SIT erklären lassen. Z. B. konnte gezeigt werden, dass die beruhigende Wirkung der Ausübung von Tiefendruck sich durch Verstärkereigenschaften dieser Techniken erklären lässt (vgl.McGinnis et al., 2013).

Die von den Vertretern der SIT behaupteten Wirkungen der Therapie (eine verbesserte Fähigkeit zu fokusieren, Verbesserung der Funktion des Nervensystems, bessere Organisation der Gedanken und Gefühle) sind entweder nicht belegt oder aber nicht messbar. Erfolgsversprechen, die sich in einer konkreten Verhaltensänderung niederschlagen würden, werden seltener gemacht.

Insgesamt gesehen muss vom Einsatz der SIT oder einzelner Techniken der SIT vor diesem Hintergrund abgeraten werden.

Die Nachfrage nach SIT und anderen unwissenschaftlichen Verfahren speist sich jedoch nicht nur aus deren behaupteter Wirksamkeit. Die Ablehnung der verhaltensanalytisch fundierten Therapie bei Autismus (ABA) ist auch ein Grund für die Popularität von SIT. Diese Ablehnung resultiert aus den – oft von den Anhängern unwissenschaftlicher Verfahren verbreiteten – Falschdarstellungen von ABA. Die Anhänger „alternativer“ Autismustherapien folgen dabei dem bewährten Muster der Alternativmedizin: Schädige erst den Ruf der wissenschaftsbasierten Verfahren, um so Ablehnung und, wenn möglich, einen Nocebo-Effekt zu fördern und biete anschließend die eigenen wirkungslosen Verfahren als „sanfte“ und „nebenwirkungsfreie“ Alternative an.

Die verbreitetsten Falschdarstellungen lauten:

  1. „ABA ist rigide und mechanistisch“.

Dem steht die soziale Validität der ABA-Ansätze entgegen, d. h. sie sind nachvollziehbar und machen sich positiv im Alltag bemerkbar. Zudem lehrt ABA nicht vorrangig Gehorsam, sondern ein breites Spektrum an kognitiven und sozialen Fertigkeiten, die den Patienten bei der Lebensbewältigung helfen. Auch sind ABA-Programme immer das Resultat einer umfassenden Diagnose und Situationsanalyse, auf deren Grundlage ein individualisiertes Behandlungsprogramm zusammengestellt wird.

  1. „ABA verwendet vorrangig Strafen, die alternativen Ansätze dagegen nur positive Maßnahmen“.

ABA arbeitet hauptsächlich mit positiver Verstärkung und nur in sehr geringem Ausmaß, bei sehr klar definierten Problemen, mit aversiven Maßnahmen, z. B. dann, wenn andere Maßnahmen nicht wirken und der Schaden für das Kind (z. B. durch lebensgefährdendes selbstverletzendes Verhalten) bei Unterlassung erheblich wäre. Auch gilt hier, dass immer die am wenigsten beeinträchtigende Maßnahme gewählt werden soll (also nicht „Schläge und Elektroschocks“, sondern allenfalls Entzug eines Spielzeugs oder das Sprühen eines feinen Wassernebels ins Gesicht). Bei alternativen Verfahren wird dagegen in der Regel überhaupt nicht geprüft, ob eine eingesetzte Methode ein Strafreiz sein könnte (z. B. in eine enge „Körpersocke“ gepresst zu werden). Bestenfalls dient hier das Ausbleiben von heftiger Gegenwehr des Kindes als Indiz, dass das Kind die Behandlung dulde. Mit ähnlichen Argumenten wird ja auch verteidigt, dass Säuglingen ohne Betäubung Schmerz zugefügt wird (z. B. bei Beschneidungen), diese hätten kein Schmerzgedächtnis und das Weinen sei nicht notwendigerweise der Ausdruck von Schmerz. Nur weil es sich nicht artikulieren kann, bedeutet dies nicht, dass das Kind die Behandlung gut findet. Verhaltensanalytiker erkennen dagegen einen Strafreiz auch daran, dass er dazu führt, dass ein Verhalten, auf das er kontingent folgt, seltener auftritt – eine ausgesprochen objektive und die einzig wissenschaftlich fundierte Methode zur Feststellung, ob eine Maßnahme aversiv ist oder nicht.

  1. „ABA ist aufwändig und teuer, alternative Verfahren dagegen sind billig und einfach“.

Sicherlich kostet eine ABA-Therapie anfänglich mehr als die meisten alternativen Verfahren. Auch ist sie aufwändig, sowohl was die zu investierende Zeit als auch was die Ausbildung und die Fertigkeiten des Therapeuten angeht. Viele alternative Verfahren sind dagegen leicht zu erlernen und anzuwenden. Sie suggerieren, dass es für ein komplexes Problem eine einfache Lösung gibt. Dies macht Verfahren wie SIT für vielbeschäftigte Therapeuten und Pfleger so attraktiv.

  1. „Alle Kinder mit Autismus sollten dieselbe Behandlung bekommen“.

ABA-Therapeuten machen wenige Vorannahmen über autistische Kinder, sie gehen nicht davon aus, dass alle autistischen Kinder mehr oder weniger die gleichen Symptome haben, sondern sie verlassen sich auf eine eingehende Analyse, um herauszufinden, welche Probleme unter welchen Umständen auftreten. Die Anhänger von SIT dagegen setzen voraus, dass alle Kinder, denen die Diagnose „Autismus“ zugewiesen wurde, ein Problem mit der Verarbeitung ihrer Sinnesreize, der „sensorischen Integration“ hätten.

  1. „Alternative Verfahren sind harmlos, warum also sollte man sie nicht verwenden?“

Schreck und Miller (2010) bezeichnen dies als den Buffet-Ansatz der Autismustherapie. Wie an einem Buffet sucht man sich aus dem Angebot an Therapien und Methoden das heraus, was einem zusagt. Es gibt aber, so könnte man anmerken, keine Wahrheit im Falschen. Ein wirkungsloses Verfahren trägt nichts zu einer wirkungsvollen Behandlung bei, es parasitiert aber bei der erwiesenermaßen wirkungsvollen verhaltensanalytischen ABA-Therapie, sofern diese zeitgleich ausgeführt wird. Die Besserung, die ABA bewirkt, wird ganz oder teilweise dem „alternativen“ Verfahren zugeschrieben. Man kennt dieses Phänomen von der Alternativmedizin. Zusätzlich zum Antibiotikum werden Globuli oder andere Placebos eingenommen. Geht es dem Patienten besser, wird dies den Globuli zugeschrieben, geht es ihm schlechter, lag dies an den Nebenwirkungen der Antibiotika.

  1. „Viele Kunden berichten von Erfolgen der alternativen Verfahren“

Erfolgsanekdote und andere unzuverlässige Belege gibt es in der Szene zuhauf. Sie sagen aber rein gar nichts über die tatsächliche Wirksamkeit der alternativen Verfahren aus.

  1. „Das alternative Verfahren existiert schon so lange. Dies ist ein Beleg für seinen Nutzen“.

Dies ist ein Appell an die Tradition und insofern ein ungültiges Argument. Auch die Sklaverei und die Unterdrückung der Frau können auf eine jahrtausendealte Tradition zurückblicken, dies bedeutet jedoch nicht, dass diese gesellschaftlichen Zustände „richtig“ waren. Ebenso blickt die Astrologie auf eine Jahrtausende währende Geschichte zurück, auch dies sagt nichts über ihre Gültigkeit aus. Zudem passen sich auch alternative Verfahren mit der Zeit an, um so der Widerlegung zu entgehen. Doch in jeglicher Form fallen sie durch, wenn sie denn wissenschaftlich getestet werden. Jedes Jahr tauchen neue Formen sogenannter alternativer Verfahren auf. Die Wissenschaft kommt schlicht nicht hinterher damit, sie alle zu prüfen. Daher sollte man erst dann ernsthaft über solche Verfahren diskutieren, wenn sie jenseits der allfälligen Erfolgsanekdoten erste Belege für ihre Wirksamkeit vorlegen können.

Schreck und Miller verweisen darauf, wie schwierig es ist, als Therapeut bei seinen wissenschaftlichen Standards zu bleiben. Der Druck von Seiten der Medien und der Eltern, auch „alternative“ Verfahren in einem Behandlungs-Buffet anzubieten, ist enorm. Mit dem vorgestellten Leitfaden und der Argumentationshilfe zur Entgegnung auf Falschdarstellungen des ABA-Ansatzes möchten sie eine Hilfestellung geben. Der Artikel enthält zudem eine ausführliche, thematisch sortierte Literaturliste, um auf diese Falschdarstellungen fundiert reagieren zu können.

Literatur

Foxx, R. M. (2008). Applied behavior analysis treatment of autism: The state of the art. Child and Adolescent Psychiatric Clinics of North America, 17(4), 821-834.

McGinnis, Amy A.; Blakely, Elbert Q; Hervey, Ada C.; Hodges, Ansley C. & Rickards, Joyce B. (2013). The behavioral effects of a procedure used by pediatric occupational therapists. Behavioral Interventions, 28(1), 48-57. PDF 257 KB

Schreck, K. A. & Mazur, A. (2008). Behavior analyst use of and beliefs in treatments for people with autism. Behavioral Interventions, 23(3), 201-212.

Schreck, Kimberly A. & Miller, Victoria A. (2010). How to behave ethically in a world of fads. Behavioral Interventions, 25(4), 307-324. PDF 152 KB

Smith, T.; Mruzek, D. W. & Mozingo, D. (2005). Sensory integrative therapy. In J. W. Jacobson, R. M. Foxx & J. A. Mulick (Eds.), Controversial therapies for developmental disabilities: Fad, fashion and science in professional practice (pp. 331-350). Mahwah, NJ, US: Lawrence Erlbaum Associates Publishers.

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Autismus-Therapien in den Medien

Zeitungen und Zeitschriften berichten viel häufiger über unwissenschaftliche als über wissenschaftlich abgesicherte Verfahren zur Behandlung des Autismus. Zudem stellen sie die unwissenschaftlichen Verfahren deutlich positiver dar als die wissenschaftlichen.

Wie bei allen schwerwiegenden Erkrankungen gibt es auch im Bereich des Autismus eine Vielzahl an zweifelhaften Behandlungsmethoden. Für 45 % aller am Markt befindlichen Behandlungsmethoden für Autismus gibt es keinerlei Forschungen, die die Wirksamkeit oder Sicherheit dieser Verfahren belegen würden (Richdale & Schreck, 2008; Romcanczyk et al., 2008). Die wenigsten Eltern wählen aber die Behandlungsmethode für ihr Kind aufgrund einer kritischen Prüfung der Studienlage. Eltern wählen die Behandlung aufgrund von Empfehlungen. Viele Empfehlungen finden sich heutzutage in den Medien, dem Fernsehen und dem Internet, aber auch in Zeitungen und Zeitschriften.

Schreck et al. (2013) untersuchten, wie häufig über Behandlungsmethoden für Autismus in den Jahren 2000 bis 2010 in den fünf auflagenstärksten Tageszeitungen und Zeitschriften der USA berichtet wurde. Sie fanden insgesamt 88 Artikel, 72 in den Zeitungen, 16 in den Zeitschriften. Schreck et al. (2013) zählten aus, wie oft eine Behandlungsmethode erwähnt wurde und ließen von Experten, die bezüglich des Untersuchungszieles verblindet waren, beurteilen, ob die Erwähnung in einem positiven (empfehlenden) oder negativen (von einem Einsatz abratenden) Zusammenhang stattfand.

Schreck et al. (2013) verglichen, wie oft und in welchem Zusammenhang (in Bezug auf Autismus) wissenschaftlich gut abgesicherte, wissenschaftlich wenig abgesicherte und unwissenschaftliche Verfahren erwähnt wurden. Als wissenschaftlich gut abgesichert galt allein die verhaltensanalytisch fundierte Therapie (ABA). Dies entspricht auch einer Empfehlung des amerikanischen Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 1999 (U.S. Department of Health and Human Services, 1999). Als wenig abgesichert galten die Verfahren TEACCH (Treamtment and education of autism and related communication handicapped children), Floortime, die Vitamintherapie und die Touch Therapy. Als unwissenschaftlich werteten die Autoren unter anderem die Sensorische Integrationstherapie, die gestützte Kommunikation (Faciliated communication, FC), die glutenfreie Diät, die Musiktherapie, die Cranio-Sacral-Therapie und die Festhaltetherapie.

Die Autoren fanden, dass zu 80 % wissenschaftlich nicht oder wenig abgesicherte Verfahren erwähnt wurden, nur zu 20 % wurde die wissenschaftlich abgesicherte ABA-Therapie erwähnt. Bestürzend ist zudem, dass auf jede negative Darstellung von ABA nur zwei positive Darstellungen kamen, bei den wenig und unwissenschaftlichen Verfahren dagegen kamen auf jede kritische Darstellung gleich vier positive Darstellungen. Nicht nur, dass die Medien viel häufiger über die wenig abgesicherten oder unwissenschaftlichen Verfahren berichten, sie stellen diese auch noch wesentlich positiver dar als das wissenschaftlich abgesicherte Verfahren. Hinzu kommt, dass sich dieses Verhältnis über die zehn Jahre hinweg verschlechtert hat, d. h. in den späteren „0er“-Jahren wurde seltener und negativer über ABA berichtet als in den frühen, umgekehrt wurde gegen Ende des Erhebungszeitraums häufiger und positiver über die wenig abgesicherten und unwissenschaftlichen Verfahren berichtet.

Die Zahlen sind erschreckend, zumal die negativen Kommentare über ABA meist von wenig Kenntnis der Methode zeugen („hauptsächlich Bestrafung“, „roboterhaft“ etc.), die positiven Kommentare über die unwissenschaftlichen Verfahren dagegen die üblichen Stereotype wiedergeben, wie sie auch über die Alternativmedizin von den Medien verbreitet werden („ganzheitlich“, „sanft“ etc.). Die seriöseren Zeitungen und Zeitschriften unterschieden sich nicht von den weniger serösen. Unter anderem fiel das „Wall Street Journal“ dadurch auf, dass es fast ausschließlich positiv nur über die unwissenschaftlichen Verfahren berichtete.

Die Ergebnisse von Schreck et al. (2013) können natürlich auch so interpretiert werden, dass es viel mehr unwissenschaftliche als wissenschaftlich abgesicherte Verfahren gibt. Auch berichten Zeitungen und Zeitschriften naturgemäß eher über Neuigkeiten. Es gibt immer wieder neue unwissenschaftliche Verfahren, die Eltern Hoffnungen machen. Über ABA gibt es allerdings keine Neuigkeiten, außer, dass die Wirksamkeit des Verfahrens immer besser nachgewiesen wird.

Die Autorinnen schlagen vor, dass Verhaltensanalytiker nicht nur mit Leserbriefen reagieren sollen, wenn sie Falschdarstellungen von ABA in Zeitungen und Zeitschriften finden. Besser ist ihres Erachtens ein proaktiver Zugang: Auch ABA-Therapeuten können mit bewegenden Geschichten aufwarten. Solche „Neuigkeiten“ werden von den Journalisten gerne aufgegriffen. Zudem sind dies – leider – die „Argumente“, die viele Eltern davon überzeugen, sich für eine bestimmte Therapie für ihr Kind zu entscheiden.

In Deutschland ist ABA noch kaum verbreitet. Es ist für Eltern, die sich eine ABA-Therapie für ihr Kind wünschen, extrem schwer, einen (wirklich) geeigneten Therapeuten für ihr Kind zu finden (wirklich geeignet sind nur die BCBA-zertifizierten Therapeuten). Doch schon jetzt finden sich im Internet diffamierende Darstellungen von ABA. Diesen gegenüber stehen die vielen schönfärberischen Darstellungen pseudowissenschaftlicher Verfahren. Eine entsprechende Auswertung mit deutschen Zeitungen und Zeitschriften dürfte gegenwärtig nur wenige Treffer erbringen.

Literatur

Richdale, A. & Schreck, K. A. (2008). A history of assessment and intervention in autism. In J. Matson (Ed.), Clinical assessment and intervention for autism (pp. 3-32). NY: Elsevier.

Romanczyk, R. G.; Gillis, J. M.; White, S. & Digennaro, F. (2008). Comprehensive treatment packages for autism: Perceived vs. proven effectiveness. In J. Matson (Ed.), Clinical assessment and intervention for autism (pp. 351-381). NY: Elsevier.

Schreck, Kimberly A.; Russel, Melissa & Vargas, Luis A. (2013). Autism treatments in print: Media’s coverage of scientifically supported and alternative treatments. Behavioral Interventions, 28(4), 299-321. PDF 1,03 MB

U.S. Department of Health and Human Services. (1999). Mental health: A report of the surgeon general. Retrieved June 7, 2010 from here.

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Empfehlenswert: Aubreys Blog

Aubrey Daniels ist einer der profiliertesten Verhaltensanalytiker im Bereich des Organizational Behavior Management, unter anderem aufgrund seiner Bücher, sowohl Fachbücher zum Performance Management als auch unterhaltsame Titel wie „OOPS! 13 Management Practices That Waste Time & Money„, „Other Peoples Habits“ und „Bringing Out the Best in People„. Daneben ist er ein sehr erfolgreicher Unternehmensberater, der es schafft, wissenschaftliche Ergebnisse anschaulich zu vermitteln, ohne seine behavioristisch-verhaltensanalytischen Wurzeln zu verleugnen. Sein Blog ist lesenswert und eine Empfehlung. Auch das Thema „verhaltensorientierte Arbeitssicherheit“ (Behavior Based Safety, BBS) wird hier unterhaltsam dargestellt. Aubrey Daniels zieht Parallelen zwischen den Erziehungpraktiken und der Art, wie man mit seinen Mitarbeitern umgeht.

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BBS bei behavior.org

Das Cambridge Center for Behavioral Studies (CCBS) veröffentlicht mehrmals im Jahr einen Newsletter. Dort finden sich immer wieder mal Beiträge zum Thema verhaltensorientierte Arbeitssicherheit (Behavior Based Safety, BBS). In der aktuellen Ausgabe (PDF 1,47 MB) finden sich zwei kurze Beiträge von Timothy Ludwig und Jerry Pounds. Das CCBS zertifiziert übrigens Firmen, die ein BBS-System haben, dass den Prinzipien von BBS gerecht wird. Leider nehmen nur wenige Firmen diesen Service in Anspruch.

Ludwig, Timothy D. (2013). The rule mill. The Current Repertoire, 29(3), 5.

Im Bereich der Arbeitssicherheit fragt man sich oft, warum Beschäftigte Regeln, die ihrem eigenen Schutz dienen, brechen. Timothy Ludwig (2013) berichtet von einem Gespräch mit den Beschäftigten eines Betriebes, der BBS verwendete. Ludwig fragte sie u. a., warum sie sich so genau an die Sicherheitsvorschriften des Betriebes hielten und bekam zur Antwort: „Warum sollten wir die Regeln brechen? – Wir haben sie selbst aufgestellt“.

Man sollte die Mitarbeiter soweit irgend möglich in den BBS-Prozess einbeziehen. Wenn die Mitarbeiter selbst die Regeln schaffen, halten sie sich auch daran.

Pounds, Jerry. (2013). Only leaders can change a culture. The Current Repertoire, 29(3), 4-9.

Jerrry Pounds (2013) erinnert daran, dass man eine andere Betriebskultur nicht herbeireden kann. Viele Initiativen zur Änderung der Kultur scheitern, weil sie nicht zwischen dem Unterscheiden, was unveränderlich ist (z. B. der Branche und der Art der Arbeit) und dem, was man verändern kann (z. B. dem Verhalten). Wenn man dem Beschäftigten eines Stahlwerks sagt, dass er seinen Kollegen daran erinnern soll, sich nicht im gefährlichen Bereich aufzuhalten, erreicht man mehr, als wenn man sich vornimmt, dass die Mitarbeiter „Verantwortung für die Sicherheit übernehmen“ sollen – ein Vorsatz, der lobenswert, aber abstrakt ist.

Den stärksten Einfluss aber auf die Kultur des Unternehmens haben die Führungskräfte. Die Werte und Prioritäten der Führungskraft beeinflussen das Verhalten der Beschäftigten schnell und zuverlässig. Pounds möchte den Führungskräften einige Ideen auf den Weg geben. Er hat diese Gedanken schon von vielen Mitarbeitern von Führungskräften gehört. Sie sagten es ihm, aber nicht ihren Vorgesetzten:

  • Die meisten Vorgesetzten verstehen nicht, welch großen Einfluss unmittelbare Konsequenzen auf das haben, was der Mitarbeiter gerade tut. Viele Führungskräfte betrachten positive Verstärkung als etwas, das notwendig ist, aber nicht entscheidend für den Geschäftserfolg.
  • Viele Vorgesetzte wissen über die Gesetze des Verhaltens Bescheid, aber sie nutzen dieses Wissen nicht.
  • Die wichtigste Situation, in der das Verhalten des Mitarbeiters durch Lob und Strafe geformt wird, ist der Dialog zwischen Vorgesetzten und Mitarbeiter.
  • Belohnungs-, Anerkennungs- und Anreizsysteme sind oft Hemmnisse für eine erfolgreiche Führung. Die Führungskraft glaubt damit, das Verhaltend der Mitarbeiter zu steuern. Viel wichtiger aber ist der unmittelbare Kontakt.

Wenn man die Art, wie eine Organisation arbeitet, verändern möchte, sollte man die Elemente der gegenwärtigen Kultur kennen, die man erhalten und die man ändern möchte.

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Akademische Folklore: Der „Hawthorne-Effekt“

Der „Hawthorne-Effekt“ ist ein ganz-ganz wichtiger Effekt, das lernt jeder Psychologiestudent. Doch was für ein Effekt ist das eigentlich? Und gibt es ihn überhaupt?

Der Begriff „Hawthorne-Effekt“ geht zurück auf eine Reihe von Studien, die bei den Hawthorne-Werken in Chicago zwischen 1927 bis 1931 durchgeführt wurden. Die Ergebnisse dieser Studien sind in dem Buch Management and the worker von Roethlisberger und Dickson (1939) zusammengefasst. Der Begriff „Hawthorne-Effekt“ wurde aber erst von French (1953) eingeführt, so Rosenthal und Rosnow (1991).

Chiesa und Hobbs (2008) suchten nach Fachartikeln, die den Begriff „Hawthorne-Effekt“ als Schlüsselbegriff verwendeten. Darüber hinaus untersuchten sie, wie oft und in welcher Bedeutung der Begriff in Lehrbüchern verwendet wird. Dabei unterscheiden sie „ältere“ (Erscheinungsdatum 1953-1985) und „neuere“ (1986-2003) Lehrbücher. Von den 115 älteren Lehrbüchern erwähnen 19 den Begriff, von den 112 neueren Büchern 29. Der Begriff scheint also eher häufiger verwendet zu werden. Weiter unterscheiden Chiesa und Hobbs die verschiedenen wissenschaftlichen Teilgebiete, in denen der Hawthorne-Effekt erwähnt wird. Die meisten Erwähnungen erfolgen im Zusammenhang mit Forschungsmethoden, gefolgt von den Teilbereichen „Organisationspsychologie“ und „Geschichte der Psychologie“. Aber auch im Bereich der Entwicklungspsychologie wird nicht selten auf den Begriff „Hawthorne-Effekt“ Bezug genommen.

Chiesa und Hobbs stellen fest, dass viele Lehrbuchautoren den Begriff „Hawthorne-Effekt“ in verschiedener Weise verwenden. Dieselben Autoren verwenden den Begriff bisweilen im selben Lehrbuch nebeneinander in zweierlei Bedeutungen (z. B. Davis & Shackleton, 1975, S. 46 und S. 55), ohne diese Divergenz aufzuklären. In der ersten Bedeutung etwa ist der Hawthorne-Effekt eine Leistungssteigerung aufgrund einer Veränderung in der Arbeitswelt der Mitarbeiter. In der zweiten Bedeutung bedeutet der Begriff, dass sich die Leistung der Mitarbeiter verbessert, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden.

Insgesamt fanden Chiesa und Hobbs mindestens sechs verschiedene Bedeutungen, die dem Hawthorne-Effekt von Lehrbuchautoren zugeschrieben werden. So sei die Leistungssteigerung der Mitarbeiter in den Hawthorne-Werken auf

  • die Neuheit der Situation (z. B. Gardiner, 1980),
  • eine beliebige Veränderung (z. B. Woolfolk & McCune-Nicolich, 1984),
  • die Künstlichkeit der Untersuchungssituation (z. B. French, 1953),
  • den Glauben der Arbeiter, dass man ihnen etwas Gutes tun wolle (z. B. Davis & Shackleton, 1975),
  • das Bewusstsein der Arbeiter, dass sie beobachtet werden (z. B. Woolfolk & McCune-Nicolich, 1984) und
  • eine geringere Langeweile der Arbeiter (z. B. Gardiner, 1980)

zurückzuführen.

Chiesa und Hobbs unterscheiden fünf Kategorien, die im Zusammenhang mit dem Hawthorne-Effekt eine Rolle spielen und bei denen sich die sehr unterschiedlichen Auslegungen des Effekts bemerkbar machen:

  1. Umwelteinflüsse
  2. Intervenierende Variablen
  3. Verhaltensänderungen
  4. Welcher Disziplin oder Forschungsrichtung der Effekt zuzuordnen sei
  5. Konzepte, die mit dem Hawthorne-Effekt in Verbindung stehen sollen

Ad 1.:

Bei den Umwelteinflüssen, die beim Hawthorne-Effekt eine Rolle spielen, werden genannt: „neue Methoden“, „Innovation“, „Veränderung“. Die Forscher sollen den Effekt ausgelöst haben „nur durch Beobachtung“, „nur durch die Untersuchung“, die „bloße Anwesenheit des Forschers“, die Führungskräfte durch „warmes Arbeitsklima“, „freundliche Aufsicht“, „Anteilnahme zeigen“, „besondere Aufmerksamkeit“.

Ad 2.:

Die vermittelnden Faktoren, die den Effekt bewirkt haben, sollen u. a. „psychologische“ oder „subjektive“ sein, diese sollen „das Bewusstsein“ der Arbeiter beinhalten, aber auch „größtenteils unbewusst“ wirken. Diesen Faktoren werden z. T. besondere Namen gegeben, z. B. „Erwartungen“, „Einstellungen“, „Glauben“, „Arbeitszufriedenheit“, „Gefühle des Stolzes“ und ein „Gefühl der Teilhabe“. Andererseits werden auch soziale Faktoren verantwortlich gemacht, so die „gute soziale Interaktion“, die „veränderte soziale Umwelt“, die „zwischenmenschlichen Beziehungen“ und die „sozialen Gruppenfaktoren“.

Ad 3.:

Meist wird auf eine vage „Veränderung“ des Verhaltens verwiesen. Etwas spezifischer heißt es, der Hawthorne-Effekt habe eine „verbesserte Leistung“ und „gesteigerte Produktivität“ zur Folge gehabt. Selten wird auf eine geringere Leistung verwiesen. In einem Lehrbuch wird ein „umgekehrter Hawthorne-Effekt“ (Fisher & Lerner, 1994, S. 458) erwähnt.

Ad 4.:

Der Effekt soll vor allem bei der „Arbeit“ eine Rolle spielen, als Disziplinen werden die „Soziologie“ und die „Sozialpsychologie“ angegeben. Manchmal geht es vor allem um die „Forschung im allgemeinen“, insbesondere um den „Versuch, Variablen zu kontrollieren“ oder die Rolle „künstlicher Bedingungen“.

Ad 5.:

Mit dem Hawthorne-Effekt verwandt scheint der „Placebo-Effekt“ zu sein, aber auch die „Reaktivität“, die „soziale Erleichterung (social faciliation) und Hemmung“, die „Suggestion“ und die „affektive Stimulation“. Auch die „ökologische Validität“ und die „Anforderungscharakteristik“ eines Experiments scheinen mit dem Effekt zu tun zu haben.

Chiesa und Hobbs zeigen sich erstaunt, wie viele verschiedene, zum Teil sich widersprechende Phänomene der Hawthorne-Effekt beinhaltet.

Der Hawthorne-Effekt ist schon früher kritisiert worden. Die Studien als solche sind fehlerhaft. So sind in einer der wichtigsten Teil-Studien zwei der fünf Teilnehmerinnen während der Untersuchung ausgetauscht worden. Die Gründe sind fraglich, eine der beiden Teilnehmerinnen soll zu stark kommunistisch orientiert gewesen sein („one oft he girls had gone Bolshevik“, S. 71).

Von den 18 Artikeln, die seit 2000 den Hawthorne-Effekt erwähnten, nennen 10 überhaupt keine Quelle, drei weitere nennen Roethlisberger und Dickson (1939) als Quelle für den Begriff, obschon diese ihn gar nicht verwendeten.

Die meisten Lehrbücher und Artikel verwenden den Begriff ohne ihn kritisch zu hinterfragen. Viele bezeichnen der Effekt als „berühmt“, „wohlbekannt“ oder „klassisch“. Hobbs & Chiesa (2003) hatten bereits angemerkt, dass die Leichtigkeit, mit der ein Phänomen oder ein Ergebnis erwähnt wird, die Verbreitung von Falschinformationen und Mythen in der Wissenschaft begünstigt. So ist bekannt, dass u. a. diese Studien in den meisten Fällen in der Sekundärliteratur falsch dargestellt werden:

  • Zur Konformität von Asch (vgl. Friend et al., 1990).
  • Zu Gerüchten von Allport und Postman (vgl. Treadway & McCloskey, 1987)
  • Zur Konditionierung des „kleinen Albert“ von Watson und Rayner (vgl. Paul & Blumenthal, 1989)

Todd und Morris (1992) bezeichneten das Phänomen, dass Falschdarstellungen von Studienergebnissen in der Lehrbuchliteratur und in Fachzeitschriften weit verbreitet werden, als „akademische Folklore“.

Das prominenteste Opfer einer negativen Folklore dürfte B. F. Skinner sein, der sich aufgrund von Falschdarstellungen genötigt sah, ein ganzes Buch zu schreiben, das nur davon handelt, was sein „radikaler Behaviorismus“ alles nicht ist (Skinner, 1974). Auch heute fällt es schwer, für das, was Skinner tatsächlich gesagt hat, Gehör zu finden, denn in den einführenden Lehrbüchern, die alle Studenten der Psychologie und verwandter Fächer lesen, finden sich nur die falschen Darstellungen (vgl. auch Ickler, 1994).

Das ursprüngliche Anliegen der Hawthorne-Studien war, herauszufinden, welchen Einfluss verschiedene Beleuchtungsgrade auf die Produktivität der Mitarbeiterinnen haben. Doch der Begriff „Hawthorne-Effekt“ wird mittlerweile in völlig anderen Zusammenhängen benutzt. Je leichter der Begriff verwendet wird, desto inhaltsleerer wird er. Statt der Beleuchtung hatten die Forscher unfreiwillig auch das soziale Klima verändert, was wiederum das Verhalten veränderte. Doch ist der Begriff „soziales Klima“ so unpräzise, dass wir über den Einfluss der experimentellen Bedingungen auf die Leistung keine Aussagen treffen können. Auch der Begriff der „sozialen Erleichterung“ (social faciliation) – der Umstand, dass ein Verhalten durch die Anwesenheit einer anderen Person ausgelöst werden kann – bringt uns nicht weiter. Natürlich hat die Anwesenheit einer Person Einfluss auf das Verhalten der Mitarbeiterinnen. Doch steht der „sozialen Erleichterung“ die „soziale Hemmung“ (social inhibition) gegenüber – der Umstand, dass die Anwesenheit einer anderen Person ein Verhalten hemmen kann – und wir sind ratlos, was jetzt der Hawthorne-Effekt eigentlich war. Einen unklaren Begriff wie den Hawthorne-Effekt durch unklare andere Begriffe zu erklären, bringt uns nicht weiter.

Schon Olson et al. (2004, S. 35) fanden, dass der Begriff „Hawthorne-Effekt“ womöglich überflüssig ist. Er birgt die Gefahr, dass Studenten, die ihn beigebracht bekommen, davon ausgehen, er stünde für etwas (so dass sie dem Fehler der Reifikation erliegen) und dass sie ihn dann als Erklärung akzeptieren, obwohl er in Wirklichkeit nichts erklärt. Chiesa und Hobbs (2008) schließen sich dieser Einschätzung an: „it provides no useful information for readers in terms of evaluating specific controlling effects“ (S. 73).

Literatur

Chiesa, Mecca & Hobbs, Sandy. (2008). Making sense of social research: How useful is the Hawthorne Effect? European Journal of Social Psychology, 38(1), 67-74. doi:10.1002/ejsp.401 PDF 102 KB

Davis, D. R. & Shackleton, V. I. (1975). Psychology and work. London: Methuen.

Fisher, C. B. & Lerner, R. M. (1994). Applied Developmental Psychology. New York: McGraw-Hill.

French, J. R. P. (1953). Experiments in field settings. In L. Festinger & D. Katz (Eds.), Research methods in the behavioral sciences (pp. 98-135). New York: Holt, Rinehart and Winston.

Friend, R.; Rafferty, Y. & Bramel, D. (1990). A puzzling misrepresentation of the Asch “conformity” study. European Journal of Social Psychology, 20, 29-44.

Gardiner, L. (1980). The psychology of teaching. Belmont, CA: Brooks/Cole.

Hobbs, S. & Chiesa, M. (2003). Errors of omission and commission: The analysis of misrepresentation in secondary sources. History and Philosophy of Psychology, 5(1), 46-56.

Ickler, T. (1994). Skinner und „Skinner“. Ein Theorien-Vergleich. Sprache und Kognition, 13, 221-229.

Olson, R.; Verley, J.; Santos, L. & Salas, C. (2004). What we teach students about the Hawthorne studies: A review of content within a sample of introductory I-O and OB textbooks. The Industrial-Organizational Psychologist, 41, 23-39.

Paul, D. B. & Blumenthal, A. L. (1989). On the trail of Little Albert. Psychological Record, 39, 547-553.

Roethlisberger, F. J. & Dickson, W. J. (1939). Management and the worker. Cambridge MA: Harvard University Press.

Rosenthal, R. & Rosnow, R. L. (1991). Essentials of behavioral research: Methods and data analysis (2nd ed.). New York: McGraw-Hill.

Skinner, B. F. (1974). About Behaviorism. New York: Knopf.

Todd, J. T. & Morris, E. K. (1992). Case histories in the great power of steady misrepresentation. American Psychologist, 47, 1441-1453.

Treadway, M. & McCloskey, M. (1987). Cite unseen: Distortions of the Allport and Postman rumor study in the eyewitness testimony literature. Law and Human Behavior, 11, 19-25.

Woolfolk, A. E. & McCune-Nicolich, L. (1984). Educational Psychology for Teachers (2nd ed.). Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall.

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