Der „Hawthorne-Effekt“ ist ein ganz-ganz wichtiger Effekt, das lernt jeder Psychologiestudent. Doch was für ein Effekt ist das eigentlich? Und gibt es ihn überhaupt?
Der Begriff „Hawthorne-Effekt“ geht zurück auf eine Reihe von Studien, die bei den Hawthorne-Werken in Chicago zwischen 1927 bis 1931 durchgeführt wurden. Die Ergebnisse dieser Studien sind in dem Buch Management and the worker von Roethlisberger und Dickson (1939) zusammengefasst. Der Begriff „Hawthorne-Effekt“ wurde aber erst von French (1953) eingeführt, so Rosenthal und Rosnow (1991).
Chiesa und Hobbs (2008) suchten nach Fachartikeln, die den Begriff „Hawthorne-Effekt“ als Schlüsselbegriff verwendeten. Darüber hinaus untersuchten sie, wie oft und in welcher Bedeutung der Begriff in Lehrbüchern verwendet wird. Dabei unterscheiden sie „ältere“ (Erscheinungsdatum 1953-1985) und „neuere“ (1986-2003) Lehrbücher. Von den 115 älteren Lehrbüchern erwähnen 19 den Begriff, von den 112 neueren Büchern 29. Der Begriff scheint also eher häufiger verwendet zu werden. Weiter unterscheiden Chiesa und Hobbs die verschiedenen wissenschaftlichen Teilgebiete, in denen der Hawthorne-Effekt erwähnt wird. Die meisten Erwähnungen erfolgen im Zusammenhang mit Forschungsmethoden, gefolgt von den Teilbereichen „Organisationspsychologie“ und „Geschichte der Psychologie“. Aber auch im Bereich der Entwicklungspsychologie wird nicht selten auf den Begriff „Hawthorne-Effekt“ Bezug genommen.
Chiesa und Hobbs stellen fest, dass viele Lehrbuchautoren den Begriff „Hawthorne-Effekt“ in verschiedener Weise verwenden. Dieselben Autoren verwenden den Begriff bisweilen im selben Lehrbuch nebeneinander in zweierlei Bedeutungen (z. B. Davis & Shackleton, 1975, S. 46 und S. 55), ohne diese Divergenz aufzuklären. In der ersten Bedeutung etwa ist der Hawthorne-Effekt eine Leistungssteigerung aufgrund einer Veränderung in der Arbeitswelt der Mitarbeiter. In der zweiten Bedeutung bedeutet der Begriff, dass sich die Leistung der Mitarbeiter verbessert, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden.
Insgesamt fanden Chiesa und Hobbs mindestens sechs verschiedene Bedeutungen, die dem Hawthorne-Effekt von Lehrbuchautoren zugeschrieben werden. So sei die Leistungssteigerung der Mitarbeiter in den Hawthorne-Werken auf
- die Neuheit der Situation (z. B. Gardiner, 1980),
- eine beliebige Veränderung (z. B. Woolfolk & McCune-Nicolich, 1984),
- die Künstlichkeit der Untersuchungssituation (z. B. French, 1953),
- den Glauben der Arbeiter, dass man ihnen etwas Gutes tun wolle (z. B. Davis & Shackleton, 1975),
- das Bewusstsein der Arbeiter, dass sie beobachtet werden (z. B. Woolfolk & McCune-Nicolich, 1984) und
- eine geringere Langeweile der Arbeiter (z. B. Gardiner, 1980)
zurückzuführen.
Chiesa und Hobbs unterscheiden fünf Kategorien, die im Zusammenhang mit dem Hawthorne-Effekt eine Rolle spielen und bei denen sich die sehr unterschiedlichen Auslegungen des Effekts bemerkbar machen:
- Umwelteinflüsse
- Intervenierende Variablen
- Verhaltensänderungen
- Welcher Disziplin oder Forschungsrichtung der Effekt zuzuordnen sei
- Konzepte, die mit dem Hawthorne-Effekt in Verbindung stehen sollen
Ad 1.:
Bei den Umwelteinflüssen, die beim Hawthorne-Effekt eine Rolle spielen, werden genannt: „neue Methoden“, „Innovation“, „Veränderung“. Die Forscher sollen den Effekt ausgelöst haben „nur durch Beobachtung“, „nur durch die Untersuchung“, die „bloße Anwesenheit des Forschers“, die Führungskräfte durch „warmes Arbeitsklima“, „freundliche Aufsicht“, „Anteilnahme zeigen“, „besondere Aufmerksamkeit“.
Ad 2.:
Die vermittelnden Faktoren, die den Effekt bewirkt haben, sollen u. a. „psychologische“ oder „subjektive“ sein, diese sollen „das Bewusstsein“ der Arbeiter beinhalten, aber auch „größtenteils unbewusst“ wirken. Diesen Faktoren werden z. T. besondere Namen gegeben, z. B. „Erwartungen“, „Einstellungen“, „Glauben“, „Arbeitszufriedenheit“, „Gefühle des Stolzes“ und ein „Gefühl der Teilhabe“. Andererseits werden auch soziale Faktoren verantwortlich gemacht, so die „gute soziale Interaktion“, die „veränderte soziale Umwelt“, die „zwischenmenschlichen Beziehungen“ und die „sozialen Gruppenfaktoren“.
Ad 3.:
Meist wird auf eine vage „Veränderung“ des Verhaltens verwiesen. Etwas spezifischer heißt es, der Hawthorne-Effekt habe eine „verbesserte Leistung“ und „gesteigerte Produktivität“ zur Folge gehabt. Selten wird auf eine geringere Leistung verwiesen. In einem Lehrbuch wird ein „umgekehrter Hawthorne-Effekt“ (Fisher & Lerner, 1994, S. 458) erwähnt.
Ad 4.:
Der Effekt soll vor allem bei der „Arbeit“ eine Rolle spielen, als Disziplinen werden die „Soziologie“ und die „Sozialpsychologie“ angegeben. Manchmal geht es vor allem um die „Forschung im allgemeinen“, insbesondere um den „Versuch, Variablen zu kontrollieren“ oder die Rolle „künstlicher Bedingungen“.
Ad 5.:
Mit dem Hawthorne-Effekt verwandt scheint der „Placebo-Effekt“ zu sein, aber auch die „Reaktivität“, die „soziale Erleichterung (social faciliation) und Hemmung“, die „Suggestion“ und die „affektive Stimulation“. Auch die „ökologische Validität“ und die „Anforderungscharakteristik“ eines Experiments scheinen mit dem Effekt zu tun zu haben.
Chiesa und Hobbs zeigen sich erstaunt, wie viele verschiedene, zum Teil sich widersprechende Phänomene der Hawthorne-Effekt beinhaltet.
Der Hawthorne-Effekt ist schon früher kritisiert worden. Die Studien als solche sind fehlerhaft. So sind in einer der wichtigsten Teil-Studien zwei der fünf Teilnehmerinnen während der Untersuchung ausgetauscht worden. Die Gründe sind fraglich, eine der beiden Teilnehmerinnen soll zu stark kommunistisch orientiert gewesen sein („one oft he girls had gone Bolshevik“, S. 71).
Von den 18 Artikeln, die seit 2000 den Hawthorne-Effekt erwähnten, nennen 10 überhaupt keine Quelle, drei weitere nennen Roethlisberger und Dickson (1939) als Quelle für den Begriff, obschon diese ihn gar nicht verwendeten.
Die meisten Lehrbücher und Artikel verwenden den Begriff ohne ihn kritisch zu hinterfragen. Viele bezeichnen der Effekt als „berühmt“, „wohlbekannt“ oder „klassisch“. Hobbs & Chiesa (2003) hatten bereits angemerkt, dass die Leichtigkeit, mit der ein Phänomen oder ein Ergebnis erwähnt wird, die Verbreitung von Falschinformationen und Mythen in der Wissenschaft begünstigt. So ist bekannt, dass u. a. diese Studien in den meisten Fällen in der Sekundärliteratur falsch dargestellt werden:
- Zur Konformität von Asch (vgl. Friend et al., 1990).
- Zu Gerüchten von Allport und Postman (vgl. Treadway & McCloskey, 1987)
- Zur Konditionierung des „kleinen Albert“ von Watson und Rayner (vgl. Paul & Blumenthal, 1989)
Todd und Morris (1992) bezeichneten das Phänomen, dass Falschdarstellungen von Studienergebnissen in der Lehrbuchliteratur und in Fachzeitschriften weit verbreitet werden, als „akademische Folklore“.
Das prominenteste Opfer einer negativen Folklore dürfte B. F. Skinner sein, der sich aufgrund von Falschdarstellungen genötigt sah, ein ganzes Buch zu schreiben, das nur davon handelt, was sein „radikaler Behaviorismus“ alles nicht ist (Skinner, 1974). Auch heute fällt es schwer, für das, was Skinner tatsächlich gesagt hat, Gehör zu finden, denn in den einführenden Lehrbüchern, die alle Studenten der Psychologie und verwandter Fächer lesen, finden sich nur die falschen Darstellungen (vgl. auch Ickler, 1994).
Das ursprüngliche Anliegen der Hawthorne-Studien war, herauszufinden, welchen Einfluss verschiedene Beleuchtungsgrade auf die Produktivität der Mitarbeiterinnen haben. Doch der Begriff „Hawthorne-Effekt“ wird mittlerweile in völlig anderen Zusammenhängen benutzt. Je leichter der Begriff verwendet wird, desto inhaltsleerer wird er. Statt der Beleuchtung hatten die Forscher unfreiwillig auch das soziale Klima verändert, was wiederum das Verhalten veränderte. Doch ist der Begriff „soziales Klima“ so unpräzise, dass wir über den Einfluss der experimentellen Bedingungen auf die Leistung keine Aussagen treffen können. Auch der Begriff der „sozialen Erleichterung“ (social faciliation) – der Umstand, dass ein Verhalten durch die Anwesenheit einer anderen Person ausgelöst werden kann – bringt uns nicht weiter. Natürlich hat die Anwesenheit einer Person Einfluss auf das Verhalten der Mitarbeiterinnen. Doch steht der „sozialen Erleichterung“ die „soziale Hemmung“ (social inhibition) gegenüber – der Umstand, dass die Anwesenheit einer anderen Person ein Verhalten hemmen kann – und wir sind ratlos, was jetzt der Hawthorne-Effekt eigentlich war. Einen unklaren Begriff wie den Hawthorne-Effekt durch unklare andere Begriffe zu erklären, bringt uns nicht weiter.
Schon Olson et al. (2004, S. 35) fanden, dass der Begriff „Hawthorne-Effekt“ womöglich überflüssig ist. Er birgt die Gefahr, dass Studenten, die ihn beigebracht bekommen, davon ausgehen, er stünde für etwas (so dass sie dem Fehler der Reifikation erliegen) und dass sie ihn dann als Erklärung akzeptieren, obwohl er in Wirklichkeit nichts erklärt. Chiesa und Hobbs (2008) schließen sich dieser Einschätzung an: „it provides no useful information for readers in terms of evaluating specific controlling effects“ (S. 73).
Literatur
Chiesa, Mecca & Hobbs, Sandy. (2008). Making sense of social research: How useful is the Hawthorne Effect? European Journal of Social Psychology, 38(1), 67-74. doi:10.1002/ejsp.401 PDF 102 KB
Davis, D. R. & Shackleton, V. I. (1975). Psychology and work. London: Methuen.
Fisher, C. B. & Lerner, R. M. (1994). Applied Developmental Psychology. New York: McGraw-Hill.
French, J. R. P. (1953). Experiments in field settings. In L. Festinger & D. Katz (Eds.), Research methods in the behavioral sciences (pp. 98-135). New York: Holt, Rinehart and Winston.
Friend, R.; Rafferty, Y. & Bramel, D. (1990). A puzzling misrepresentation of the Asch “conformity” study. European Journal of Social Psychology, 20, 29-44.
Gardiner, L. (1980). The psychology of teaching. Belmont, CA: Brooks/Cole.
Hobbs, S. & Chiesa, M. (2003). Errors of omission and commission: The analysis of misrepresentation in secondary sources. History and Philosophy of Psychology, 5(1), 46-56.
Ickler, T. (1994). Skinner und „Skinner“. Ein Theorien-Vergleich. Sprache und Kognition, 13, 221-229.
Olson, R.; Verley, J.; Santos, L. & Salas, C. (2004). What we teach students about the Hawthorne studies: A review of content within a sample of introductory I-O and OB textbooks. The Industrial-Organizational Psychologist, 41, 23-39.
Paul, D. B. & Blumenthal, A. L. (1989). On the trail of Little Albert. Psychological Record, 39, 547-553.
Roethlisberger, F. J. & Dickson, W. J. (1939). Management and the worker. Cambridge MA: Harvard University Press.
Rosenthal, R. & Rosnow, R. L. (1991). Essentials of behavioral research: Methods and data analysis (2nd ed.). New York: McGraw-Hill.
Skinner, B. F. (1974). About Behaviorism. New York: Knopf.
Todd, J. T. & Morris, E. K. (1992). Case histories in the great power of steady misrepresentation. American Psychologist, 47, 1441-1453.
Treadway, M. & McCloskey, M. (1987). Cite unseen: Distortions of the Allport and Postman rumor study in the eyewitness testimony literature. Law and Human Behavior, 11, 19-25.
Woolfolk, A. E. & McCune-Nicolich, L. (1984). Educational Psychology for Teachers (2nd ed.). Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall.