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Knapp daneben ist nicht für alle Menschen auch vorbei – Der Near-Miss-Effect

Verschiedene Studien zeigen, dass 1 % bis 3 % der Bevölkerung die Kriterien für eine Spielsucht erfüllen (Petry, 2005). Weitere Studien zeigen, dass das problematische Spielverhalten sich bereits im Alter von neun bis zehn Jahren abzeichnet (Jacobs, 2000). Bei der Untersuchung des Verhaltens von Menschen mit Spielsucht zeigt sich, dass die Reize und die Veränderungen der Reizsituation, die zusammen mit dem Gewinnen beim Spielen auftreten, zu sekundären oder konditionierten Verstärkern werden können. Diese wiederum erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass wieder gespielt wird (Foxall & Sigurdsson, 2012). Hinzu kommt der Umstand, dass diese Reize auch auf andere Situationen generalisieren. Situationen, die der Situation beim Gewinnen nur ähneln, können Verstärkerqualitäten annehmen. Dies ist aus verhaltenstheoretischer Sicht der Hintergrund des Near-Miss-Effects (etwa: „Knapp-Daneben-Effekt“). Von der kognitiven Psychologie wird dieser Effekt als ein Denkfehler interpretiert, der auf dem Glauben beruht, dass Spielergebnisse, die optisch nahe an einem Gewinn liegen, andeuten, dass bald ein Gewinn kommen wird (Reid, 1986). Bei Menschen mit Spielsucht scheint dieser Effekt stärker ausgeprägt zu sein als bei Menschen, die kein problematisches Spielverhalten zeigen. Neuropsychologische Untersuchungen konnten zeigen, dass die Gehirnaktivität von Spielsüchtigen beim knappen Verfehlen eines Gewinns der Gehirnaktivität beim Gewinnen gleicht (Habib & Dixon, 2010).

Aus therapeutischer Sicht ist der Near-Miss-Effect problematisch, da er dazu beiträgt, das problematische Spielverhalten aufrecht zu erhalten. Zlomke und Dixon (2006) zeigten, dass man diesen Effekt dadurch abmildern kann, dass man die Farbe der beim Spiel verwendeten Symbole verändert und indem die Spieler ein Diskriminationstraining durchlaufen, bei dem sie lernen, die Beinahe-Gewinne und die Gewinne besser zu unterscheiden.

Dixon, Nastally, Jackson und Habib (2009) setzten diese Bemühungen fort. Zehn von 16 Versuchspersonen lernten durch ein Diskriminationstraining den Near-Miss-Effect zu unterdrücken. Dabei nutzten Dixon et al. (2009) ein sprachgestütztes Training, in dem die Probanden lernten, die richtigen sprachlichen Zuordnungen zu Gewinnen und Verlusten vorzunehmen und dass ein Beinahe-Treffer eben ein Verlust und kein Gewinn ist. Die Studie stützt die Annahme, dass der Near-Miss-Effect keine Persönlichkeitseigenschaft des Spielers ist, sondern eine sprachliche Zuordnung, die bei vielen Menschen relativ leicht geändert werden kann.

Dixon, Whiting und King (2016) konnten nachweisen, dass der Near-Miss-Effect bereits bei Kindern im Alter von fünf bis zehn Jahren auftritt. Die Versuchspersonen spielten an einem Automaten, der ohnehin in einer Spielhalle für Kinder stand. Die Kinder sollten angeben, „wie sehr“ ihr Spielergebnis ein Gewinn oder ein Verlust war. Spielergebnisse, die dem Spielergebnis bei einem Gewinn ähnelten (wenn z. B. der Ball in diesem Spiel knapp links oder rechts neben dem Ziel landete), bewerteten die Kinder subjektiv als signifikant einem Gewinn ähnlicher als ein Spielergebnis, das dem Spielergebnis bei einem Gewinn unähnlich war.

Das Ergebnis dieser Studie belegt das Vorhandensein eines Near-Miss-Effects bereits in der Kindheit. Dies gibt einen Hinweis darauf, dass die Prävention von Spielsucht bereits frühzeitig ansetzen sollte. Trainings wie das von Dixon et al. (2009) bieten sich hier an.

Literatur

Dixon, M. R.; Nastally, B. L.; Jackson, J. E. & Habib, R. (2009). Altering the near-miss effect in slot machine gamblers. Journal of Applied Behavior Analysis, 42(4), 913-918.

Dixon, M. R.; Whiting, S. W. & King, A. M. (2016). An Examination of the Near Miss in Gambling-Like Behavior of Children. The Psychological REcord, 66(1), 99-107.

Foxall, G. R. & Sigurdsson, V. (2012). When loss rewards: The near-miss effect in slot machine gambling. Analysis of Gambling Behavior, 6(1), 5-22.

Habib, R. & Dixon, M. R. (2010). Neurobehavioral Evidence for the “Near-Miss” Effect in Pathological Gamblers. Journal of the Experimental Analysis of Behavior, 93(3), 313-328.

Jacobs, D. F. (2000). Juvenile Gambling in North America: An Analysis of Long Term Trends and Future Prospects. Journal of Gambling Studies, 16(2), 119-152.

Petry, N. M. (2005). Pathological gambling : Etiology, comorbidity, and treatment (1st). Washington, DC: American Psychological Association.

Reid, R. L. (1986). The psychology of the near miss. Journal of gambling behavior, 2(1), 32-39.

Zlomke, K. R. & Dixon, M. R. (2006). Modification of Slot-Machine Preferences through the Use of a Conditional Discrimination Paradigm. Journal of Applied Behavior Analysis, 39(3), 351-361.

 

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Eingeordnet unter Psychologie, Stimuluskontrolle, Therapie, Verhaltensanalyse

Wenn man miteinander redet, verhält man sich verantwortlicher

Ob sich Menschen egoistisch oder altruistisch entscheiden, hängt weniger davon ab, ob andere ihre Entscheidung mitbekommen, sondern davon, ob sie mit den anderen Menschen in Kontakt treten.

Borba et al. (2014) ließen ihre Versuchspersonen an einer Aufgabe arbeiten, bei der sie sich letztlich zwischen zwei Alternativen entscheiden mussten. Entschieden sie sich für Variante 1, so hatte dies für sie selbst unmittelbar positive Konsequenzen, für die Gruppe aber langfristig negative Konsequenzen – eine impulsive, egoistische Wahl. Entschieden sie sich für Variante 2, so führte dies für sie selbst unmittelbar zu nur wenigen positiven Konsequenzen, für alle Gruppenmitglieder zusammen aber langfristig aber zu mehr positiven Konsequenzen – ein Wahl, die man als „ethische Selbstkontrolle“ bezeichnen könnte.

Borba et al. (2014) variierten die Bedingungen, unter denen die Versuchspersonen an der Aufgabe arbeiten und sich letztlich entscheiden mussten.

  1. Wenn jede Versuchsperson allein wählen konnte, entschied sie sich fast ausschließlich egoistisch impulsiv.
  2. Saßen die Versuchspersonen zusammen vor der Aufgabe, konnten reden und sahen, für welche Alternative sich die anderen Versuchspersonen entschieden, so trafen sie meist die Wahl, die ethische Selbstkontrolle zeigte.
  3. Saßen sie zusammen an der Aufgabe und konnte reden, hatten aber keine Informationen über die Entscheidungen der anderen, entschieden sie sich ebenfalls häufig für die ethische, Selbstkontrolle zeigende Alternative.
  4. Zuletzt saßen die Versuchspersonen zusammen an der Aufgabe, konnten aber nicht miteinander reden, jedoch sehen, wie sich die anderen Versuchspersonen entschieden. Hier entschieden sich wieder viele Versuchspersonen impulsiv und egoistisch.

Die sprachliche Interaktion scheint für die Wahl, ob man sich egoistisch und impulsiv oder altruistisch und beherrscht verhält, entscheidend zu sein. Der Umstand, dass man selbst die Entscheidung der anderen sehen kann (und diese die eigene Entscheidung), scheint dagegen wenig Einfluss auf verantwortungsvolles Handeln zu haben.

Literatur

Borba, Aécio; Rodrigues da Silva, Bruno; dos Anjos Cabral, Pedro Augusto; Bentes de Souza, Lívia; Leite, Felipe Lustosa & Tourinho, Emmanuel Zagury. (2014). Effects of exposure to macrocontingencies in isolation and social situations in the production of ethical self-control. Behavior and Social Issues, 23, 5-19. PDF 575 KB

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Eingeordnet unter Verhaltensanalyse, Verstärkung

Drogenabhängige fürs Clean-Sein bezahlen

Nüchtern und strebsam sein sollte doch ausreichen: Das gute Tun trägt seinen Lohn in sich, oder?

Die Idee, Drogenabhängige dafür zu bezahlen, damit sie „clean“ bleiben, befremdet viele Menschen. Dennoch sind Programme, bei denen die Drogenabstinenz von Süchtigen mit materiellen Verstärkern unterstützt wird, ausgesprochen effektiv. Die Teilnehmer an solchen Programmen erhalten z.B. Gutscheine dafür, dass sie eine Urinprobe abgeben, die keine Rückstände von Drogen enthält. Diese Gutscheine können dann wiederum gegen bestimmte Produkte (natürlich keine Drogen!) eingetauscht werden. Obschon sie erwiesenermaßen (vgl. Higgins & Silverman, 1999) wirksam sind, werden diese Programme selten durchgeführt. Ein Grund mag bei den Kosten zu suchen sein: Die meisten ambulanten Einrichtungen für Drogenabhängige haben Probleme, überhaupt die Grundfinanzierung sicherzustellen. Wie sollen sie dann noch solche Programme finanzieren?

Eine Lösung dieses Problems besteht darin, die Teilnehmer an solchen Programmen für ihre Gutscheine arbeiten zu lassen. Zum Teil können so die Kosten refinanziert werden, zum anderen Teil – das ist wohl der wichtigere Teil – lassen sich so andere Finanzierungstöpfe (nämlich solche für berufliche Rehabilitationsmaßnahmen) anzapfen. In diesen Programmen wird der Zugang zur Arbeit nur denjenigen Teilnehmern gewährt, die durch ihre Urin- und / oder Atemprobe nachweisen können, dass sie „clean“ sind. Die Gutscheine sind also sowohl von der Drogenabstinenz als auch von der Teilnahme am Arbeitstraining abhängig. Silverman et al. (2007) berichten von einem Programm, bei dem zudem auch die Leistung des Teilnehmers im Training bei der Höhe der Gutscheine berücksichtigt wurde. Die Teilnehmer sollten zunächst mit Hilfe eines Programms vier Stunden täglich das Zehn-Finger-Tastschreiben erlernen, dann das Eingeben von Daten üben und schließlich „echte“ Fragebögen datenmäßig erfassen. Für jeden genau definierten Fortschritt im Training gab es Punkte, ebenso für die Dateneingabe. Zusätzlich erhielten die Teilnehmer eine Art zeitabhängiges „Grundgehalt“ und sie konnten sich durch ihre Mitarbeit bezahlte Pausen erwirtschaften. Ein ausgefeiltes leistungsabhängiges Entlohnungssystem (vgl. z. B. Abernathy, 1990) wurde somit verwirklicht. Die Wirksamkeit dieses Programms bei der Bekämpfung der Drogensucht wurde von Silverman et al. (2007) in einer aufwändigen Studie nachgewiesen.

Die 56 Teilnehmer des Programms wurden zufällig einer von zwei Gruppen zugeteilt. Beide Gruppen unterschieden sich lediglich in einem Punkt: Während die erste Gruppe unabhängig von dem Ergebnis ihres (dreimal wöchentlich stattfindenden) Drogentests arbeiten durfte, wurden die Teilnehmer der anderen Gruppe nur dann zur Arbeit zugelassen, wenn sie ein negatives Resultat beim Test ablieferten. War das Ergebnis positiv, mussten sie einen Tag aussetzen, zudem wurde ihr „Grundgehalt“ vorübergehend reduziert. Die Teilnehmer der beiden Gruppen (alle waren langjährig kokain- und cracksüchtig) unterschieden sich anfangs in ihrem Dogenkonsum (und in allen weiteren Parametern) nicht voneinander. Am Ende der Studie gab es einen signifikanten Unterschied: Diejenigen Teilnehmer, die nur dann arbeiten durften, wenn sie abstinent waren, lieferten signifikant mehr (29 %) negative Urinproben ab als die anderen Teilnehmer.

Die Studie belegt somit, dass es nicht alleine das Arbeiten ist, das Drogenabhängige clean werden lässt: Gelegentlich wird argumentiert, es genüge, wenn der Drogenabhängige wieder einer geregelten Beschäftigung nachginge. Sicher werden dadurch die Gelegenheiten, bei denen der Abhängige Drogen konsumieren kann, reduziert. Andererseits kann ein Abhängiger auch in seiner Freizeit noch genug an Drogen zu sich nehmen. Die verhaltensanalytisch fundierte Verbindung von Drogenabstinenz und dem Zugang zu Verstärkern (in Form der Gutscheine), scheint unverzichtbar.

Die Teilnehmer der Gruppe, die clean sein musste, um arbeiten zu dürfen, waren zudem billiger: Ein Teilnehmer dieser Gruppe erhielt im Schnitt $ 1732, ein Teilnehmer der anderen Gruppe (die unabhängig von ihrem Drogenkonsum arbeiten durfte) kostete in den drei Monaten der Studie $ 3477. Auch andere Parameter (wie die Neigung zu Verhalten, durch welches das Risiko erhöht wird, an HIV zu erkranken) verbesserten sich in beiden Gruppen, jedoch deutlicher in der Gruppe, die clean sein musste, um arbeiten zu dürfen.

Literatur

Abernathy, W. B. (1990). Designing and Managing an Organization-Wide Incentive Pay System. Memphis, TN: W. B. Abernathy and Associates.

Higgins, S. T. & Silverman, K. (Eds.). Motivating behavior change among illicit-drug abusers: Research on contingency management interventions. Washington, DC: American Psychological Association.

Silverman, Kenneth; Wong, Conrad J.; Needham, Mick; Diemer, Karly N.; Knealing, Todd; Crone-Todd, Darlene; Fingerhood, Michael; Nuzzo, Paul & Kolodner, Kenneth. (2007). A randomized trial of employment-based reinforcement of cocaine abstinence in injection drug users. Journal of Applied Behavior Analysis, 40(3), 387-410. PDF 750 KB

 

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Wahn als Verhaltensrigidität

Der Wahn des Schizophrenen wird aufrechterhalten, obwohl er in der Realität keine Bestätigung findet. Die Anfälligkeit für wahnhafte Vorstellungen gleicht einer erhöhten Anfälligkeit für die Bestätigungstendenz. Habe ich bspw. die Überzeugung, dass andere Menschen meine Gedanken lesen können, wenn sie mir in die Augen schauen, wird diese Überzeugung aufrechterhalten, in dem ich Gelegenheiten zur Widerlegung dieser Hypothese vermeide (denn ich vermeide möglichst, dass jemand mir in die Augen schaut) und bestätigende Belege produziere (ich interpretiere Situationen so, dass sie die Hypothese zu bestätigen scheinen). Die Ursache der erhöhten Bestätigungstendenz des Schizophrenen könnte wiederum das starrere Befolgen von Regeln sein. Wenn man bspw. einer Versuchspersonen eine Regel vorgibt, wie sie durch das Drücken von Knöpfen möglichst viele Punkte erhält, wird diese Person länger an der Regel (und dem dann falschen Verhalten) festhalten, wenn man späterhin die Verstärkungskontingenzen ändert. Regelgeleitetes Verhalten macht unsensibel für die Veränderungen der Umwelt. Monestès et al. (2014) untersuchten bei 17 schizophrenen Patienten und 30 gesunden anderen Versuchspersonen, ob sich das Vorgeben einer Regel auf die spätere Verhaltensrigidität auswirkt und ob es einen Unterschied im starren Festhalten an der Regel zwischen den schizophrenen und den gesunden Versuchspersonen gibt. Zudem wollten sie wissen, ob eine selbstformulierte Regel zu mehr Starrheit im Verhalten führt als eine vorgegebene Regel.

Die Versuchspersonen sollten an einem PC durch das Drücken der Leertaste Punkte verdienen. Auf dem Monitor waren zwei Schalter abgebildet, die wechselweise aktiviert (farblich hervorgehoben) waren. Durch das Drücken der Leertaste wurde der jeweils aktivierte Schalter betätigt. Dabei mussten die Schalter unterschiedlich schnell gedrückt werden, um möglichst viele Punkte zu erhalten. In der Ausgangsituation musste man beispielsweise den linken Schalter so schnell wie möglich und den rechten Schalter mit langsamerem Tempo betätigen, um möglichst viele Punkte zu bekommen.

Zunächst wurde in einem Versuchsdurchlauf getestet, wie lange die Versuchspersonen benötigten, um die optimale Geschwindigkeit für das Tastendrücken herauszufinden (wie lange sie benötigten, um sich an einen Verstärkungsplan anzupassen). Sowohl die schizophrenen als auch die gesunden Versuchspersonen wurden sodann auf drei Gruppen aufgeteilt. Der erste Gruppe (mit Instruktion, MI) wurde die Regel am Beginn des Experiments mitgeteilt. Die beiden anderen Gruppen bekamen keine weiteren Instruktionen, außer, dass sie durch das Drücken der Tasten Punkte verdienen sollten. Nach einer ersten Phase des Experiments wurde nun die zweite Gruppe (Selbstinstruktion, SI) gebeten, eine Regel zu formulieren, nach der ihres Erachtens die Schalter funktionierten („Um so viele Punkte wie möglich zu verdienen, muss man den linken Schalter…“). Diese, die erste (MI) und die dritte Gruppe (ohne Instruktion, WI) arbeiteten nach einer Pause weiter. Nun aber änderte sich die Regel (ohne dass dies den Versuchspersonen mitgeteilt wurde). Gemessen wurde nun, wie schnell sich die Versuchspersonen an die neue Regel anpassen konnten.

Die Ergebnisse bestätigten, dass die Versuchspersonen, die eine Regel (ob vorgeben, MI, oder selbstformuliert) nutzten, länger brauchten, um sich an die veränderten Kontingenzen anzupassen. Dabei fiel es den schizophrenen Patienten, die eine Regel hatten, schwerer als den gesunden Versuchspersonen (die auch eine Regel hatten), sich an die veränderten Umständen anzupassen. Keinen Unterschied gab es zwischen den Gruppen, die eine vorgegebene Regel (MI) und denen, die eine selbstformulierte Regel (SI) nutzten.

Literatur

Monestés, Jean-Louis; Villatte, Matthieu; Stewart, Ian & Loas, Gwenolé. (2014). Rule-based insensitivity and delusion maintenance in schizophrenia. The Psychological Record, 64(2), 329-338.

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Eingeordnet unter Psychologie, Verhaltensanalyse

Wenn gesunde Nahrungsmittel im Kassenbereich liegen, werden sie auch gekauft

Durch einfache Maßnahmen kann man erreichen, dass sich Kunden für gesunde Lebensmittel entscheiden. Verhaltensanalytiker untersuchen das experimentell (vgl. auch hier).

Isländische Wissenschaftler (Sigurdsson et al., 2014) überprüften in einem Feldexperiment in zwei Supermärkten, ob sich das Kaufverhalten der Kunden ändert, wenn man die üblichen Schokoriegel und ähnliche Produkte in den Ständern im Kassenbereich durch gesunde Nahrungsmittel ersetzt. Die Süßwaren wurden durch getrockneten Fisch (offenbar ein in Island verbreiteter Gesundheitssnack) sowie Nüsse und getrocknete Früchte ersetzt. Über vier Monate hinweg wurde zunächst gezählt, wie viele der jeweiligen Produkte in der ursprünglichen Konstellation (Süßigkeiten an der Kasse, Gesundheitssnacks in anderen Regalen). Danach wurde ausgewertet, wie viele  Produkte verkauft wurden, wenn die Gesundheitsprodukte an der Kasse lagen und die Süßigkeiten in anderen Regalen. Insgesamt wurden über 100.000 Einkäufe ausgewertet.

Ursprünglich wurden nur wenige Packungen getrockneter Fisch, Früchte und Nüsse am Tag verkauft. Der Umsatz vervielfachte sich, wenn die Produkte an der Kasse lagen. Werbemaßnahmen (z. B. Schilder mit der Aufschrift „Getrockneter Fisch ist gut für Ihre Gesundheit und stärkt die Muskeln und das Gehirn“) hatten keinen zusätzlichen Effekt auf den Verkauf dieser Produkte. Zugleich ging der Umsatz an Süßwaren zurück. Dieser lag auch nach dem Ende aller Maßnahmen (als die Süßigkeiten wieder an der Kasse und die Gesundheitssnacks im Regal lagen) noch 29 % unter dem ursprünglichen Niveau. Der Verkauf an Gesundheitssnacks allerdings sank in der Follow-Up-Phase wieder auf den Umfang vor Beginn der Maßnahmen.

Literatur

Sigurdsson, Valdimar;
Larsen, Nils Magne & Gunnarsson, Didrik. (2014). Healthy food products at the point of purchase: An in-store experimental analysis. Journal of Applied Behavior Analysis, 47(1), 1-4.

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Wie aus Lob ein Verstärker wird

Nicht alle Menschen reagieren auf Lob so, wie man es sich erhofft. Manchmal liegt das daran, dass der Gelobte nie gelernt hat, dass Lob etwas Gutes ist. Denn Lob zählt nicht zu den „primären Verstärkern“: Es wird erst im Lauf des Lebens zum Verstärker. Die meisten Menschen – aber nicht alle – lernen das ohne besondere Instruktion. Was aber kann man tun, wenn Lob noch kein Verstärker ist?

Ein Verstärker ist ein Reiz (ein Ereignis in der Umwelt des Individuums), der (kontingent, d. h. regelhaft) auf ein Verhalten folgt und dazu führt, dass dieses Verhalten in Zukunft häufiger auftritt. Prinzipiell gibt es zwei Arten von Verstärkern: Primäre und konditionierte (oder sekundäre). Primäre Verstärker wirken „einfach so“, von Natur aus. Bei Menschen sind z. B. Essen, Trinken, eine angemessene Temperatur oder die Möglichkeit zu sexueller Aktivität primäre Verstärker. Konditionierte Verstärker müssen dagegen erst zu solchen gemacht werden. Hundetrainier kennen den sogenannten Clicker (ein Kinderspielzeug, das ein knackendes Geräusch erzeugt, ein „Knackfrosch“). Das Geräusch des Clickers wird erst dadurch zum Verstärker für das Verhalten des Hundes, indem der Trainer das Clicken immer wieder mit der Gabe von Futter (oder „Leckerli“) paart. Ebenso ist Lob beim Menschen ein konditionierter Verstärker. Lob ist nicht von Natur aus, angeborenermaßen ein Verstärker für das Verhalten eines Menschen.

Es gibt im Wesentlichen zwei Methoden, um einen ursprünglich neutralen Reiz zu einem konditionierten Verstärker zu machen:

  1. Die Stimulus-Stimulus-Methode: Der ursprünglich neutrale Reiz wird unabhängig von einem Verhalten mehrfach gemeinsam mit einem primären Verstärker gegeben (z. B. ein Click mit einem Futterhappen oder aber Lob mit einer Süßigkeit).
  2. Die Verhalten-Stimulus-Methode: Wenn die Person ein erwünschtes Verhalten zeigt, werden zuerst der neutrale Reiz (z. B. ein Click oder Lob) und dann der primäre oder bereits etablierte Verstärker (z. B. ein Futterhappen oder eine Süßigkeit) gegeben.

In beiden Fällen muss anschließend getestet werden, ob der ursprünglich neutrale Reiz nun zum konditionierten Verstärker geworden ist. Dies geschieht, indem man den neuen Reiz (z. B. den Click oder das Lob) alleine nach einem erwünschten Verhalten gibt und dann beobachtet, ob die Rate des Verhaltens nun ebenfalls ansteigt.

Der zugrundeliegende Mechanismus soll dem klassischen Konditionieren gleichen. Auch beim klassischen Konditionieren wird unabhängig vom Verhalten ein (unkonditionierter) Reiz mit einem anderen, neutralen Reiz gepaart, bis dann auch der ursprünglich neutrale (nun konditionierte) Reiz die ursprünglich unkonditionierte, nun aber konditionierte Reaktion auslösen kann.

Nach einer anderen Interpretation ist der konditionierte Verstärker ein diskriminativer Reiz. Diskriminative Reize signalisieren dem Individuum, dass ein bestimmtes Verhalten verstärkt werden wird. In der Skinner-Box etwa drückt die Ratte einen Hebel (Verhalten 1) und hört daraufhin ein Klappern (neutraler Reiz). Das Klappern ist das Geräusch, welches der Futterspender macht, wenn ein Futterpellet in die Futterschale fällt. Geht die Ratte nun vom Hebel zum Futterspender (Verhalten 2), findet sie dort ein Futterpellet (den primären Verstärker). Das Klappern ist für die Ratte ein Hinweis, dass das Verhalten „Zum Futterspender gehen“ den primäre Verstärker „Futterpellet“ zur Folge haben wird. Hört sie kein Klappern, findet sich auch kein Futterpellet im Spender. Das Klappern ist somit ein Hinweisreiz, ein diskriminativer Stimulus. Das Klappern ist aber auch ein konditionierter Verstärker. Man kann dies daran erkennen, dass die Ratte auch dann zum Futterspender gehen wird, wenn sie das Klappern hört und kein Futter im Spender vorfindet. Der Reiz „Klappern“ funktioniert aber nur so lange als (konditionierter) Verstärker, wie es wenigstens ab und an mit dem „Backup-Verstärker“ (primären Verstärker), den Futterpellets, gepaart wird. Ansonsten setzt Extinktion ein, das heißt, die Ratte geht noch eine Weile zum Spender, wenn sie das Klappern hört, stellt dieses Verhalten aber ein, wenn sie konsistent kein Futter im Spender vorfindet.

Dozier et al. (2012) testeten, welche der beiden oben genannten Methoden sich dazu eignen, Lob als Verstärker zu konditionieren. Lob ist kein primärer Verstärker, das heißt, Lob muss erst im Lauf der Lerngeschichte eines Individuums als konditionierter Verstärker gelernt werden und Lob wird unwirksam, wenn es nie zusammen mit anderen, unkonditionierten Verstärkern gemeinsam auftritt. Das Lob des Chefs ist unwirksam, wenn es nie zusammen mit anderen Formen der Wertschätzung auftritt (z. B. einer Gehalterhöhung oder der Zuweisung einer interessanten Aufgabe).

Die meisten Menschen lernen das im Lauf ihres Lebens ganz automatisch, ohne dass ihre Eltern sich dessen bewusst wären. Diese loben das Kind, wenn es etwas richtig gemacht hat und tätscheln es dabei (vielleicht ein primärer Verstärker) oder sie geben ihm etwas zu essen (auf jeden Fall ein primärer Verstärker). Nach und nach genügt es, das Kind zu loben, um sein Verhalten zu verstärken, zusätzliches Tätscheln oder Essen sind dann nicht mehr erforderlich.

Einige Menschen lernen jedoch nicht im Laufe ihres Lebens, das Lob eine Verhaltenskonsequenz ist, die mit primärer positiver Verstärkung in Verbindung steht. Im Alltag ist die Verknüpfung von Lob und primären Verstärkern eher lose – nicht jedes Lob wird von eine Tätscheln oder Essen begleitet. Manche Menschen lernen nur schwer, wenn die Beziehungen (Korrelationen) zwischen Reizen oder Verhalten und Reizen nicht perfekt (deterministisch: immer wenn A, dann auch B), sondern probabilistisch (meistens, wenn A, dann auch B) sind.

Die Versuchspersonen, mit denen Dozier et al. (2012) arbeiteten, reagierten nicht auf Lob. Es handelte sich um zwölf erwachsene Personen mit geistiger Behinderung. Bei vier dieser Versuchspersonen prüften Dozier et al. (2012), ob die Stimulus-Stimulus-Methode geeignet war, Lob als Verstärker zu etablieren. Bei jeder Versuchsperson wurde zuvor getestet, welche (primären) Verstärker gut funktionierten. Dabei handelte es sich durchweg um Nahrungsmittel. Als Lob wurden zehn Äußerungen gewählt, die die Versuchspersonen zuvor höchstwahrscheinlich noch nicht gehört hatten (Bsp.: „keep on rockin‘ in the free wordl“ – offenbar eine gebräuchliche Form des Lobes im US-amerikanischen Sprachraum…). Die Verhaltensweisen, die später verstärkt werden sollten, waren solche, die die Versuchspersonen ohnehin gelegentlich zeigten, z. B. das Heben des Armes, das Berühren des Knies (bei jeder Versuchsperson eine andere Verhaltensweise). Zunächst wurde die Basisrate des Verhaltens erfasst. Bei bis zu zehn Terminen traten diese Verhaltensweisen im Schnitt insgesamt weniger als einmal auf. Anschließend wurde getestet, ob Lob allein das Verhalten verstärken konnte. Dies war nicht der Fall. Daraufhin wurde mehrfach das Lob mit dem primären Verstärker zusammen gegeben, ohne dass die Versuchsperson das Verhalten gezeigt hätte. Zuletzt wurde wieder geprüft, ob Lob allein das Verhalten nun verstärken konnte. Dies war nicht der Fall. Die Stimulus-Stimulus-Methode eignete sich nicht, um bei diesen Personen Lob als Verstärker zu konditionieren.

Mit den anderen acht Versuchspersonen wurde die Wirksamkeit der Verhalten-Stimulus-Methode geprüft. Wieder zeigten die Versuchspersonen das Verhalten nur selten, egal ob sie gelobt wurden oder nicht. Anschließend wurden sie nach jedem Auftreten der Verhaltensweise gelobt und sie bekamen das Nahrungsmittel, das sich zuvor als wirksamer Verstärker erwiesen hatte. Die Rate des Verhaltens stieg nun deutlich an. Zuletzt wurden die acht Versuchspersonen wieder nur gelobt, wenn sie das Verhalten zeigten. Bei vier dieser acht Versuchspersonen hatte die Verhalten-Stimulus-Methode nicht funktioniert. Wie schon die Versuchspersonen bei der Stimulus-Stimulus-Methode reagierten sie auch jetzt nicht auf das Lob. Bei den anderen vier Versuchspersonen aber hatte die Verhalten-Stimulus-Methode gewirkt. Das Lob wirkte nun als Verstärker, zwar nicht so gut wie die Kombination von Essen und Lob, aber das Lob konnte das Verhalten immerhin eine Weile aufrechterhalten. Ohne Lob hingegen zeigten auch diese vier Versuchspersonen das erwünschte Verhalten nicht. Auch bei anderen Verhaltensweisen wirkten die Lob-Sprüche nun als Verstärker.

Somit kann Lob als Verstärker im Prinzip konditioniert werden, wenn man nach einem Verhalten zunächst das Lob zusammen mit einem primären Verstärker paart.

Literatur

Dozier, Claudia L.; Iwata, Brian A.; Thomason-Sassi, Jessica; Worsdell, April S. & Wilson, David M. (2012). A comparison of two pairing procedures to establish praise as a reinforcer. Journal of Applied Behavior Analysis, 45(4), 721-735. PDF 657 KB

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Eingeordnet unter Verhaltensanalyse, Verstärkung

Nachahmung zeigt Wirkung

Mütter ahmen die Lautäußerungen ihrer Kinder nach und verstärken diese damit.

Skinners "Verbal Behavior" ist die Grundlage verhaltensanalytischer SprachforschungAus Langzeitstudien ist bekannt, dass Kinder in der Sprachentwicklung desto besser vorankommen, je häufiger in der frühen Entwicklung mit ihnen gesprochen wurde (Hart & Risley, 1995, 1999). Mütter und Väter imitieren oft und ohne dass sie dazu angeleitet werden müssen die Lautäußerungen ihrer Kinder (Field, 1977; Masur, 1987; Masur & Olson, 2008; Papousek, 1992, Pawlby, 1977). Warum sie das tun – was das beim Kind bewirkt – wurde bislang noch kaum untersucht. Andererseits ist bekannt, dass die Zahl der Lautäußerungen von Kindern durch kontingente soziale Verstärkung erhöht werden kann (Rheingold et al., 1959; Weisberg, 1963).

Pelaez et al. (2011) untersuchten, ob Imitationen der Lautäußerungen des Kindes durch die Mutter auf diese Lautäußerungen als Verstärker wirken. Das heißt: Macht das Kind häufiger bestimmte Lautäußerungen, wenn diese kontingent (systematisch) von der Mutter nachgeahmt werden? Um diese Vermutung zu prüfen, muss man die evtl. verstärkende Wirkung der Imitationen von einer bloßen anregenden Wirkung differenzieren. Man muss also feststellen können, ob es nicht vielleicht nur die Anwesenheit der Mutter ist, die das Kind zu Lautäußerungen ermutigt. In diesem Fall würde das Kind in Anwesenheit der Mutter gleich viele Lautäußerungen machen, gleichgültig ob die Mutter diese imitiert oder nicht. Andererseits sollte man die Imitation nicht mit einer Situation vergleichen, in der die Mutter lediglich neben dem Kind sitzt. Dieser Vergleich mit einer Extinktionsbedingung kann das Ergebnis verzerren, da eine nicht-reagierende Mutter beim Kind zu starken emotionalen Reaktionen führen kann.

Pelaez et al. (2011) verglichen daher in einem BAB-Untersuchungsdesign die Wirkung der Imitation der Lautäußerungen des Kindes mit einer Situation, in der die Mutter auch agierte, jedoch nicht in Reaktion, kontingent auf die Lautäußerungen des Kindes:

  • B – In dieser Phase des Experiments ahmte die Mutter die jeweils letzte Lautäußerung des Kindes nach.
  • A – Die Mutter reagiert hier nicht unmittelbar auf die Lautäußerungen des Kindes, sie machte aber selbst mit der gleichen Häufigkeit wie in der B-Phase die gleichen Lautäußerungen. Sie tat dies immer dann, wenn das Kind etwas anderes tat als Lautäußerungen zu machen. Man nennt dieses Verfahren „differentielle Verstärkung anderen Verhaltens“ (oder DRO für differential reinforcement of other behavior).
  • B – Hier ahmte die Mutter wieder die Lautäußerungen des Kindes kontingent nach.

Jede dieser Phasen dauerte drei Minuten, dazwischen war jeweils eine Minute Pause.

An der Studie nahmen zunächst 17 Kinder mit ihren Müttern teil. Es handelte sich um frühgeborene Kinder, die eine Kinderklinik aufsuchten, weil bei ihnen ein erhöhtes Risiko für eine Sprachentwicklungsverzögerung bestand. Die Mütter wurden im Warteraum angesprochen und um die Teilnahme an einem Versuch zur Sprachentwicklung beim Kind gebeten. Anschließend wurden die Mütter in der kontingenten Imitation der Lautäußerungen ihrer Kinder und in der differentiellen Verstärkung anderen Verhaltens geschult. Sechs Mütter konnten das Trainingsprotokoll nicht umsetzen und schieden daher mit ihren Kindern aus der Studie aus. Bei den verbleibenden elf Kindern handelte es sich um fünf Jungen und sechs Mädchen im Alter von drei bis acht Monaten (Durchschnitt 6,1 Monate).

Das Experiment wurde auf Video aufgezeichnet und von zwei geschulten Beobachtern gleichzeitig ausgewertet. Gezählt wurde die Anzahl der Lautäußerungen pro Minute. Als eine Lautäußerung galt ein Vokal (z. B. „Iih“), eine Kombination von Konsonant und Vokal („Da“, „Ma“ usw.) oder aber eine Aneinanderreihung von solchen Kombinationen („Dadaba“).

Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die mütterliche Imitation kindlicher Lautäußerungen als Verstärker für diese wirkt. Bei zehn der elf Kinder zeigten sich abhängig von der Phase des Versuchs deutliche Unterschiede in der Häufigkeit der Lautäußerungen. Im Schnitt machen die Kinder

  • in der ersten B-Phase 21,5,
  • in der A-Phase 11,5 und
  • in der zweiten B-Phase 29,5 Lautäußerungen je Minute.

Der Anstieg in der zweiten B-Phase spricht für einen überdauernden Lerneffekt.

Mit dieser Studie konnte allerdings nicht aufgezeigt werden, ob die Steigerung der Lautäußerungen des Kindes zu einer Veränderung der Topografie der Lautäußerungen führte. Man sollte annehmen, dass eine Verstärkung bestimmter Lautäußerungen (wie z. B. „Ma“) durch mütterliche Imitation dazu führt, dass speziell dieser Laut („Ma“) häufiger geäußert wird. Prinzipiell ist diese differentielle Verstärkung von kindlichen Lautäußerungen nachgewiesen (Routh, 1969), jedoch nicht für den Fall der Verstärkung durch Imitation. Eine solche differentielle Verstärkung bestimmter Lautäußerungen führt dazu, dass sich die Vokalisationen des Kindes der Sprache seiner Eltern annähern. Zum Beispiel wird eine Mutter in Deutschland auf die Lautfolge „Ma“ anders reagieren als etwa auf die Lautfolge „Xa“. Wenn das Kind häufiger „Ma“ sagt, wird es früher oder später auch „Mama“ sagen, was wiederum von der Mutter auf vielfältige Weise verstärkt werden wird. Nach und nach sagt dann das Kind immer häufiger „Mama“, woraufhin die Bezugspersonen dazu übergehen werden, nur noch dann begeistert zu reagieren, wenn dies in Gegenwart der Mutter geschieht. Diesen Vorgang nennt man „Stimuluskontrolle“: Ein Verhalten („Mama“ sagen) wird nur in bestimmten Situationen (in Anwesenheit der Mutter) verstärkt, nicht aber in anderen Situationen (wenn der Vater oder der Onkel sich über das Kinderbettchen beugen).

Den besten Rat, den die Verhaltensanalyse den Eltern kleiner Kinder geben kann, lautet (Gewirtz & Pelaez-Nogueras, 1992): Sprecht und interagiert viel mit euren Kindern! Zahlreiche Studien haben den Zusammenhang zwischen sprachlicher Stimulation durch die Eltern in den ersten Lebensjahren und der späteren sprachlichen und intellektuellen Entwicklung des Kindes belegt (Kaplan et al., 2007; Newman et al., 2006; Tamis-LeMonda et al., 2001; Thiessen et al., 2005).

Literatur

Field, Tiffany M. (1977). Maternal stimulation during infant feeding. Developmental Psychology, 13(5), 539-540.

Gewirtz, Jacob L. & Pelaez-Nogueras, Martha. (1992). B. F. Skinner’s legacy in human infant behavior and development. American Psychologist, 47(11), 1411-1422.

Hart, B. & Risley, T. R. (1995). Meaningful differences in the everyday experiences of young American children. Baltimore: Brookes.

Hart, B. & Risley, T. R. (1999). The social world of children learning to talk. Baltimore: Brookes.

Kaplan, Peter S.; Sliter, Jessica K. & Burgess, Aaron P. (2007). Infant-directed speech produced by fathers with symptoms of depression: Effects on infant associative learning in a conditioned-attention paradigm. Infant Behavior & Development, 30(4), 535-545.

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Ein Apfel ist ein Apfel – aber nicht immer

„Apfel“ zum Bild eines Apfels sagen ist nicht dasselbe wie „Apfel“ zu sagen, wenn man Hunger auf einen hat. Die „funktionelle Unabhängigkeit verbaler Operanten“ lässt sich experimentell nachweisen, fällt aber im Alltag kaum auf.

Die Untersuchungseinheit der Verhaltensanalyse ist beim sprachlichen Verhalten nicht das Wort, sondern das verbale Operant. Verbale Operanten sind, vereinfacht ausgedrückt, Teile sprachlichen Verhaltens, die durch auslösende Reize ausgelöst werden und durch Konsequenzen aufrechterhalten werden. Eine Beispiel: Ein Kind sieht einen Apfel (das ist der auslösende Reiz) und sagt „Apfel“ (das ist das sprachliche Verhalten), die Mutter hört dies und sagt „Ja richtig, das ist ein Apfel“ (die Konsequenz, in diesem Fall vermutlich ein Verstärker). In diesem Beispiel verwendet das Kind das Wort „Apfel“ als ein – wie Skinner es bezeichnet – „Tact“. Daneben kennt Skinner noch eine Reihe anderer Arten von sprachlichen Operanten. Zur Vertiefung empfehle ich vorab die Lektüre des Wikipedia-Artikels Verbal Behavior.

Skinner postulierte 1957, dass verbale Operanten funktionell unabhängig sind. Ein Kind, dass gelernt hat, „Apfel“ zu sagen, wenn ein realer Apfel oder das Bild von einem Apfel zu sehen ist (wie oben, man nennt das ein Tact), hat nicht notwendigerweise auch gelernt, „Apfel“ zu sagen, wenn es Hunger auf einen Apfel hat (man nennt diese Verwendung des Wortes „Apfel“ ein Mand) und es muss auch nicht notwendigerweise „Apfel“ sagen können, wenn es nach Früchten gefragt wird (ein Intraverbales).

Die funktionelle Unabhängigkeit von verbalen Operanten lässt sich in der normalen Sprachentwicklung des Kindes nur schwer beobachten. Kinder erwerben sehr schnell viele verschiedene verbale Operanten, zu schnell, als dass man die funktionelle Unabhängigkeit ohne weiteres feststellen kann. Die Forschung mit Kindern, die Sprachentwicklungsstörungen aufweisen, bestätigt jedoch, dass verbale Operanten funktionell unabhängig erworben werden.

Partington und Bailey (1993) konnten die funktionelle Unabhängigkeit auch bei acht Kindern mit normaler Sprachentwicklung im Alter von vier Jahren nachweisen. Zudem zeigten sie, wie sich der Transfer der Stimuluskontrolle – dass also z. B. ein Wort, dass bereits als Tact verwendet wird, auch als Intraverbales verwendet werden kann – fördern lässt.

Zunächst testeten sie die Häufigkeit von Intraverbalen, indem sie das Kind baten, z. B. so viele Früchte, Spielzeuge usw. zu nennen, wie ihm einfielen. Anschließend sollte das Kind mehrere (der zuvor gefragten) Gegenstände benennen, die ihm auf Karten gezeigt wurden (das Tact-Training). Wenn es die Antwort nicht wusste, wurde diese Antwort so lange gepromptet, bis das Kind sie äußerte. Ein Prompt ist in der Verhaltensanalyse ein Hinweis, welches Verhalten gerade gefordert ist, in diesem Fall könnte das der Hinweis sein, dass der Gegenstand auf dem Bild ein „Apfel“ ist. Das Prompt wurde im Lauf des Training nach und nach zurückgefahren, z. B. indem dem Kind in weiteren Durchgängen nur noch gesagt wurde, dass der Gegenstand auf dem Bild mit „A“ anfängt usw. Zuletzt wurde kein Prompt mehr gegeben.

Im Anschluss an das Tact-Training wurde wieder getestet, wie viele Intraverbale das Kind äußerte, wenn man es fragte, welche Früchte usw.  es kenne. Hier ergaben sich keine Verbesserungen zum Vortest, d. h. es konnte nicht mehr Früchte nennen, obschon es die Namen von Früchten anhand von Bildern geübt hatte. Dies belegt die erwähnte funktionale Unabhängigkeit verbaler Operanten: Das Kind konnte zwar nun Früchte benennen (tacten), die Namen der Früchte aber nicht in der freien Wiedergabe (als Intraverbale) verwenden

Anschließend wurde der Transfer der Stimuluskontrolle trainiert. Das Kind wurde wieder gefragt, was alles Früchte sind und nun wurden ihm zusätzlich als Hilfe Bilder von Früchten gezeigt, die es zuvor richtig getactet hatte. Dieses Prompt wurde in einem weiteren Durchlauf zurückgenommen, sodass das Kind das Wort nun als Intraverbales alleine verwenden konnte.

  • “The results of Experiment 1 indicate that the tact and intraverbal responses are separate verbal operants. Teaching a tacting repertoire to the preschool children was not sufficient to bring the responses under the control of verbal stimuli. It was still necessary to train the verbal responses in the presence of the verbal stimuli. The transfer of stimulus control procedure developed with developmentally disabled children was effective in teaching typical children intraverbal behavior.” (S. 14)

In einem weiteren Experiment mit vier anderen Kindern konnten diese Ergebnisse repliziert werden. Den Kindern wurde im Tact-Training nun jeweils auch noch beigebracht, um welche Klasse von Gegenständen es sich handeltet (das Kind sah das Bild eines Apfels, ihm wurde beigebracht bei diesem Bild „Apfel“ zu sagen und dass der Apfel eine Frucht ist). Auch hier waren zwei der vier Kinder nach dem Tact-Training nicht in der Lage, mehr Namen von Früchten zu generieren, als vor dem Training.

Partington, James W. & Bailey, Jon S. (1993). Teaching intraverbal behavior to preschool children. The Analysis of Verbal Behavior, 11, 9-18. https://doi.org/10.1007/BF03392883 PDF 1,34 MB

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Wer schneller liest, versteht mehr

Wenn man schnell und betont liest, behält man mehr vom Inhalt des Textes, als wenn man langsam und / oder unbetont liest. Eine Studie aus dem Jahr 1989 zeigt zudem wie wichtig Übung ist.

Die Sprechgeschwindigkeit beträgt, wenn man sich normal unterhält, etwa 150 bis 185 Wörter pro Minute. Nachrichtensprecher erreichen eine Geschwindigkeit von 170 bis 180 Wörtern pro Minute. In der Grundschule wird von den Kindern jedoch nur verlangt, dass sie mit einer Geschwindigkeit von 40 bis 90 Wörtern lesen können. Manchmal wird dabei auf die richtige Betonung geachtet, oft aber, gerade bei den schwächeren Schülern, nicht. Dies wird als ausreichend erachtet. Tenenbaum und Wolking (1989) konnten jedoch zeigen, dass schnelles und richtig betontes Lesen das Leseverständnis erhöht.

Sie untersuchten zwei ältere Schüler, einen 18jährigen schwarzen Jungen und einen 16jährigen weißen Jungen. Der 18jährige las auf dem Niveau eines Sechstklässlers, der 16jährige auf dem Niveau eines Zweitklässlers. Zusätzlich untersuchten sie noch vier Mädchen im Alter von acht bis neun Jahren, die auf dem Niveau der dritten Klasse lesen konnten. Bei allen Versuchspersonen wurden unterschiedliche Weisen verlangt und trainiert, wie sie lesen sollten:

  • langsam (30 bis 60 Wörter pro Minute) oder schnell (150 bis 200 Wörter pro Minute) und
  • mit richtiger Betonung oder unbetont.

Daraus ergaben sich vier mögliche Bedingungen:

  1. langsam und unbetont
  2. langsam und betont
  3. schnell und unbetont
  4. schnell und betont

Das schnelle Lesen und das betonte Lesen musste zuvor mit den Schülern anhand anderer Texte geübt werden. Dabei mussten Sie neben der geforderten Geschwindigkeit und Betonung den Text auch möglichst fehlerfrei vorlesen können (maximal zwei Fehler je 100 Wörter).

Jede Versuchsperson sollte nacheinander unter den vier verschiedenen Bedingungen Texte lesen. Die Reihenfolge, in der sie die Bedingungen durchliefen, war dabei von Schüler zu Schüler  unterschiedlich. Nach jeder Phase mussten die Kinder und Jugendlichen

  • angeben, an welche Inhalte des Textes sie sich erinnerten.
  • auf 10 Fragen zum Text antworten.
  • einen Lückentext bearbeiten (bei dem Text, den sie gelesen hatten, war jedes fünfte Wort weggelassen).

Die Forscher verglichen, wie gut die Versuchspersonen in diesen Leseverständnistests abschnitten, je nachdem, auf welche Weise sie den Text zuvor gelesen hatten. Über alle Versuchspersonen hinweg waren die Ergebnisse der Verständnistests dann am besten, wenn die Schüler den Text zuvor schnell und betont gelesen hatten. Etwas schlechter schnitten die Versuchspersonen ab, wenn sie den Text schnell und unbetont gelesen hatten, noch schlechter, wenn sie ihn langsam und betont gelesen hatten. Am wenigsten Leseverständnis demonstrierten die Schüler, wenn sie den Text langsam und unbetont gelesen hatten.

Verhaltensanalytiker verlangen, dass ein Schüler eine bestimmte Leistung (Rechnen, Lesen usw.) nicht nur halbwegs richtig, sondern flüssig erbringt. Dies erfordert einen gewissen Drill –wobei Drill nichts Negatives sein muss: Verhaltensanalytischer Drill geht mit viel Verstärkung einher und wer schon einmal eine Schulklasse gesehen hat, die, wie bei verhaltensanalytischen Lehrmethoden üblich, oft im Chor antworten soll oder aber SAFMEDS übt, der sieht den Kindern an, dass ihnen das Spaß macht.

(SAFMEDS steht für: „Say All Fast a Minute Every Day Shuffled“. Der Schüler soll hier einmal am Tag alles, was er zu einem Thema weiß, anhand von Lernkarten eine Minute lang schnell sagen; die Karten sind dabei  durchmischt. Vgl. hier. Hier ein Video, das die Methode demonstriert)

Die verbreitete Haltung, schon zufrieden zu sein, wenn der Schüler nur überhaupt irgendwie lesen kann, gereicht aber gerade den schwächeren Schülern zum Nachteil. Gute Schüler, die z. B. aus Elternhäusern kommen, in denen ohnehin auf Bildung und Lesen Wert gelegt wird, lesen nach und nach „von ganz alleine“ schneller (in Wahrheit natürlich, weil das Lesen nicht nur in der Schule gefördert wird). Sie erleben dabei dann aber auch bald die Vorteile die das Lesen mit sich bringt: Wenn man gut und schnell lesen kann, lernt man etwas dabei, man hat etwas davon, dass man liest: Man wird durch eine gute Geschichte – die man dann auch versteht – unterhalten oder aber man erfährt nützliche Dinge. Lesen ist für viele Erwachsene automatisch verstärkend, weshalb wir auch dann automatisch lesen, wenn wir das gar nicht wollen (z. B. die Reklame in der U-Bahn). Wenn man von den schwächeren Schülern nicht verlangt, dass sie schnell und richtig lesen können – wenn man sie nicht durch den erwähnten positiven Drill dazu bringt – dann erfahren diese Schüler nie, wie unterhaltend und nützlich das Lesen ist. Sie werden nie von sich aus lesen und fallen daher immer weiter hinter die „stärkeren“ Schüler zurück. Der pseudo-humanistische Ansatz, Kinder „nach ihren eigenen Möglichkeiten“, „selbstgesteuert“ lernen zu lassen, führt dazu, dass die schwächeren Schüler schwächer werden und die stärkeren Schüler (in Wahrheit sind das die, die aus einer Umgebung kommen, in denen das Erbringen von Leistung auf vielfältige Weise gefördert wird und werden kann) im Idealfall wenigstens von den Lehrern nicht daran gehindert werden, gut zu sein.

Die Studie von Tenenbaum und Wolking (1989) zeigt, wie wichtig Übung ist. Gute Leistungen sind kein Ausfluss einer geheimnisvollen „Begabung“  des Kindes, sondern das Resultat ungezählter Lernmöglichkeiten, stetem Trainings. Wer hervorragende Leistungen in einem bestimmten Gebiet erbringt, hat zuvor sehr viel Zeit darauf verwendet, gerade diese Leistung zu üben und er wuchs in der Regel in einer Umgebung auf, die gerade diese Leistung ständig (durch Lob oder durch Druck) honoriert hat. Ein Mozart wäre kein musikalisches Genie geworden, wenn er nicht von klein auf immer wieder geübt hätte und wenn nicht seine Familie das „musikalische Verhalten“ des kleinen Amadeus auf vielfältige Weise gefördert hätte (vgl. hierzu auch die Ausführungen von Steven Ray Flora in „The Power of Reinforcement“).

Tenenbaum, Henry A. & Wolking, William D. (1989). Effects of oral reading rate and inflection on intraverbal responding. The Analysis of Verbal Behavior, 7, 83-89. PDF 1,17 MB

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