Durch ein strukturiertes Training auf verhaltensanalytischer Grundlage lernten zwei sehbehinderte Kinder, wie sie Münzen anhand ihrer Größe und der Riffelung am Rand der Münze unterscheiden können. Ein Einblick in die Art und Weise wie Verhaltensanalytiker arbeiten.
US-amerikanische Münzen unterscheiden sich durch
- ihre unterschiedliche Größe,
- das aufgeprägte Motiv und
- eine vorhandene oder nicht vorhandene Riffelung an ihren Rändern.
Diese Münzen haben einen Wert (1, 5, 10 und 25 Cent) und eigene Namen (Penny, Nickel, Dime und Quarter). Die Unterscheidung und richtige Benennung dieser Münzen ist nicht ganz einfach, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann. Es dauert eine Weile, bis man in der Lage ist, beim Bezahlen an der Supermarktkasse die richtigen Münzen aus dem Portemonnaie zu fischen oder eine Münze richtig zu benennen. Besonders nervig fand ich die Unterscheidung zwischen Nickel und Dime. Was war noch mal das 5-Cent- und was das 10-Cent-Stück? Erschwerend kommt hinzu, dass die vom Wert her kleinere Nickel-Münze größer ist als ein Dime. Üblicherweise hat man das am Ende eines mehrwöchigen USA-Urlaubes mehr oder weniger gut gelernt. Schwerer aber ist diese Aufgabe für blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder, selbst wenn sie Einheimische sind.
Schon Miller und Kollegen (1977) konnten mittels verhaltensanalytischer Trainingsmethoden 14 geistig behinderten Kindern beibringen, die amerikanischen Münzen zu erkennen. Sie waren auch noch vier Wochen nach dem Training in der Lage, die Münzen, wenn sie ihnen gezeigt wurden, richtig zu benennen und umgekehrt, auf die richtige Münze zu zeigen, wenn sie den Namen der Münze hörten.
Nicole Hanney und Jeffrey Tiger (2012) trainierten diese Unterscheidungsleistung mit zwei hochgradig sehbehinderten Kindern. Maddie war ein sechsjähriges, intellektuell normal entwickeltes Mädchen, Chris ein achtjähriger Junge mit einer leichten Entwicklungsverzögerung. Hochgradig sehbehinderte Menschen können nur zwei der oben genannten drei Merkmale zur Unterscheidung der Münzen nutzen, die Größe und die Riffelung am Rand der Münze; das aufgeprägte Motiv können sie nicht ertasten. Gerade für sehbehinderte und blinde Menschen ist es sehr wichtig, die Münzen zuverlässig und schnell zu unterscheiden. Diese Fähigkeit ist mit-entscheidend für ihre Selbständigkeit im Alltag. Selber bezahlen zu können und zu wissen, dass man beim Bezahlen nicht übers Ohr gehauen wird, macht viel aus.
Ein Vortest
Zunächst prüften Hanney und Tiger, ob die Kinder überhaupt in der Lage waren, die unterschiedliche Größe und das Vorhandensein der Riffelung am Rand der Münze festzustellen. Entgegen der landläufigen Meinung haben blinde nicht per se ein besseres Tastvermögen als normalsehende Menschen. Diese sensorische Voraussetzung für die Unterscheidungsleistung war bei beiden Kindern gegeben.
Größe und Riffelung zuverlässig erkennen können
Diese Unterscheidungsleistung wurde anschließend trainiert. Zunächst wurde die Unterscheidung nach der Größe geübt. Der Therapeut legte den Kindern hierzu zwei unterschiedlich große Münzen auf die Handfläche und forderte sie auf, ihm die kleinere oder die größere Münze zu geben. Wenn dies gelang, ließ der Therapeut eine Murmel in ein Glas fallen, was ein Geräusch erzeugte. Das Kind konnte die Murmeln anschließend für eine bevorzugte Freizeitaktivität eintauschen, eine Murmel entsprach 30 Sekunden Zugang zu dieser Aktivität. Man nennt ein solches Verfahren, bei dem ein Gegenstand, ein Gutschein oder Punkte gegen einen positiven Verstärker eingetauscht werden kann, ein Tokensystem. Wenn das Kind nicht die richtige Münze aushändigte, wurde es vom Therapeuten entsprechend korrigiert. Ähnlich liefen die Übungseinheiten für das Unterscheiden der Riffelung ab. Das Kind musste dabei von zwei Münzen immer diejenige vorweisen, die entweder eine Riffelung oder keine Riffelung hatte. Die Übungseinheiten wurden so lange wiederholt, bis das Kind in der Lage war, die Unterscheidung schnell und zuverlässig („flüssig“, engl. fluent) zu erbringen.
Die Münze zeigen können, wenn ihr Name genannt wird
Anschließend wurde die Zuordnung der Münzen zu ihren Namen (Name der Münze – Münze) trainiert. Jede Übungseinheit begann mit der Aufforderung „Finde den [Namen der Münze]!“ Bei den ersten Sitzungen lag jeweils nur eine einzige Münze (die Münze, die es „finden“ musste) vor dem Kind auf dem Tisch. Das Kind konnte so natürlich keine Fehler machen (errorless teaching procedure). Für jede richtige Antwort (wenn das Kind die richtige Münze in die Hand nahm und dem Therapeuten übergab) wurde es gelobt und bekam wie oben beschrieben eine Murmel. Sobald dies gut (fluent) gelang, wurde die Aufgabe verändert: Nun lag neben der verlangten Münze immer noch zusätzlich eine zweite Münze auf dem Tisch. Auch jetzt wurde das Kind immer dann gelobt und erhielt eine Murmel, wenn es dem Therapeuten die richtige Münze übergab. Die Übungseinheiten wurden wiederum so lange wiederholt, bis die Unterscheidungsleistung flüssig gelang. Nun wurden nach und nach mehr Münzen auf den Tisch gelegt, bis das Kind auch dann, wenn alle vier Münzsorten auf dem Tisch lagen, die (mit ihrem Namen) gefragte Münze vorzeigen konnte.
Die Münze zeigen können, wenn ihr Wert genannt wird
Anschließend wurde das Training für die Kombination „Wert der Münze – Münze“ in der gleichen Weise wiederholt. Der Therapeut fragte „Finde die [Zahlenwert der Münze]“ und das Kind erhielt Lob und eine Murmel, wenn es die richtige Münze vorzeigte. Auch diese Unterscheidungsleistung wurde so lange trainiert, bis sie flüssig gelang.
Nicht trainierte, letztlich aber doch gelernte Fähigkeiten
Aus der Forschung zum Sprachverhalten ist das Prinzip der „funktionellen Unabhängigkeit“ bekannt. Wenn ein Kind beispielsweise lernt, dass es Milch bekommt, wenn es Durst hat und „Milch!“ sagt (das Wort „Milch“ wird hier als sogenanntes Mand verwendet), dann heißt das noch lange nicht, dass das Kind auch „Milch“ sagt, wenn man ihm Milch zeigt (das Wort „Milch“ wird hier als Tact verwendet). Auch wenn es das Wort Milch sowohl als Mand als auch als Tact verwenden kann, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass es auf die Milchpackung deuten kann, wenn man es fragt, wo auf dem Frühstückstisch die Milch steht. Normaler- und natürlicherweise geschieht das Erlernen dieser Relationen so schnell (und „nebenher“), dass die Eltern nicht bemerken, dass das Kind hier eigentlich mehrere verschiedene Verhaltensweisen jeweils individuell erwerben muss. In Extremfällen (etwa bei einigen geistig behinderten Kindern) müssen – und können! – aber tatsächlich alle Relationen einzeln geübt und erlernt werden. Mehr zum Thema in dem Wikipedia-Artikel zu B. F. Skinners Buch Verbal Behavior.
Bei Maddie und Chris war es nicht erforderlich, auch die anderen Relationen explizit zu trainieren. Bislang hatten sie ja beide nur gelernt, die Münzen zu zeigen, wenn ihnen der Name oder der Wert der Münze genannt wurde. Was sie nicht trainiert hatten, war
- den Namen der Münze zu sagen, wenn ihnen die Münze in die Hand gegeben wurde.
- den Wert der Münze zu sagen, wenn ihnen die Münze in die Hand gegeben wurde.
- den Namen der Münze zu sagen, wenn sie den Wert der Münze hörten (Bsp.: „Ein 25-Cent-Stück nennt man auch wie?“).
- den Wert der Münze zu sagen, wenn sie den Namen der Münze hörten (Bsp.: „Ein Quarter ist wie viel wert?“).
Diese Fähigkeiten wurden im Lauf der ganzen Untersuchung immer wieder getestet (d. h. die Kinder wurden gefragt, bekamen aber für die richtige Antwort kein Lob oder eine Murmel). Zu Beginn konnten die Kinder diese Fragen kaum beantworten (sie antworteten nicht oder errieten die Antwort). Über die Trainingseinheiten hinweg stieg der Prozentsatz der richtigen Antworten jedoch schnell an. Auch Maddie und Chris konnten also die anderen Relationen auf natürliche Weise, ohne explizites Training erlernen.
Der Erfolg des Trainings hält an
Das Training zog sich über insgesamt 12 (bei Maddie) respektive 18 (bei Chris) Sitzungen hin. Fünf Monate nach dem Ende des Trainings wurde bei Maddie getestet, ob sie noch in der Lage war, die verschiedenen trainierten und nicht-trainierten Unterscheidungsleistungen zu erbringen. Dies gelang ihr zu nahezu 100 %. Zu vermuten ist, dass sie die im Training erlernten Fähigkeiten nun auch nutzbringend im Alltag einsetzen konnte.
Ein aufwändiges Training?
Ein solches Training klingt relativ aufwändig, wenn man bedenkt, dass viele Kinder diese Unterscheidungsleistung ohne oder nur mit wenig explizitem Training erwerben. Jedoch ist dies nicht immer so und bei blinden und hochgradig sehbehinderten Kindern nicht die Regel. Diese müssen das Unterscheiden und Benennen der Münzen oft lange und umständlich lernen. Vor diesem Hintergrund relativiert sich der Aufwand für das beschriebene Training. Zudem ist der Aufwand für einen in den Methoden der Verhaltensanalyse geschulten Therapeuten nicht so groß, wie man denken mag. Üblicherweise dauern solche Sitzungen nur wenige Minuten und sind weder für den Therapeuten noch für das Kind besonders anstrengend. Im Gegensatz zum oft zähen und durch Strafen und negative Verstärkung gekennzeichneten traditionellen Schulunterricht wirkt verhaltensanalytisches Lehren und Lernen spielerisch.
Literatur
Hanney, Nicole M. & Tiger, Jeffrey H. (2012). Teaching coin discrimination to children with visual impairments. Journal of Applied Behavior Analysis, 45(1), 167-172. PDF 336 KB
Miller, M. Ann; Cuvo, Anthony J. & Borakove, Larry S. (1977). Teaching naming of coin values comprehension before production versus production alone. Journal of Applied Behavior Analysis, 10(4), 735–736. PDF 149 KB
Warum stelle ich gerade diese Studie so ausführlich vor?
Diese Studie ist weder besonders groß angelegt, noch vom Ergebnis her sensationell. Es ist einfach ein kleiner Forschungsbericht wie viele andere auch. Warum habe ich sie hier so ausführlich vorgestellt? Zum einem aus persönlichem Interesse: Ich habe über sieben Jahre lang mit (erwachsenen) blinden und sehbehinderten Menschen gearbeitet. Das Thema lässt einen dann nie mehr ganz los. Zum anderen wollte ich anhand dieser Studie einige Prinzipien der verhaltensanalytischen Vorgehensweise illustrieren und auch einen kleinen Einblick in übergeordnete Themen (sprachliches Verhalten, Spracherwerb, funktionelle Unabhängigkeit) geben. Die Studie von Hanney und Tiger erschien im Journal of Applied Behavior Analysis (JABA), das zusammen mit dem Journal of the Experimental Analysis of Behavior (JEAB) zu den wichtigsten Zeitschriften in der Welt der Verhaltensanalyse zählt. Es handelt sich nur um einen (x-beliebigen) aus Tausenden von Artikeln, die seit Jahrzehnten die wissenschaftlichen Grundlagen und die Wirksamkeit der angewandten Verhaltensanalyse dokumentieren.