Schlagwort-Archive: Blinde

Brailleschrift lernen in 22 Minuten!

Vor einer Weile berichtete ich hier über ein Brailleschriftlernprogramm. Mittlerweile liegt eine Evaluation des Programms vor, die die Vorzüge des Schnellkurses bestätigt.

Scheithauer, Tiger und Miller (2013) evaluierten das verhaltensanalytisch fundierte Programm zum Brailleschriftlernen von Scheithauer und Tiger (2012) mit insgesamt 81 Versuchspersonen. Wieder wurde vor dem Programm festgestellt, ob die Person normale Schrift flüssig lesen konnte (alle konnten das). In einem Multiple-Choice-Test wurde erfasst, wie viele Braillebuchstaben sie entziffern konnte; die Trefferquote lag bei 20 %, was einem Zufallswert entspricht. Keine der Versuchspersonen konnte auch nur ein Wort in Braille lesen.

Sodann übten die Versuchspersonen die Brailleschrift mit dem von Scheithauer und Tiger (2012) entwickelten Verfahren. 40 Versuchspersonen lernten, wie in der ursprünglichen Studie, mittels eines Multiple-Choice-Verfahrens, die anderen 41 Versuchspersonen sollten bei den Antworten die entsprechende Taste auf der Tastatur drücken (d. h. auf den Buchstaben „k“ drücken, wenn am Bildschirm das Braillezeichen für „k“ angezeigt wurde). Um den Kurs abschließen zu können, musste die Versuchspersonen bei zwei aufeinanderfolgenden Terminen mindestens 95 % der Aufgaben richtig bearbeiten. Insgesamt benötigten die Versuchspersonen der Multiple-Choice-Gruppe im Schnitt 21,9 Minuten, um den Kurs abzuschließen, die Versuchspersonen der Gruppe, die ihre Antworten über die Tastatur eingeben musste, brauchten dafür durchschnittlich 23,6 Minuten.

Im Abschlusstest sollten die Versuchspersonen wieder die gleichen Multiple-Choice-Aufgaben bearbeiten wie im Vortest. Die Versuchspersonen in beiden Gruppen erreichten nun eine Trefferquote von 99,6 %. Beim Lesetest konnten die Versuchspersonen der Multiple-Choice-Gruppe im Schnitt in fünf Minuten 26,3 Wörter in der Brailleschrift vorlesen, in der Tastatur-Gruppe waren es 25,8 Wörter.

Zwischen sieben und 14 Tagen nach dem Abschluss des Kurses (im Schnitt zehn Tage später) sollten die Versuchspersonen erneut zu einem Test antreten. 67 Versuchspersonen (33 in der Multiple-Choice- und 34 in der Tastaturgruppe) kamen dieser Aufforderung nach. Erneut wurde ein Multiple-Choice-Test vorgegeben, dieses Mal mit anderen Buchstaben. Nun lag die Trefferquote in der Multiple-Choice-Gruppe noch bei 89,5 %, in der Tastaturgruppe bei 83,5 %. Beim Lesetest sollten die Versuchspersonen einen neuen Text vorlesen. Die Versuchspersonen der Multiple-Choice-Gruppe konnten jetzt im Schnitt 22,8 Wörter in fünf Minuten lesen, die Versuchspersonen der Tastaturgruppe lasen durchschnittlich 16,9 Wörter.

Alle bisher berichteten Unterschiede zwischen beiden Gruppen waren nicht signifikant. Allerdings machte die Tastaturgruppe während des Kurses im Schnitt signifikant mehr Fehler (55,3) als die Multiple-Choice-Gruppe (35,3).

Beide Gruppen gaben in einem Fragebogen an, dass sie den ganzen Kurs als sehr angenehm und nützlich empfanden, die Tastaturgruppe fand das sogar zu einem höheren Ausmaß (5,5 auf einer Rating Skala von 1 bis 6) als die Multiple-Choice-Gruppe (5,0).

Die Methode von Schaithauer und Tiger (2012) eignet sich dazu, z. B. Studenten der Sonder- oder Sozialpädagogik auf einfache Weise mit den Grundlagen der Brailleschrift vertraut zu machen und so evtl. zu einem vertieften Studium der Brailleschrift hinzuführen. Angesichts des berichteten Mangels an geeigneten Lehrkräften für Braille ist dies ein sinnvoller Ansatz, dem man auch hierzulande Verbreitung wünschen kann.

Literatur

Scheithauer, Mindy C. & Tiger, Jefrey H. (2012). A computer-based program to teach Braille reading to sighted individuals. Journal of Applied Behavior Analysis, 45(2), 315-327. PDF 978 KB

Scheithauer, Mindy C.; Tiger, Jefrey H. Miller, Sarah J. (2013). On the efficacy of a computer-based program to teach visual Braille reading. Journal of Applied Behavior Analysis, 46(2), 436-443.

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Pädagogik, Verhaltensanalyse

Brailleschrift lernen in 25 Minuten!

Die „Blindenschrift“ in weniger als einer halben Stunde lernen? Geht das? Nun ja, nicht ganz. Aber man kann damit anfangen.

Die Brailleschrift zu erlernen, ist aufwändig und für die Menschen, die sie lernen müssen, oft frustrierend. Dennoch ist diese „Blindenschrift“ (oder Punktschrift) für viele Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung oder Blindheit ein unverzichtbarer Zugang zur Welt. Zwar gibt es mittlerweile am Computer recht gute Möglichkeiten zur Sprachein- und –ausgabe. Doch ein vollwertiges, blindheitsgemäßes Arbeiten erfordert noch immer die Beherrschung der Brailleschrift. Studien (z. B. Ryles, 1996) zeigen, dass hochgradig sehbehinderte und blinde Menschen, die die Brailleschrift beherrschen öfter in Arbeit sind, höhere Bildungsabschlüsse erreichen und finanziell besser dastehen als diejenigen, die die Brailleschrift nicht beherrschen. Natürlich gibt es hier auch einen Selektionsfehler: In der Gruppe derjenigen Blinden und Sehbehinderten, die die Brailleschrift nicht gelernt haben, befinden sich auch die, die sie aus verschiedensten (auch gesundheitlichen und intellektuellen) Gründen nicht erlernen können. Vereinfacht ausgedrückt: Ein blinder Mensch, der zu krank ist, um die Brailleschrift zu erlernen, erreicht im Schnitt kein so hohes Einkommen wie ein gesunder Blinder, der die Brailleschrift beherrscht. Aber auch wenn man die solcherart „verzerrte“ Stichprobe in Rechnung stellt, zeigt sich, dass die Brailleschrift im Großen und Ganzen eine sehr wichtige Technik für die Teilhabe am Arbeits- und Gesellschaftsleben ist.

Vor diesem Hintergrund ist es bedenklich, dass der Anteil der hochgradig sehbehinderten und blinden Schüler, die die Brailleschrift erlernen, von 40 % im Jahr 1968 mittlerweile auf 9 % bis 22 % gesunken ist (in den USA; Braille Institut, 2010; Department of Field Services, 2009; National Federation of the Blind, 2009). Mehrfach wurde die Vermutung geäußert, dass dies an einem Mangel an qualifizierten Brailleschriftlehrern liegen könnte (Bell, 2010).

Es ist Konsens und m. E. auch selbstverständlich, dass ein Brailleschriftlehrer selbst die Brailleschrift lesen können sollte. Dabei muss der Lehrer die Brailleschrift nicht unbedingt mit den Fingern (taktil) lesen können, es reicht in den meisten Fällen aus, wenn er sie mit den Augen lesen kann.

Um überhaupt einen Anfang zu machen, ist es erforderlich, das Braillealphabet zu erlernen. Für jemanden, der bereits die „normale“ Schrift lesen kann, handelt es sich dabei  in der Sprache der Verhaltensanalyse um eine Äquivalenzaufgabe. Die Person lernt, in Anwesenheit von Stimulus A (z. B. dem Brailleschriftzeichen) den Stimulus B (den gedruckten Buchstaben) zu wählen (AB-Relation) und in Anwesenheit von Stimulus B den Stimulus C (den gesprochenen Laut) zu wählen (BS-Relation). Die Person zeigt eine Stimulusäquivalenz, wenn

  • sie in der Lage ist, gleiche Reize einander zuzuordnen (AA, BB, CC; reflexive Relation).
  • sie in Anwesenheit von B auch A und in Anwesenheit von C auch B wählt (symmetrische Relation).
  • sie in Anwesenheit von A auch C und in Anwesenheit von C auch A wählt (transitive Relation).

Toissaint und Tiger (2010) brachten vier hochgradig sehbehinderten Kindern (die zuvor schon die gedruckte Schrift gelernt hatten, deren Sehvermögen sich aber verschlechterte) bei, den entsprechenden gedruckten Buchstaben (B) zu wählen, wenn sie einen Braillebuchstaben (A) erstasteten und diesen dann auch beim Namen zu nennen (C).

Scheithauer und Tiger (2012) brachten vier normalsichtigen Studenten bei, die Braillebuchstaben (A) mit den Augen zu erkennen und sie ihren gedruckten Entsprechungen (B) zuzuordnen. Das Training bestand aus mehreren kurzen Einheiten, die die Versuchspersonen am Computer absolvierten. Insgesamt benötigten die Versuchspersonen für das ganze Training im Schnitt nur 24,4 Minuten. Zudem erfassten Sie, ob und in wie weit die Versuchspersonen nach diesem Training in der Lage waren, einen Brailletext vorzulesen, obwohl sie dies zuvor nicht geübt hatten.

In einem Vortest sollten die Versuchspersonen zunächst einen Text aus einer verbreiteten Testbatterie für Lesefähigkeit in gedruckter Schrift vorlesen (was allen mühelos und flüssig gelang). Ein anderer Text aus einem Lesefähigkeitstest wurde ihnen in Brailleschrift vorgelegt. Die Versuchspersonen konnten den Text nicht entziffern. Das eigentliche Training bestand in einem Computerlernprogramm, bei dem die Versuchsperson einen Braillebuchstaben einem von fünf möglichen gedruckten Buchstaben zuordnen sollten (in einer Art Multiple-Choice-Verfahren). Im Vortest erreichten die Versuchspersonen hier nur eine „Trefferquote“ von rund 20 % (was bei einer Zufallswahl zu erwarten war). Anschließend erhielten die Versuchspersonen Feedback. Wenn sie die richtige Antwort anklickten, erschien die Nachricht „Sehr gut! Das ist richtig“ auf dem Monitor. Wenn die Antwort falsch war, erschien „Nein. Die richtige Antwort lautet [z. B.] K“. Nach dem gesamten Training wurden die Versuchspersonen erneut getestet. Drei der Versuchspersonen erreichten nun beim Multiple-Choice-Test 100%, die vierte Versuchsperson erreichte 88 %. Zusätzlich wurde getestet, wie viele Wörter die Versuchspersonen nun in Brailleschrift lesen konnten (vor dem Training konnten sie ja kein einziges Wort lesen). Unmittelbar anschließend ans Training konnten die vier Versuchspersonen in fünf Minuten 2, 19, 21 und 38 Wörter lesen. Sieben bis 24 Tage später wurden die Versuchspersonen erneut getestet. Im Multiple-Choice-Test erreichten zwei der Versuchspersonen noch immer 100 %, eine erreichte 81 %, die vierte Versuchsperson 61 %. Eine Versuchsperson konnte kein Wort mehr in Brailleschrift lesen. Die anderen drei Versuchspersonen konnten 7, 10 und 23 Wörter lesen.

Das alles mag nicht sehr beeindruckend klingen, insbesondere für jemanden, der die Brailleschrift mit erheblich höherer Geschwindigkeit taktil lesen kann. Man sollte aber bedenken, mit wie geringem Aufwand die Leistung der Versuchspersonen erzielt worden war. Die Studie von Scheithauer und Tiger (2012) demonstriert die Effizienz verhaltensanalytischer Lehrmethoden. Deren Kernelemente sind:

  • Der Lernende muss aktiv sein (hier: nicht nur lesen, sondern vor allem die Fragen beantworten).
  • Er erhält unmittelbar Feedback.
  • Der Lernfortschritt geschieht in kleinen Schritten, sodass der Lernende so viele Erfolgserlebnisse wie möglich hat.
  • Es wird über-lernt,  d. h. der Lernende lernt so lange, bis er die geforderte Leistung flüssig zeigen kann. Wenn man eine Leistung (wie Lesen) flüssig beherrscht, kann man sie in der Regel auch im Alltag so anwenden, dass man damit Erfolgserlebnisse hat.

Mehr zu den verhaltensanalytischen Lehrmethoden auf verhalten.org.

Scheithauer und Tiger (2012) entwickeln das Programm zurzeit weiter. Das Training soll über das Internet verfügbar gemacht werden. Zudem sollen Einheiten entwickelt werden, mit denen man u. a. auch die Zeichensetzung und die Braille-Kurzschrift erlernen kann.

Literatur

Bell, E. (2010). U.S. national certification in literary braille: History and current administration. Journal of Visual Impairment & Blindness, 104, 489-498.

Braille Institute. (2010). Facts about sight loss and definitions of blindness. Retrieved from http://www.brailleinstitute.org/facts_about_sight_loss#5

Department of Field Services of the American Printing House for the Blind. (2009). Distribution of eligible students: Based on the federal quota census of January 01, 2007 (fiscal year 2008). Retrieved from http://www.aph.org/fedquotpgm/dist08.html

National Federation of the Blind. (2009). The braille literacy crisis in America: Facing the truth, reversing the trend, empowering the blind. Baltimore: Author. Retrieved from http://www.nfb.org/images/nfb/documents/word/The_Braille_Literacy_Crisis In America.doc

Ryles, R. (1996). The impact of braille reading skills on employment, income, education, and reading habits. Journal of Visual Impairment & Blindness, 90, 219-226.

Scheithauer, Mindy C. & Tiger, Jefrey H. (2012). A computer-based program to teach Braille reading to sighted individuals. Journal of Applied Behavior Analysis, 45(2), 315-327.

PDF 978 KB

Toussaint, Karen A. &Tiger, Jeffrey H. (2010). Teaching early braille literacy skills within a stimulus equivalence paradigm to children with degenerative visual impairments. Journal of Applied Behavior Analysis, 43(2), 181-194.

PDF 253 KB

Ein Kommentar

Eingeordnet unter Pädagogik, Verhaltensanalyse

Wie sehbehinderte Kinder Münzen unterscheiden lernen

Durch ein strukturiertes Training auf verhaltensanalytischer Grundlage lernten zwei sehbehinderte Kinder, wie sie Münzen anhand ihrer Größe und der Riffelung am Rand der Münze unterscheiden können. Ein Einblick in die Art und Weise wie Verhaltensanalytiker arbeiten.

US-amerikanische Münzen unterscheiden sich durch

  • ihre unterschiedliche Größe,
  • das aufgeprägte Motiv und
  • eine vorhandene oder nicht vorhandene Riffelung an ihren Rändern.

Diese Münzen haben einen Wert (1, 5, 10 und 25 Cent) und eigene Namen (Penny, Nickel, Dime und Quarter). Die Unterscheidung und richtige Benennung dieser Münzen ist nicht ganz einfach, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann. Es dauert eine Weile, bis man in der Lage ist, beim Bezahlen an der Supermarktkasse die richtigen Münzen aus dem Portemonnaie zu fischen oder eine Münze richtig zu benennen. Besonders nervig fand ich die Unterscheidung zwischen Nickel und Dime. Was war noch mal das 5-Cent- und was das 10-Cent-Stück? Erschwerend kommt hinzu, dass die vom Wert her kleinere Nickel-Münze größer ist als ein Dime. Üblicherweise hat man das am Ende eines mehrwöchigen USA-Urlaubes mehr oder weniger gut gelernt. Schwerer aber ist diese Aufgabe für blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder, selbst wenn sie Einheimische sind.

Schon Miller und Kollegen (1977) konnten mittels verhaltensanalytischer Trainingsmethoden 14 geistig behinderten Kindern beibringen, die amerikanischen Münzen zu erkennen. Sie waren auch noch vier Wochen nach dem Training in der Lage, die Münzen, wenn sie ihnen gezeigt wurden, richtig zu benennen und umgekehrt, auf die richtige Münze zu zeigen, wenn sie den Namen der Münze hörten.

Nicole Hanney und Jeffrey Tiger (2012) trainierten diese Unterscheidungsleistung mit zwei hochgradig sehbehinderten Kindern. Maddie war ein sechsjähriges, intellektuell normal entwickeltes Mädchen, Chris ein achtjähriger Junge mit einer leichten Entwicklungsverzögerung. Hochgradig sehbehinderte Menschen können nur zwei der oben genannten drei Merkmale zur Unterscheidung der Münzen nutzen, die Größe und die Riffelung am Rand der Münze; das aufgeprägte Motiv können sie nicht ertasten. Gerade für sehbehinderte und blinde Menschen ist es sehr wichtig, die Münzen zuverlässig und schnell zu unterscheiden. Diese Fähigkeit ist mit-entscheidend für ihre Selbständigkeit im Alltag. Selber bezahlen zu können und zu wissen, dass man beim Bezahlen nicht übers Ohr gehauen wird, macht viel aus.

Ein Vortest

Zunächst prüften Hanney und Tiger, ob die Kinder überhaupt in der Lage waren, die unterschiedliche Größe und das Vorhandensein der Riffelung am Rand der Münze festzustellen. Entgegen der landläufigen Meinung haben blinde nicht per se ein besseres Tastvermögen als normalsehende Menschen. Diese sensorische Voraussetzung für die Unterscheidungsleistung war bei beiden Kindern gegeben.

Größe und Riffelung zuverlässig erkennen können

Diese Unterscheidungsleistung wurde anschließend trainiert. Zunächst wurde die Unterscheidung nach der Größe geübt. Der Therapeut legte den Kindern hierzu zwei unterschiedlich große Münzen auf die Handfläche und forderte sie auf, ihm die kleinere oder die größere Münze zu geben. Wenn dies gelang, ließ der Therapeut eine Murmel in ein Glas fallen, was ein Geräusch erzeugte. Das Kind konnte die Murmeln anschließend für eine bevorzugte Freizeitaktivität eintauschen, eine Murmel entsprach 30 Sekunden Zugang zu dieser Aktivität. Man nennt ein solches Verfahren, bei dem ein Gegenstand, ein Gutschein oder Punkte gegen einen positiven Verstärker eingetauscht werden kann, ein Tokensystem. Wenn das Kind nicht die richtige Münze aushändigte, wurde es vom Therapeuten entsprechend korrigiert. Ähnlich liefen die Übungseinheiten für das Unterscheiden der Riffelung ab. Das Kind musste dabei von zwei Münzen immer diejenige vorweisen, die entweder eine Riffelung oder keine Riffelung hatte. Die Übungseinheiten wurden so lange wiederholt, bis das Kind in der Lage war, die Unterscheidung schnell und zuverlässig („flüssig“, engl. fluent) zu erbringen.

Die Münze zeigen können, wenn ihr Name genannt wird

Anschließend wurde die Zuordnung der Münzen zu ihren Namen (Name der Münze – Münze) trainiert. Jede Übungseinheit begann mit der Aufforderung „Finde den [Namen der Münze]!“ Bei den ersten Sitzungen lag jeweils nur eine einzige Münze (die Münze, die es „finden“ musste) vor dem Kind auf dem Tisch. Das Kind konnte so natürlich keine Fehler machen (errorless teaching procedure). Für jede richtige Antwort (wenn das Kind die richtige Münze in die Hand nahm und dem Therapeuten übergab) wurde es gelobt und bekam wie oben beschrieben eine Murmel. Sobald dies gut (fluent) gelang, wurde die Aufgabe verändert: Nun lag neben der verlangten Münze immer noch zusätzlich eine zweite Münze auf dem Tisch. Auch jetzt wurde das Kind immer dann gelobt und erhielt eine Murmel, wenn es dem Therapeuten die richtige Münze übergab. Die Übungseinheiten wurden wiederum so lange wiederholt, bis die Unterscheidungsleistung flüssig gelang. Nun wurden nach und nach mehr Münzen auf den Tisch gelegt, bis das Kind auch dann, wenn alle vier Münzsorten auf dem Tisch lagen, die (mit ihrem Namen) gefragte Münze vorzeigen konnte.

Die Münze zeigen können, wenn ihr Wert genannt wird

Anschließend wurde das Training für die Kombination „Wert der Münze – Münze“ in der gleichen Weise wiederholt. Der Therapeut fragte „Finde die [Zahlenwert der Münze]“ und das Kind erhielt Lob und eine Murmel, wenn es die richtige Münze vorzeigte. Auch diese Unterscheidungsleistung wurde so lange trainiert, bis sie flüssig gelang.

Nicht trainierte, letztlich aber doch gelernte Fähigkeiten

Aus der Forschung zum Sprachverhalten ist das Prinzip der „funktionellen Unabhängigkeit“ bekannt. Wenn ein Kind beispielsweise lernt, dass es Milch bekommt, wenn es Durst hat und „Milch!“ sagt (das Wort „Milch“ wird hier als sogenanntes Mand verwendet), dann heißt das noch lange nicht, dass das Kind auch „Milch“ sagt, wenn man ihm Milch zeigt (das Wort „Milch“ wird hier als Tact verwendet). Auch wenn es das Wort Milch sowohl als Mand als auch als Tact verwenden kann, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass es auf die Milchpackung deuten kann, wenn man es fragt, wo auf dem Frühstückstisch die Milch steht. Normaler- und natürlicherweise geschieht das Erlernen dieser Relationen so schnell (und „nebenher“), dass die Eltern nicht bemerken, dass das Kind hier eigentlich mehrere verschiedene Verhaltensweisen jeweils individuell erwerben muss. In Extremfällen (etwa bei einigen geistig behinderten Kindern) müssen – und können! – aber tatsächlich alle Relationen einzeln geübt und erlernt werden. Mehr zum Thema in dem Wikipedia-Artikel zu B. F. Skinners Buch Verbal Behavior.

Bei Maddie und Chris war es nicht erforderlich, auch die anderen Relationen explizit zu trainieren. Bislang hatten sie ja beide nur gelernt, die Münzen zu zeigen, wenn ihnen der Name oder der Wert der Münze genannt wurde. Was sie nicht trainiert hatten, war

  • den Namen der Münze zu sagen, wenn ihnen die Münze in die Hand gegeben wurde.
  • den Wert der Münze zu sagen, wenn ihnen die Münze in die Hand gegeben wurde.
  • den Namen der Münze zu sagen, wenn sie den Wert der Münze hörten (Bsp.: „Ein 25-Cent-Stück nennt man auch wie?“).
  • den Wert der Münze zu sagen, wenn sie den Namen der Münze hörten (Bsp.: „Ein Quarter ist wie viel wert?“).

Diese Fähigkeiten wurden im Lauf der ganzen Untersuchung immer wieder getestet (d. h. die Kinder wurden gefragt, bekamen aber für die richtige Antwort kein Lob oder eine Murmel). Zu Beginn konnten die Kinder diese Fragen kaum beantworten (sie antworteten nicht oder errieten die Antwort). Über die Trainingseinheiten hinweg stieg der Prozentsatz der richtigen Antworten jedoch schnell an. Auch Maddie und Chris konnten also die anderen Relationen auf natürliche Weise, ohne explizites Training erlernen.

Der Erfolg des Trainings hält an

Das Training zog sich über insgesamt 12 (bei Maddie) respektive 18 (bei Chris) Sitzungen hin. Fünf Monate nach dem Ende des Trainings wurde bei Maddie getestet, ob sie noch in der Lage war, die verschiedenen trainierten und nicht-trainierten Unterscheidungsleistungen zu erbringen. Dies gelang ihr zu nahezu 100 %. Zu vermuten ist, dass sie die im Training erlernten Fähigkeiten nun auch nutzbringend im Alltag einsetzen konnte.

Ein aufwändiges Training?

Ein solches Training klingt relativ aufwändig, wenn man bedenkt, dass viele Kinder diese Unterscheidungsleistung ohne oder nur mit wenig explizitem Training erwerben. Jedoch ist dies nicht immer so und bei blinden und hochgradig sehbehinderten Kindern nicht die Regel. Diese müssen das Unterscheiden und Benennen der Münzen oft lange und umständlich lernen. Vor diesem Hintergrund relativiert sich der Aufwand für das beschriebene Training. Zudem ist der Aufwand für einen in den Methoden der Verhaltensanalyse geschulten Therapeuten nicht so groß, wie man denken mag. Üblicherweise dauern solche Sitzungen nur wenige Minuten und sind weder für den Therapeuten noch für das Kind besonders anstrengend. Im Gegensatz zum oft zähen und durch Strafen und negative Verstärkung gekennzeichneten traditionellen Schulunterricht wirkt verhaltensanalytisches Lehren und Lernen spielerisch.

Literatur

Hanney, Nicole M. & Tiger, Jeffrey H. (2012). Teaching coin discrimination to children with visual impairments. Journal of Applied Behavior Analysis, 45(1), 167-172. PDF 336 KB

Miller, M. Ann; Cuvo, Anthony J. & Borakove, Larry S. (1977). Teaching naming of coin values comprehension before production versus production alone. Journal of Applied Behavior Analysis, 10(4), 735–736. PDF 149 KB

Warum stelle ich gerade diese Studie so ausführlich vor?

Diese Studie ist weder besonders groß angelegt, noch vom Ergebnis her sensationell. Es ist einfach ein kleiner Forschungsbericht wie viele andere auch. Warum habe ich sie hier so ausführlich vorgestellt? Zum einem aus persönlichem Interesse: Ich habe über sieben Jahre lang mit (erwachsenen) blinden und sehbehinderten Menschen gearbeitet. Das Thema lässt einen dann nie mehr ganz los. Zum anderen wollte ich anhand dieser Studie einige Prinzipien der verhaltensanalytischen Vorgehensweise illustrieren und auch einen kleinen Einblick in übergeordnete Themen (sprachliches Verhalten, Spracherwerb, funktionelle Unabhängigkeit) geben. Die Studie von Hanney und Tiger erschien im Journal of Applied Behavior Analysis (JABA), das zusammen mit dem Journal of the Experimental Analysis of Behavior (JEAB) zu den wichtigsten Zeitschriften in der Welt der Verhaltensanalyse zählt. Es handelt sich nur um einen (x-beliebigen) aus Tausenden von Artikeln, die seit Jahrzehnten die wissenschaftlichen Grundlagen und die Wirksamkeit der angewandten Verhaltensanalyse dokumentieren.

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Pädagogik, Verhaltensanalyse, Verstärkung