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Jenseits von Schuld und Strafe – Die „Sichtweise der Umstände“

Patrick Friman (2021) arbeitet für „Boys Town“, einer Einrichtung für gefährdete Jugendliche in Nebraska, die von Father Edward Flanagan Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet wurde. Auf Flanagan geht die Grundhaltung dieser Einrichtung zurück, die besagt, dass es auf der Welt keine schlechten Jungen gibt, nur schlechte Umgebungen, schlechte Vorbilder und schlechtes Lehren („There’s no such thing as a bad boy…“). Friman (2021) erläutert diesen Gedanken als die „Sichtweise der Umstände“, die er von der Sichtweise der Schuld abgrenzt. Die Jungen, um die sich Father Flanagan kümmerte, hatten schlechte Dinge getan, aber nicht deshalb, weil sie schlecht waren, sondern weil ihnen schlechte Dinge widerfahren waren und diese schlechten Dinge ihnen beigebracht hatten, sich falsch zu verhalten. Als Konsequenz stellte er sicher, dass den Jungen in seiner Einrichtung viele gute Dinge widerfahren, mit dem Ziel ihnen beizubringen, wie sie sich richtig verhalten können. Diese Sichtweise der Umstände (Circumstances View) ist auch das, was der Verhaltensanalyse in all ihren Ausprägungen zu Grunde liegt.

Verhaltensanalytiker versuchen, die Gründe für ein Verhalten in den Umständen, unter denen es auftritt, zu finden, nicht in der Person. Wir wollen verstehen, warum ein Mensch das tut, was er tut, und gegebenenfalls daraus ableiten, wie man diesem Menschen dabei helfen kann, sich anders zu verhalten – indem man die Umstände, unter denen er sich verhält, verändert. Diese Sichtweise der Umstände wird gelegentlich in Misskredit gebracht, in dem behauptet wird, damit würde schlechtes (z. B. kriminelles) Verhalten entschuldigt. Doch wer so argumentiert, denkt noch immer in den Kategorien einer Kultur der Schuld. In der Kultur der Schuld ist man nicht an einer Lösung der Probleme interessiert, sondern daran, jemanden verantwortlich und schuldig zu machen. Wer sich die Sichtweise der Umstände angeeignet hat, entschuldigt nicht schlechtes Verhalten. Schlechtes (z. B. kriminelles) Verhalten bleibt schlecht. Durch die Sichtweise der Umstände möchte man verstehen, wie es dazu gekommen ist, dass sich die Person so verhalten hat, wie sie sich verhalten hat, und daraus ableiten, was getan werden muss, damit diese Person sich in Zukunft anders verhalten kann. Die Person kann man nicht verändern, man kann aber die Umstände, unter denen sie sich verhält, verändern. Anders ausgedrückt: Verhalten ist eine Funktion der Umstände, unter denen es auftritt.

Dieser Grundgedanke ist der hauptsächliche Unterschied zwischen der Verhaltensanalyse und der traditionellen Psychologie, die (nicht beobachtbare und letztlich nur hypothetische) Faktoren in der Person für das Verhalten verantwortlich macht. Wer die Ursache für das Verhalten in der Person sieht, neigt dazu, auch die Schuld für unangemessenes Verhalten in der Person zu sehen. Die Psychologie selbst hat dafür sogar einen Begriff entwickelt, den „fundamentalen Attributionsfehler“. Dieser Fehler ist vielfach untersucht und tritt mit großer Zuverlässigkeit auf: Wir neigen dazu, die Ursache unseres eigenen Verhaltens in den Umständen und die Ursache des Verhaltens anderer in deren Person zu sehen. Der fundamentale Attributionsfehler ist die Grundlage unserer moralischen (die Person ist böse), charakterlichen (die Person ist faul) oder psychologischen (die Person ist verrückt) Urteile. Durch diese Urteile begründen wir, warum wir Menschen so behandeln, wie wir sie behandeln. In der Regel behandeln wir Menschen, die sich nicht so verhalten, wie wir es gerne hätten, in aversiver Art und Weise.

Der Glaube, dass das Böse nicht im Verhalten oder den Umständen, unter denen es auftritt, liegt, sondern in irgendeinem Merkmal der Person, ist weit verbreitet. Die Sichtweise der Umstände ist eine humane und mitfühlende Alternative zu der schuldorientierten Sichtweise auf Problemverhalten. Schon Skinner hat diese Sichtweise sehr vehement vertreten. In „Jenseits von Freiheit und Würde“ (Skinner, 1971) wendet er diese Sichtweise auf positive, erwünschte Verhaltensweisen an. Das Buch löste heftige Kritik aus, größtenteils, weil die Kritiker nur den Titel, aber nicht den Inhalt gelesen hatten. Skinner wäre, so Friman (2021), erfolgreicher gewesen, hätte er die Sichtweise der Umstände auf problematisches Verhalten angewendet und sein Buch „Jenseits von Schuld und Strafe“ genannt.

Die Sichtweise der Umstände auf problematisches Verhalten sucht die Ursache eines Problems nicht in der Person, sondern in dem, was dieser Person im Lauf ihres Lebens bis zu dem Zeitpunkt, als das Problemverhalten auftrat, widerfahren ist. Die Sichtweise der Umstände macht nicht die Person schuldig, sondern nimmt eine mitfühlende Perspektive ein. Dennoch ist sie rigoros, was das problematische Verhalten angeht: Dieses muss sich trotzdem ändern. Was die Sichtweise der Umstände bewirken kann, illustriert Friman (2021) an der Boulder River School and Hospital (BRSH), einer Einrichtung für Menschen mit Entwicklungsstörungen. In den frühen 1970er Jahren lebten 1200 Personen in dieser Einrichtung. 1974 wurde ein Programm mit dem Ziel eingeführt, die Bewohner zum selbstständigen Leben zu befähigen. Das Programm fand auf Grundlage der Verhaltensanalyse statt. Als die Einrichtung 2016 geschlossen wurde, lebten nur noch 51 Personen in ihr. Viele andere Beispiele ließen sich aufzählen.

Um die Sichtweise der Umstände verständlich zu machen, schildert Friman (2021) ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie müssen zur Arbeit fahren und sind spät dran. An einer Ampel steht vor Ihnen ein Auto. Es wird grün, aber das Auto fährt nicht los. Sie sehen, dass auf dem Fahrersitz des Autos eine Frau sitzt, die nach hinten auf die Rückbank blickt. Sie hat offenkundig nicht mitbekommen, dass die Ampel grün geworden ist. Schließlich wird die Ampel wieder rot. Noch immer blickt die Frau nach hinten auf den Rücksitz. Schließlich wird die Ampel wieder grün und wieder rot, ohne dass sich das Auto bewegt. Da Sie an dem Auto nicht einfach vorbeifahren können, steigen Sie aus und gehen zu dem Fahrzeug vor. Sie klopfen gegen das Fahrerfenster, die Frau reagiert und sieht sie an. Sie hat Tränen in den Augen und sieht verzweifelt und hilflos aus. Auf dem Rücksitz liegt ihr Kleinkind im Kindersitz und sein Gesicht ist blau angelaufen. Unmittelbar verwandeln sich nun Ihr Ärger und Ihre Frustration über die „dumme“ Autofahrerin in Mitgefühl und den Wunsch, ihr zu helfen. Ihre Reaktion gegenüber der Autofahrerin hat sich verändert, weil sie nun die relevanten Umstände des zuvor unverständlichen Verhaltens kennen. Friman (2021) trägt uns auf, daran zu denken, dass es immer ein Kleinkind auf dem Rücksitz gibt. Es gibt immer Umstände, die mit dem problematischen Verhalten funktional zusammenhängen. Betrachten wir das Verhalten in seinem Kontext, verändert sich die Art und Weise wie wir auf das Verhalten reagieren.

Unglücklicherweise hat die Sichtweise der Umstände nur wenige Anhänger, verglichen mit den Anhängern der Alternative (der schuldorientierten Sichtweise). Die meisten und entschiedensten Anhänger dieser Sichtweise sind Verhaltensanalytiker. Milliarden von Menschen aber hängen der Schuldperspektive an, wie man z. B. an unserem Strafrechtssystem erkennen kann, das vor allem auf aversive Maßnahmen (wie Freiheitsstrafen) setzt. Politikerinnen und Politiker setzen darauf, anderen Schuld zu geben, um an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben. Die Schuldperspektive ist kurzfristig für denjenigen, der sie einnimmt, erfolgreich. Die Sichtweise der Umstände ist erst seit kurzem in der Welt. Die Schuldperspektive gibt es seit Anbeginn der Menschheit. Die Sichtweise der Umstände einzunehmen, erfordert mehr intellektuellen Aufwand, als nur nach einem Schuldigen zu suchen. Sie erfordert, funktionale Zusammenhänge erkennen zu können.

Bei einfachem Verhalten von Personen mit nur eingeschränktem Verhaltensrepertoire konnte die Sichtweise der Umstände teilweise Anerkennung finden. Bei komplexerem Verhalten normal intelligenter Menschen herrscht nach wie vor die Schuldperspektive vor. Sie ist populär, weil sie einfacher anzuwenden ist und weil es unmittelbar verstärkend ist, wenn man anderen die Schuld gibt. Wir lernen schon in der frühesten Kindheit, die Schuld an Problemen bei anderen Personen zu sehen und wir lernen, dass Schuld bestraft werden soll. Die Schuldperspektive befriedigt auf einfache Art und Weise unseren Wunsch nach einer ursächlichen Erklärung für ein Problem. Die Schuldperspektive hat einen weiteren Vorteil: Wenn ich anderen die Schuld gebe, vermeide ich, dass der Blick auf mich und meinen Anteil am Problem gerichtet wird. Die Schuldperspektive erlaubt mir, mich moralisch überlegen zu fühlen. Wer die Schuldperspektive einnimmt, wird darin von anderen, insbesondere von Autoritäten, bestärkt. Die meisten Religionen fördern die Schuldperspektive. Man kann auch evolutionäre Wurzeln in der starken Verbreitung der Schuldperspektive sehen. In der Vergangenheit war es besser, schnell einen Schuldigen zu finden und das Problem an diesem fest zu machen, als lange und umständlich nach den wahren Ursachen eines Problems zu suchen.

Auf der anderen Seite stellen sich die Anhänger der Sichtweise von den Umständen oft sehr ungeschickt an. Selbst Verhaltensanalytiker fallen immer wieder in die Perspektive der Schuld zurück. Sie schimpfen auf ihre Klienten, weil sie sich nicht an den Behandlungsplan halten, anstatt zu untersuchen, welche Umstände Einfluss auf das Verhalten ihrer Klienten, sich an Pläne zu halten oder nicht zu halten, haben. Trotzdem werden Klienten als widerständig, verstockt, verantwortungslos usw. bezeichnet. Ebenso nehmen sie die Sichtweise der Umstände oft nicht ein, wenn sie sich mit Menschen auseinandersetzen, die diese Sichtweise nicht teilen. Statt zu überlegen, welche Umstände Gegner der Verhaltensanalyse zu Ihrer Einstellung bringen, sehen sie diese als bedrohlich an und grenzen sich von diesen ab. Eine Sichtweise der Umstände würde beinhalten, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und die eigene Sichtweise den Gegnern leicht verständlich zu präsentieren. Dazu kann auch beitragen, dass man, wenn man mit Personen spricht, die keine Verhaltensanalytiker sind, nicht die eigene, technische Ausdrucksweise verwendet, sondern in die Begriffe der Laiensprache übersetzt.

Auch in der Forschung können Verhaltensanalytiker noch viel tun, um die Sichtweise der Umstände populärer zu machen. Viele Forschungsergebnisse der Verhaltensanalytiker beziehen sich noch auf das Verhalten von Tieren oder Menschen mit Entwicklungsverzögerungen. Es sollte mehr Forschung mit normal intelligenten Erwachsenen geben. Verhaltensanalytiker sollten sich darum bemühen, dass ihre Forschung von Nicht-Verhaltensanalytikern wahrgenommen wird. Was nutzt es, seine Erkenntnisse nur anderen Verhaltensanalytikern kund zu tun? Die bevorzugte Forschungsmethode der Verhaltensanalyse ist das Einzelfallexperiment. Forscher in anderen Disziplinen setzen eher auf Untersuchungen mit großen Stichproben. Um ernst genommen zu werden, empfiehlt es sich, auch deren Forschungsmethoden anzuwenden. In den Fällen, in denen Verhaltensanalytiker mit der Verbreitung ihrer Interventionen erfolgreich waren (z. B. Lovaas, 1987), nutzten sie in der Regel größere, gruppenvergleichende Studien. In den Fällen, in denen sie es nicht taten, trat oft der Fall ein, dass kognitive Psychologen die verhaltensanalytischen Interventionen „kaperten“ und dann z. B. als „kognitive Verhaltenstherapie“ ausgaben (wie dies etwa bei der verhaltensanalytischen Methode der Exposition und Verhaltensverhinderung – exposure and response prevention – geschehen ist). Dabei übernehmen diese kognitiven Psychologen jedoch nicht zugleich auch die Sichtweise der Umstände. Um die Ergebnisse der Verhaltensanalyse populär zu machen, sollten sich Verhaltensanalytiker angewöhnen, nicht nur wissenschaftliche Daten zu berichten, sondern auch Geschichten darüber zu erzählen, wie die verhaltensanalytische Intervention im Einzelfall gewirkt hat. Dieser „narrative Ansatz“ gewinnt zunehmend an Bedeutung, nicht nur in der Verhaltensanalyse. Friman (2021) regt an, dass man für jedes verhaltensanalytische Prinzip mindestens eine überzeugende, leicht verständliche Geschichte parat haben sollte, die dieses Prinzip illustriert.

Problematisches Verhalten führt oft zu emotionalen Reaktionen bei denjenigen, die davon betroffen sind (z. B. Eltern und Lehrer vom problematischen Verhalten eines Schülers). Verhaltensanalytiker sollten sich darum bemühen, diese emotionalen Reaktionen nicht als Versagen der Bezugspersonen zu betrachten, sondern als ein Verhalten, das bestimmte Ursachen hat. Wenn eine Person mit Nachdruck eine Einstellung äußert, mit der man nicht übereinstimmt, sollte man als Verhaltensanalytiker versuchen herauszufinden, welche Umstände die Person dazu bringen, diese Einstellung zu äußern. Friman (2021) erinnert hier auch an Skinners Äußerung, dass „der Organismus immer recht hat“. Wenn eine Person sich nicht so verhält, wie wir das gerne hätten, liegt das nicht an der Person, sondern an uns, unseren Erwartungen und den Umständen, unter denen diese Person sich verhält.

Alle Verhaltensanalytiker, unabhängig davon, welcher Ausrichtung, teilen drei Grundüberzeugungen:

  • Sie schätzen die wissenschaftliche Methode und entscheiden auf der Grundlage von Daten.
  • Verhaltensanalyse ist ein Forschungsgebiet, dessen letztlicher Zweck darin besteht, aus der Welt einen besseren Ort zu machen. Verhaltensanalytiker wollen die Welt, also die Umstände, unter denen sich Menschen verhalten, so verändern, dass sie weniger von aversiven Ereignissen bestimmt ist.
  • Alle Verhaltensanalytiker teilen die Sichtweise der Umstände und sind mögliche Quellen dafür, diese Sichtweise zu verbreiten.

Literatur

Friman, P. C. (2021, Feb 11). There is no such thing as a bad boy: The circumstances view of problem behavior. Journal of Applied Behavior Analysis. https://doi.org/https://doi.org/10.1002/jaba.816

Lovaas, O. I. (1987, Feb). Behavioral treatment and normal educational and intellectual functioning in young autistic children. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 55(1), 3-9. https://doi.org/10.1037/0022-006X.55.1.3

Skinner, B. F. (1971). Beyond Freedom and Dignity. Knopf.

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Lehren und Lernen

Zu den verschiedenen verhaltensanalytisch basierten Lehrmethoden zählen u.a. der programmierte Unterricht, der Präzisionsunterricht (Precision Teaching), die direkte Instruktion (Direct Instruction) und die Methode des Personalized System of Instruction (PSI).

Programmierter Unterricht

Der Programmierte Unterricht ist die älteste und fundamentalste verhaltensanalytische Lehrmethode (vgl. Skinner, 1971). Programmierter Unterricht beinhaltet:

  • Das Niederschreiben der Antwort durch den Lernenden (oder eine vergleichbare Aktivität).
  • Die unmittelbare Rückmeldung über den Erfolg.
  • Den Fortschritt in kleinen Schritten.

Diese drei Elemente sind notwendig, wenn wir von programmiertem Unterricht sprechen wollen. Das Niederschreiben der Antwort ist notwendig, da es ein (offenes) Verhalten des Lernenden darstellt. Nur ein beobachtbares Verhalten kann auch verstärkt werden. Aus dem selben Grunde ist es sinnlos, eine Seite im Lehrbuch nur immer wieder „anzusehen“. – Nur wenn ich mich aktiv mit dem Inhalt des Buches auseinandersetze, lerne ich wirklich. Diese pädagogische Binsenweisheit hat ihren Ursprung darin, dass nur Verhalten verstärkt werden kann. Was vom Lernenden in der Prüfung verlangt wird, ist ja nicht, ein Lehrbuch anzusehen (bzw. zu lesen) – das Verhalten, das er während des „Lernens“ eingeübt hat -, sondern, den Inhalt des Lehrbuchs mündlich oder schriftlich wiederzugeben. Das sollte er üben.

Die unmittelbare Rückmeldung ist nötig, da Verstärker um so besser wirken, je schneller sie auf das Verhalten folgen. Wenn ich eine Woche warten muss, bis ich erfahre, dass meine Hausaufgaben richtig sind, dann sind die Häkchen und das Lob des Lehrers kein sehr wirksamer Verstärker für mein Verhalten von vor einer Woche (die Hausaufgaben richtig gemacht zu haben).

Der Fortschritt in kleinen Schritten macht es wahrscheinlich, dass die Aktivitäten des Lernenden möglichst immer verstärkt werden (bei der Rückmeldung über den Erfolg). Wenn der Lehrende zu schnell voranschreitet, wird das Verhalten des Lernende nur immer wieder bestraft bzw. extingiert (denn er kann nicht das erwünschte Verhalten zeigen). Idealerweise gibt der Lernende selbst das Tempo des Lehrens vor. Der Lernende sollte immer oder fast immer für eine richtige Antwort gelobt werden können. Der Lehrer muss hier seine Erwartungen darüber „was der Schüler eigentlich können müsste“ zurückstellen und sich im Tempo den Fortschritten des Schülers anpassen. Extinktion oder Bestrafung (im Falle, der Lehrer schreitet zu schnell voran) würde nur zu einer Abnahme der Lern-Aktivitäten des Lernenden führen. Denn Verhalten, das nicht verstärkt wird, nimmt im Laufe der Zeit in seiner Häufigkeit ab.

Präzisionsunterricht

Präzisionsunterricht und direkte Instruktion sind die am besten überprüften und erfolgreichsten Lehrmethoden, die je in den Schulen englischsprachiger Länder entwickelt wurden. Um so beunruhigender ist es, dass diese Ansätze so gut wie nicht angewandt werden, zumindest von staatlicher Seite aus. Amerika, so Binder und Watkins (1990), verfügt über die weltweit besten Lehrmethoden, aber es ignoriert sie fast völlig. In Deutschland sind sie gänzlich unbekannt.

Der Präzisionsunterricht entstand aus der Erkenntnis heraus, dass programmierter Unterricht nur dann erfolgreich ist, wenn er von der exakten Messung des Lernerfolges begleitet wird. Ein Grund dafür, warum in den sechziger Jahren der programmierte Unterricht zwar im Labor äußerst erfolgreich war, in der Praxis aber nach anfänglicher Euphorie wieder fallen gelassen wurde, lag darin, dass die Praktiker diesen nützlichen Rahmen aus methodisch sauberen Arbeiten und exakten Messungen zugunsten einer schnellen und unwissenschaftlichen Umsetzung in die Praxis aufgaben.

Ogden Lindsey (1990), der Begründer des Präzisionsunterrichtes, wand sich dagegen von einer vorschnellen Umsetzung der Ergebnisse aus dem Labor in rezeptartige Ratschläge für Lehrer ab und betonte die Notwendigkeit des exakten Messens. Die Hauptpunkte seines Ansatzes waren die Evaluation und ständige Revision von Maßnahmen. Dabei sollte man folgende Punkte beachten:

  • Beschreibe das problematische und das zu erreichenden Zielverhalten behavioral (auf konkretes Verhalten bezogen)
  • Zähle oder messe das Verhalten (z.B. mit einer Stoppuhr)
  • Trage es jeden Tag in eine Tabelle ein
  • Versuche es immer aufs neue, wenn die ersten Maßnahmen keinen Erfolg brachten

Um solcherart den Lehrern (und den Schülern) die Wissenschaft in ihre Hände zu geben, entwickelte er eine besondere Art der Tabelle, die sogenannte „Standard Celeration Chart“ – eine sechsteilige, halb-logarithmische Tabelle, in die jeden Tag das Ergebnis der Messung (die Anzahl oder Dauer des Verhaltens) eingetragen werden soll. Die halblogarithmische Darstellung ermöglicht es, den Fortschritt oder die Abnahme eines Verhaltens direkter zu beobachten als das in einer normalen Tabelle der Fall ist. Daher kommt auch der Begriff „Celeration“ („Chart“ bedeutet soviel wie Tabelle): Es steht für „acceleration“ (Beschleunigung) oder „deceleration“ (Verlangsamung) des Verhaltens Man erhält so echte geradlinige Trendangaben, nicht die bekannten „Lernkurven“.

Der Hintergrund des Präzisionsunterrichts ist, dass der „Lerner immer Recht hat“: Er verhält sich auf gesetzmäßige Art und Weise unter bestimmten Umweltbedingungen. Wenn er sich in einer unerwünschten Art und Weise verhält, ist es die Aufgabe des Lehrers, diese Variablen zu identifizieren und zu verändern, bis das erwünschte Ergebnis eintritt. Der (ebenfalls auf Lindsey zurückgehende) „dead-man-test“ (wenn es ein Toter auch tun kann, dann ist es kein Verhalten) hilft ihnen dabei, sich auf zähl- und messbares Verhalten zu konzentrieren – und sich nicht solche Ziele zu setzen wie „Schüler sitzt still am Platz“.

Die Forschung zum Präzisionsunterricht zeigt, dass schon kurze Messungen jeden Tag (z.B. eine Minute) ausreichen. Als besonders erfolgreich erwiesen sich dabei Zielverhaltensweisen, die sich in Häufigkeiten angeben lassen.

Der Präzisionsunterricht hat sich in zahlreichen Untersuchungen (vgl. bei Binder und Watkins, 1990) als erfolgreich und anderen, nicht-verhaltensanalytischen Lehrmethoden überlegen erwiesen. Zudem ist er wenig zeitaufwendig und kostengünstig durchzuführen.

Kubina und Morrison (2000) erwähnen zwei erfolgreiche Modelle der Anwendung von Präzisionsunterricht in einer Institution. In der Sascajawea Grundschule verbesserten sich die Schüler nach drei Jahren um 20 bis 40 % in ihren Leistungen. Der zeitliche Aufwand für den Präzisionsunterricht belief sich dabei lediglich auf 20 bis 30 Minuten am Tag. Die Morningside Academy befasst sich vor allem mit so genannten lernbehinderten Kindern oder solchen mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, ADS (Johnson & Layng, 1994). Die Schule ist privat und verspricht, dass sich die Schüler in ersten Schuljahr um zwei Notenstufen verbessern und dass sich die Aufmerksamkeitsspanne von einer bis drei Minuten auf 20 oder mehr Minuten erhöhen wird – anderenfalls erhalten die Eltern das Geld zurück. Das sind stolze Ziele und die Morningside Academy muss zur Zeit noch gelegentlich Geld zurückzahlen, da sie nicht immer ihre Garantie einhalten kann.

In den Vereinigten Staaten gibt es mittlerweile auch computerisierte Lernprogramme, die auf den Prinzipien des Präzisionsunterrichts aufbauen.

Direkte Instruktion

Das Ziel der direkten Instruktion (vgl. Becker, 1994) ist, die Zeit, die der Lerner wirklich lernt, zu maximieren. Hierzu werden Lehrmaterialien entwickelt, deren Ziel es ist, einen „Prototyp“ zu entwickeln. Die Methode des Prototyps verwendet die geringst mögliche Anzahl an Beispielen, die zum größtmöglichen Lernerfolg führt.

Die direkte Instruktion versucht also, Generalisation beim Lerner herbeizuführen, indem es ihn mit Beispielen und Nicht-Beispielen für des zu lernende Prinzip konfrontiert. Um z.B. das Konzept „stimmhafter Laut“ zu vermitteln, werden Beispiele für Wörter mit stimmhaften und für Wörter ohne stimmhaften Laut vorgegeben. Dabei arbeitet sich das Lehrprogramm von einfachen zu verknüpften und komplexen Beispielen vor. Die Abfolge dabei ist sehr stark strukturiert und wird durch bestimmte Prinzipien bestimmt:

Bei der Präsentation von Beispielen soll die vom Lehrer verwendete Darstellung (z.B. die Wortwahl) möglichst gleich sein für Beispiele und Nicht-Beispiele. Dies lenkt die Aufmerksamkeit des Lerners auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede. So sollten z.B. die Wörter, die Beispiele und Nicht-Beispiele für „stimmhafte Laute“ darstellen, möglichst gleich lauten – bis auf den Unterschied, das sie einmal stimmhaft und einmal nicht-stimmhafte Laute enthalten. Beispiele und Nicht-Beispiele sollten möglichst miteinander kontrastiert werden. Dadurch, dass der Lehrer die Unterschiede anzeigt, erleichtert er das Erkennen des wesentlichen bzw. er zeigt die durch die Diskrimination gesetzten Grenzen des Konzepts auf. Sodann sollen auch Beispiel für das Konzept, die sich möglichst unterscheiden, vorgegeben werden, um so dem Lerner zu zeigen, dass sie sich alle in Bezug auf das Konzept gleichen. Zuletzt sollen die Lerner mit Beispielen und Nicht-Beispielen konfrontiert werden und getestet werden, ob sie das Konzept gelernt haben.

Der strenge Rahmen, den die direkte Instruktion vorgibt, wird unter anderem dadurch gesetzt, dass der Lehrer an bestimmte Skripts gebunden ist, die genau vorschreiben, was er sagt. Wenn er nicht lernt, dann ist das nicht die Schuld des Schülers, sondern es liegt an der Art des Lehrens, die bei einem vorgegebenen Skript eher revidiert werden kann als bei „freiem Vortrag“.

Heward (1994) nennt drei einfach durchzuführende und empirisch abgesicherte Methoden, die die Beteiligung der Schüler am Unterricht erhöhen und so die Effizienz des Lernens verbessern sollen.

Die Antworten der Schüler sollen gleichzeitig gegeben werden. Dieses Antworten im Chor mag am Anfang befremdlich scheinen, es ermöglicht aber, dass der Schüler zum einen ein Verhalten zeigt, zum anderen aber, dass er nicht durch eine falsche Antwort blamiert wird (was einen Strafreiz darstellt). Eine Einzelabfrage hat zudem den Nachteil, dass der Lehrer seine Aufmerksamkeit nur einem Schüler zuwendet. Während er sich mit diesem Schüler beschäftigt, können die anderen Schüler nichts lernen. Das Antworten im Chor funktioniert natürlich am Besten bei einer relativ kleine Gruppengröße von idealerweise nur 5-10 Schülern. Damit die Antworten gleichzeitig sind, sollten sie auf ein bestimmtes Signal hin erfolgen, z.B. ein Handzeichen des Lehrers. Natürlich sollte der Lehrer auch nicht vergessen, den Schülern Rückmeldung über die richtige Antwort zu geben.

Antwortkarten zum Hochhalten gibt es entweder in vorgedruckter Form oder zum Beschreiben. Vorgefertigte Karten können z.B. rot (für „Nein“) und grün (für „Ja“) sein oder sie können bestimmte Begriffe anzeigen. Z.B. könnten die Schüler in einer Stunde über die verschiedenen Verstärkerpläne Karten mit den Abkürzungen der verschiedenen Pläne bekommen, die sie bei der Frage „Welcher Verstärkerplan liegt hier vor?“ hochhalten können. Für komplexere oder weniger häufig vorkommende Antworten empfehlen sich beschreibbare Karten, z.B. aus laminierten Karton, der mit nicht-permanenten Eddingstiften beschrieben werden sollen.

Vom Lehrer vorbereitete Handouts, z.B. mit Lückentexten sind ebenfalls hilfreich. Z.B. kann der Lehrer einfach das Skript seiner Stunde verteilen, jedoch mit Leerstellen statt der Schlüsselbegriffe.

Alle drei Techniken können zugleich angewandt werden und sie erhöhen nachweislich die Zeit, die der Schüler mit aufgabenbezogenem Verhalten verbringt.

Die Methode der direkten Instruktion enthält auch Vorgaben, wie mit Fehlern umgegangen werden soll. Jeder Fehler erfordert ein besonderes Vorgehen, z.B. das Zurückgehen auf eine frühere Ebene oder die Ausdifferenzierung des Programms (so dass der Fortschritt in kleinen Schritten sichergestellt ist).

Im Lauf des Lernens durchläuft die Lehrmethode einige Änderungen. So wird zunächst immer ein offenes Verhalten als Antwort des Lernenden verlangt, später nur in bestimmten Abschnitten des Lernprozesses. Dies soll die Kontrolle des Lernerfolges vom Lehrer auf den Schüler verlagern. Die Beispiele sollten nach und nach komplexer werden, so dass die Schüler lernen, auf das wesentliche zu achten. Unmittelbare Rückmeldung über den Erfolg soll nach und nach durch verzögerte Rückmeldung ersetzt werden, um die Lernsituation an alltägliche Situationen anzugleichen.

Personalized System of Instruction (PSI)

Das Personalized System of Instruction (PSI, etwa: personalisiertes Unterrichtssystem) ist (Grant & Spencer, 2003) eine der wenigen Unterrichtsmethoden, die empirisch ihre Überlegenheit gegenüber traditionellen Unterrichtsmethoden nachweisen konnten. Es wird auch, nach seinem Erstentwickler, der „Keller-Plan“ genannt (Keller & Sherman, 1974). Seit den späten sechziger Jahren wird PSI von vielen Lehrern angewandt mit nicht nur augenscheinlichem, sondern auch empirisch belegtem Erfolg (vgl. z.B. Kulik et al., 1979). Dennoch ist es bei der Masse der Lehrkräfte und auch der Wissenschaftler und der politisch Verantwortlichen unbekannt. In besonderem Maße gilt das natürlich für Deutschland.

PSI definiert sich durch fünf wesentliche Merkmale:

Es arbeitet weniger mit dem klassischen Methode des Vortrags sondern erfordert ein schriftliches Arbeiten des Lernenden. Hierzu – dies dürfte einer der Gründe sein, warum viele Lehrkräfte davor zurückschrecken, PSI zu implementieren – muss zunächst ein detaillierter Studienführer erstellt werden, in dem detailliert beschrieben wird, wie sich der Lerner mit dem Material auseinandersetzen soll. Weiter müssen Übungen, Fragen, Erläuterungen und Tests entwickelt werden. Hinzu kommt eine Art Lernermanual, in dem die Rahmenbedingungen des Kurses dargelegt werden.

PSI gliedert den Lehrstoff in Einheiten. Der Lerner muss immer erst eine Einheit beherrschen, ehe er zur nächsten Einheit voranschreitet. Dies wird in der Regel in einem Test überprüft, bei dem der Teilnehmer mindestens 80 % bis 90 % der Fragen richtig lösen können muss. Der Lerner darf den Test mehrmals absolvieren. Es geht hier nicht um eine Selektion, sondern um die Sicherheit, dass der Lerner alle Inhalte der Einheit gelernt hat.

Dies bedingt das nächste Merkmal vom PSI: Der Lerner selbst bestimmt das Tempo. Einige Lerner brauchen länger, andere kürzer, um eine Einheit zu meistern. Auch der Kurs als Ganzes kann unterschiedlich schnell durchlaufen werden.

Der Lerner kann beim PSI auf Tutoren zurückgreifen, wenn er Unterstützung benötigt. Diese Tutoren sind entweder andere Schüler (z.T. solche, die in dem Kurs bereits weiter fortgeschritten sind, z.T. solche, die den Kurs schon vor längerem absolviert haben) oder Externe.

Zuletzt gibt es auch beim PSI Vorlesungen und Demonstrationen. Sie dienen aber weniger der Vermittlung von Wissen als der Motivation der Teilnehmer. Studien zeigen aber, dass diese Komponente nur wenig zum Erfolg des PSI beiträgt. PSI ist ein System, das von den Daten bestimmt wird, nicht von Dogmen. Daher nehmen mehr und mehr PSI-Anwender von Vorlesungen und Demonstrationen Abstand.

Die Forschung zum PSI zeigt, dass Schüler, die mit PSI arbeiten, mehr lernen und die Arbeit mit PSI als angenehmer einschätzen als konventionelle Formen des Unterrichts (wie z.B. Frontalunterricht oder Frontal- und Gruppenunterricht). Keiner anderen Lehrmethode (abgesehen von Direct Instruction und Precision Teaching) gelang bislang der Nachweis, effektiver zu sein als traditioneller Unterricht.

Warum aber wird PSI angesichts der empirischen Befunde nicht viel häufiger eingesetzt? Die Erziehungswissenschaften scheinen noch zu den „unreifen“ Disziplinen zu zählen, indem hier mehr die Aussagen von Autoritäten und Ideologien gewertet werden als Daten, empirische Tests, Untersuchungen mit Kontrollgruppen usw.

PSI ist auch dazu geeignet, komplexe Inhalte zu vermitteln. Solange sich das Resultat des Lernens in beobachtbarem Verhalten bemerkbar macht, ist der Lernprozess für PSI erschließbar (z.B. auch kritisches Denken, vgl. Ross & Semb, 1981). Insbesondere im Kontext des Fernunterrichts kann PSI seine Vorteile ausspielen (z.B. Brothen et al., 2002).

Wenn diese Methoden so wirksam sind, warum werden sie dann nicht häufiger eingesetzt?

Den Reformbemühungen seit dem 2. Weltkrieg ist es zu verdanken, dass der Unterschied in den Schulleistungen von Kindern aus Minderheitengruppen und anderen Kindern, geringer wurde. Jedoch stagniert dieser Prozess, ja in einigen Bereichen lässt sich sogar eine rückläufige Tendenz, hin zu wieder größeren Unterschieden, wahrnehmen (vgl. Kim & Axelrod, 2005 bzw. die PISA-Studie für Deutschland).

In den Vereinigten Staaten wurde 1967 eine groß angelegte Studie gestartet, deren Zweck es war, geeignete Methoden zu finden, um diese Lücke zu schließen: Project Follow Through. Es handelt sich um die größte, je durchgeführte Studie zum Vergleich der Effektivität verschiedener Unterrichtskonzepte. 700 000 Schüler in 170 Gemeinden der USA nahmen daran teil. Es handelte sich um eine quasi-experimentelle Studie: Die Eltern der Schüler an den verschiedenen Schulen konnten entscheiden, welches von 22 zur Wahl stehenden Modellen an ihrer Schule umgesetzt werden sollte. Die Schule wurde dann mit einer anderen Schule verglichen, in der das Modell nicht eingeführt wurde, die aber ansonsten in allen denkbaren Parametern der Experimentalschule entsprach. Letztlich wurden so 12 verschiedene Modelle getestet, darunter vier kind-zentrierte Pädagogik-Konzepte und die direkte Instruktion (Direct instruction), welche von vielen Eltern bevorzugt wurde und allein in 18 Schuldistrikten getestet wurde.

1977 wurden die Ergebnisse verglichen. Zum Einsatz kamen dabei neben verschiedenen Schulleistungs- und Intelligenztests auch Erhebungsverfahren für die emotionale Reife und die soziale Kompetenz der Schüler. Dabei zeigte sich, dass die direkte Instruktion in allen Bereichen (auch den emotionalen und sozialen) den anderen Konzepten und natürlich auch dem traditionellen Unterricht deutlich überlegen war.

Dies führte nun aber nicht dazu, dass die direkte Instruktion in vielen Schulen begeistert aufgenommen wurde. Noch bevor die Ergebnisse der Studie offiziell veröffentlicht wurden, meldete sich ein Sponsor der Studie, die Ford Foundation, mit einer Kritik zu Wort, die dazu führte, dass das Erziehungsministerium eine Blanko-Empfehlung für alle getesteten Verfahren herausgab (Watkins, 1995). Ein Kritiker (Glass, 1993) von Project Follow Through gab gar an, dass Lehrer keine statistischen Ergebnisse von Experimenten bräuchten, um entscheiden zu können, wie sie Kinder am besten unterrichten sollen: Eine Absage an wissenschaftliches Vorgehensweisen.

Was war geschehen? Die direkte Instruktion verlangt vom Lehrer, sich an ein Schema zu halten und seinen Erfolg ständig zu kontrollieren. Zu Beginn ist das erst einmal mehr Arbeit, im Endeffekt aber rechtfertigen die Erfolge den Aufwand. Der Hintergrund der Ablehnung der direkten Instruktion ist wohl eine fast dogmatische Fixierung der maßgeblichen Personen auf den kind-zentrierten Ansatz. Dieser Ansatz setzt darauf, dass der Unterricht auf die intrinsische Motivation des Kindes ausgerichtet sein muss, der Lehrer gibt dabei wenig Struktur vor (eine Art „Laissez faire“-Haltung der Pädagogik). Für einige Kinder ist das von Vorteil. – Sie werden so wenigstens nicht durch unfähige Lehrer behindert. Für schwächere Schüler aber ist das fatal: Schüler, die sich nicht selbst unterrichten können, bleiben sich selbst überlassen. Das Fehlen klarer Anweisungen führt dazu, dass das Kind gewissermaßen erraten muss, was von ihm verlangt wird. Kind-zentrierte Unterrichtskonzepte verlassen sich so sehr auf die Intuition des Kinder, dass sie letztendlich denjenigen Schülern schaden, deren Intuitionen nicht mit den Normen der Schule und der Gesellschaft übereinstimmen. Sie schieben die Verantwortung dafür, dass etwas gelernt wird vom Lehrer (wie im traditionellen Unterricht) auf den Schüler.

Die direkte Instruktion dagegen sucht die Verantwortung, wenn überhaupt, im Unterricht selbst. Wenn das Kind nicht lernt, muss man überlegen, wie man den Unterricht so verändert, dass es lernt: Direkte Instruktion ist flexibel und orientiert sich an den Bedürfnissen des Schülers. Das Konzept vermittelt nicht nur basales Wissen und besteht nicht im stupiden Auswendiglernen, im Gegenteil: Das Ziel von direkter Instruktion ist es, den Kindern generalisierte Konzepte und Fähigkeiten zu vermitteln. Zudem ist es so gestaltet, dass die Führung durch den Lehrer nach und nach zurück gefahren wird und der Schüler die Kompetenz erwirbt, selbständig zu lernen.

Einige Studien prüften der Erfolg der in Follow Through eingeführten Unterrichtskonzepte über den Projektzeitraum hinaus. Die durch die direkte Instruktion erzielten Erfolge konnten generell aufrechterhalten werden: Die Schüler, die so unterrichtet worden waren, konnten öfter einen High-School-Abschluss erwerben und wurden öfter an Universitäten zum Studium zugelassen (obwohl sie im Schnitt aus ärmeren Familien stammten als die Kinder, die in Schulen nach dem kind-zentrierten Konzept unterrichtet worden waren). Andere Studien bestätigten den Erfolg der direkten Instruktion außerhalb des Projektes Follow Through. Adams und Engelmann (1996) wiesen in einem Überblick über 34 verschieden Studien nach, dass direkte Instruktion in 87 % aller Fälle den anderen Konzepten überlegen war.

Dennoch wird die direkte Instruktion oft diffamiert als „entmenschlichend“, „roboterhaft“ und „starr“. Eine der von Kritikern der direkten Instruktion am meisten zitierten Studien ist Schweinhart, Weikart und Larner (1986). Die Autoren zeigten hier, dass Kinder, die mit direkter Instruktion unterrichtet worden waren, anderen Schülern zwar in den Leistungen voraus waren, aber mehr emotionale Probleme hatten. Schweinhart und Kollegen (1986) führten dass auf den „autoritären“, „direktiven“ Charakter der direkten Instruktion zurück. Das Programm zur direkten Instruktion, das in dieser Studie verwendet wurde, folgte aber nur grob den Prinzipien von direct instruction. Mills, Cole, Jenkins und Dale (2002) wiederholten die Studie von Schweinhart und anderen (1986), wobei sie die häufigsten Kritikpunkte an dieser ausräumten (zu kleine Stichprobe, keine Parallelisierung der Gruppen u.a.m.). Sie konnten die Ergebnisse von Schweinhart und anderen (1986) nicht replizieren. Tatsächlich scheint der wahre Grund für Schweinharts Ergebnisse der Umstand zu sein, dass es in der Gruppe, die Unterricht mit direkter Instruktion erhielt, deutlich mehr Jungen als Mädchen gab. Trotz dieses eindeutigen Scheiterns einer Replikation wird die Studie von Schweinhart und anderen (1986) weiter fleißig zitiert. Der wahre Grund für die Ablehnung von direct instruction, so Kim und Axelrod (2005), dürfte in der Romantisierung der Kindheit liegen, die hinter all den kind-zentrierten Ansätzen steckt. Die Angst vor der direkten Instruktion ist irrational und ideologisch motiviert, nicht in objektiven Daten begründet. Auch eine neuere, von Gegnern ins Feld geführte Studie von Ryder, Sekulski und Silberg (2003) muss aus den selben Gründen wie die Studie von Schweinhart und anderen (1986) zurück gewiesen werden (so Manzo & Park, 2004).

Nur 150 Schulen in den USA nutzen ein Programm der direkten Instruktion. Nicht zuletzt liegt das an der Art der Lehrerausbildung (nicht nur in den USA, auch in Deutschland). Diese Ausbildungen bilden nicht aus, sondern nehmen bestenfalls die Lehrer für den kind-zentrierten Ansatz ein. Pädagogik, so Kim und Axelrod (2005) bleibt so eine unreife Disziplin, eine Geisteswissenschaft ohne empirische Basis.

Literatur

Adams, G. L. & Engelmann, S. (1996). Research on Direct Instruction: 25 Years beyond DISTAR. Seattle, WA: Educational Achievement Systems.
Becker, W.C. (1984). Direct Instruction: A twenty-year review. Paper presented at the XVI annual Banff International Conference on Behavioral Science.
Binder, C. & Watkins, C.L. (1990). Precision Teaching and Direct Instruction. Measurably superior instructional technology in schools. Performance Improvement Quarterly, 3 (4), 74-96.
Brothen, T.; Wambach, C. & Hansen, G. (2002). Accomodatin students with disabilities. PSI as an example of universal instructional design. Teaching of Psychology, 29, 239-240.
Glass, G. (1993, August-September). Research news and comment – a conversation about educational research priorities: A message to Riley. Educational Researcher, 22(6), 17 – 21.
Grant, L.K. & Spencer, R.E. (2003). The Personalized System of Instruction. Review and applications to distance education. International Review of Research in Open and Distance Learning, 4(2).
Heward, W.L. (1994). Three „low tech“ strategies for increasing the frequency of active student response during group instruction. In R. Gardner, D. Sainato, J. Cooper, T. Heron, W. Heward, J. Eshleman, & T. Grossi (Eds.), Behavior analysis in education. Focus on measurably superior instruction (pp.283-320). Belmont, CA: Brooks-Cole.
Keller, F.S. & Sherman, J.G. (1974). The Keller Plan Handbook. Menlo Park, CA: W.A. Benjamin.
Kim, T. & Axelrod, S. (2005). Direct instruction: An educators‘ guide and a plea for action. The Behavior Analyst Today, 6, 111 – 120.
Kubina, R.M. & Morrison, R.S. (2000). Fluency in education. Behavior and Social Issues, 10, 83-99.
Kulik, J.; Kulik, C.-L.C. & Cohen, P.A. (1979). A meta-analysis of outcome studies of Keller’s personalized system of instruction. American Psychologist, 34, 307-318.
Lindsley, O. (1990). Precision Teaching. By children for teachers. Teaching Exceptional Children, 22 (3), 10-15.
Manzo, K. K. & Park, J. (2004, January 1). Study challenges direct reading method. Education Week, 23(20), 3.
Mills, P. E.; Cole, K. N.; Jenkins, J. R. & Dale, P. S. (2002). Early exposure to Direct Instruction and subsequent juvenile delinquency : a prospective examination. Exceptional Children, 69, 85 – 97.
Ross, G.A. & Semb, G. (1981). Philosophy can teach critical thinking skills. Teaching Philosophy, 4, 56-63.
Ryder, R.; Sekulski, J. L. & Silber, A. (2003). Results of Direct Instruction reading program evaluation longitudinal results: first through third grade 2000-03.
Schweinhart, L. J.; Weikart, D. P. & Larner, M. B. (1986). Consequences of three preschool curriculum models through age fifteen. Early Childhood Research Quarterly, 1(1), 15 – 46.
Skinner, B.F. (1971). Erziehung als Verhaltensformung. Grundlagen einer Technologie des Lehrens. München: E. Keimer.
Watkins, C. L. (1995). Follow Through: Why didn’t we. Effective School Practices, 15(1), 5.

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Direkte Instruktion

Den Reformbemühungen seit dem 2. Weltkrieg ist es zu verdanken, dass der Unterschied in den Schulleistungen von Kindern aus Minderheitengruppen und anderen Kindern, geringer wurde. Jedoch stagniert dieser Prozess, ja in einigen Bereichen lässt sich sogar eine rückläufige Tendenz, hin zu wieder größeren Unterschieden, wahrnehmen (vgl. Kim & Axelrod, 2005 bzw. die PISA-Studie für Deutschland).

In den Vereinigten Staaten wurde 1967 eine groß angelegte Studie gestartet, deren Zweck es war, geeignete Methoden zu finden, um diese Lücke zu schließen: „Project Follow Through“. Es handelt sich um die größte, je durchgeführte Studie zum Vergleich der Effektivität verschiedener Unterrichtskonzepte. 700 000 Schüler in 170 Gemeinden der USA nahmen daran teil. Es handelte sich um eine quasi-experimentelle Studie: Die Eltern der Schüler an den verschiedenen Schulen konnten entscheiden, welches von 22 zur Wahl stehenden Modellen an ihrer Schule umgesetzt werden sollte. Die Schule wurde dann mit einer anderen Schule verglichen, in der das Modell nicht eingeführt wurde, die aber ansonsten in allen denkbaren Parametern der Experimentalschule entsprach. Letztlich wurden so 12 verschiedene Modelle getestet, darunter vier kind-zentrierte Pädagogik-Konzepte und die direkte Instruktion (direct instruction, DI), welche von vielen Eltern bevorzugt wurde und allein in 18 Schuldistrikten getestet wurde.

1977 wurden die Ergebnisse verglichen. Zum Einsatz kamen dabei neben verschiedenen Schulleistungs- und Intelligenztests auch Erhebungsverfahren für die emotionale Reife und die soziale Kompetenz der Schüler. Dabei zeigte sich, dass die direkte Instruktion in allen Bereichen (auch den emotionalen und sozialen) den anderen Konzepten und natürlich auch dem traditionellen Unterricht deutlich überlegen war.

Dies führte nun aber nicht dazu, dass die direkte Instruktion in vielen Schulen begeistert aufgenommen wurde. Noch bevor die Ergebnisse der Studie offiziell veröffentlicht wurden, meldete sich ein Sponsor der Studie, die Ford Foundation, mit einer Kritik zu Wort, die dazu führte, dass das Erziehungsministerium eine Blanko-Empfehlung für alle getesteten Verfahren herausgab (Watkins, 1995). Ein Kritiker (Glass, 1993) von Project Follow Through gab gar an, dass Lehrer keine statistischen Ergebnisse von Experimenten bräuchten, um entscheiden zu können, wie sie Kinder am besten unterrichten sollen: Eine Absage an wissenschaftliches Vorgehensweisen.

Was war geschehen? Die direkte Instruktion verlangt vom Lehrer, sich an ein Schema zu halten und seinen Erfolg ständig zu kontrollieren. Zu Beginn ist das erst einmal mehr Arbeit, im Endeffekt aber rechtfertigen die Erfolge den Aufwand. Der Hintergrund der Ablehnung der direkten Instruktion ist wohl eine fast dogmatische Fixierung der maßgeblichen Personen auf den kind-zentrierten Ansatz. Dieser Ansatz setzt darauf, dass der Unterricht auf die intrinsische Motivation des Kindes ausgerichtet sein muss, der Lehrer gibt dabei wenig Struktur vor (eine Art „Laissez faire“-Haltung der Pädagogik). Für einige Kinder ist das von Vorteil. – Sie werden so wenigstens nicht durch unfähige Lehrer behindert. Für schwächere Schüler aber ist das fatal: Schüler, die sich nicht selbst unterrichten können, bleiben sich selbst überlassen. Das Fehlen klarer Anweisungen führt dazu, dass das Kind gewissermaßen erraten muss, was von ihm verlangt wird. Kind-zentrierte Unterrichtskonzepte verlassen sich so sehr auf die Intuition des Kinder, dass sie letztendlich denjenigen Schülern schaden, deren Intuitionen nicht mit den Normen der Schule und der Gesellschaft übereinstimmen. Sie schieben die Verantwortung dafür, dass etwas gelernt wird vom Lehrer (wie im traditionellen Unterricht) auf den Schüler.

Die direkte Instruktion dagegen sucht die Verantwortung, wenn überhaupt, im Unterricht selbst. Wenn das Kind nicht lernt, muss man überlegen, wie man den Unterricht so verändert, dass es lernt: Direkte Instruktion ist flexibel und orientiert sich an den Bedürfnissen des Schülers. Das Konzept vermittelt nicht nur basales Wissen und besteht nicht im stupiden Auswendiglernen, im Gegenteil: Das Ziel von DI ist es, den Kindern generalisierte Konzepte und Fähigkeiten zu vermitteln. Zudem ist es so gestaltet, dass die Führung durch den Lehrer nach und nach zurückgefahren wird und der Schüler die Kompetenz erwirbt, selbständig zu lernen.

Einige Studien prüften der Erfolg der in Follow Through eingeführten Unterrichtskonzepte über den Projektzeitraum hinaus. Die durch DI erzielten Erfolge konnten generell aufrechterhalten werden: Die Schüler, die so unterrichtet worden waren, konnten öfter einen High-School-Abschluss erwerben und wurden öfter an Universitäten zum Studium zugelassen (obwohl sie im Schnitt aus ärmeren Familien stammten als die Kinder, die in Schulen nach dem kind-zentrierten Konzept unterrichtet worden waren). Andere Studien bestätigten den Erfolg von DI außerhalb des Projektes Follow Through. Adams und Engelmann (1996) wiesen in einem Überblick über 34 verschieden Studien nach, dass DI in 87 % aller Fälle den anderen Konzepten überlegen war.

Dennoch wird DI oft diffamiert als „entmenschlichend“, „roboterhaft“ und „starr“. Eine der von Kritikern des DI am meisten zitierten Studien ist Schweinhart, Weikart und Larner (1986). Die Autoren zeigten hier, dass Kinder, die mit DI unterrichtet worden waren, anderen Schülern zwar in den Leistungen voraus waren, aber mehr emotionale Probleme hatten. Schweinhart und Kollegen (1986) führten dass auf den autoritären, direktiven Charakter von DI zurück. Das DI-Programm, das in dieser Studie verwendet wurde, folgte aber nur grob den Prinzipien des DI. Mills, Cole, Jenkins und Dale (2002) wiederholten die Studie von Schweinhart und anderen (1986), wobei sie die häufigsten Kritikpunkte an dieser ausräumten (zu kleine Stichprobe, keine Parallelisierung der Gruppen u.a.m.). Sie konnten die Ergebnisse von Schweinhart und anderen (1986) nicht replizieren. Tatsächlich scheint der wahre Grund für Schweinharts Ergebnisse der Umstand zu sein, dass es in der Gruppe, die DI-Unterricht erhielt, deutlich mehr Jungen als Mädchen gab. Trotz dieses eindeutigen Scheiterns einer Replikation wird die Studie von Schweinhart und anderen (1986) weiter fleißig zitiert. Der wahre Grund für die Ablehnung von DI, so Kim und Axelrod (2005), dürfte in der Romantisierung der Kindheit liegen, die hinter all den kind-zentrierten Ansätzen steckt. Die Angst vor DI ist irrational und ideologisch motiviert, nicht in objektiven Daten begründet. Auch eine neuere, von DI-Gegnern ins Feld geführte Studie von Ryder, Sekulski und Silberg (2004) muss aus den selben Gründen wie die Studie von Schweinhart und anderen (1986) zurück gewiesen werden (so Manzo & Park, 2004).

Nur 150 Schulen in den USA nutzen ein DI-Programm. Nicht zuletzt liegt das an der Art der Lehrerausbildung (nicht nur in den USA, auch in Deutschland). Diese Ausbildungen bilden nicht aus, sondern nehmen bestenfalls die Lehrer für den kind-zentrierten Ansatz ein. Pädagogik, so Kim und Axelrod (2005) bleibt so eine unreife Disziplin, eine Geisteswissenschaft ohne empirische Basis.

Literatur:

Adams, G. L. & Engelmann, S. (1996). Research on Direct Instruction: 25 Years beyond DISTAR. Seattle, WA: Educational Achievement Systems.

Glass, G. (1993, August-September). Research news and comment – a conversation about educational research priorities: A message to Riley. Educational Researcher, 22 (6), 17 – 21.

Manzo, K. K. & Park, J. (2004, January 1). Study challenges direct reading method. Education Week, 23 (20), 3.

Mills, P. E.; Cole, K. N.; Jenkins, J. R. & Dale, P. S. (2002). Early exposure to Direct Instruction and subsequent juvenile delinquency : a prospective examination. Exceptional Children, 69, 85 – 97.

Ryder, R.; Sekulski, J. L. & Silber, A. (2004). Results of Direct Instruction reading program evaluation longitudinal results: first through third grade 2000-03. http://www.uwm.edu/News/PR/04.01/DI-Final-Report-2003.doc

Schweinhart, L. J.; Weikart, D. P. & Larner, M. B. (1986). Consequences of three preschool curriculum models through age fifteen. Early Childhood Research Quarterly, 1 (1), 15 – 46.

Watkins, C. L. (1995). Follow Through: Why didn’t we. Effective School Practices, 15 (1), 5.

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Neurowissenschaftliche Pädagogik?

Sowohl in Deutschland als auch international wird gerne behauptet, die Neurowissenschaften könnten Wertvolles zur Pädagogik, insbesondere zur Verbesserung von Lehr- und Lerntechniken beitragen. Bowers (2016) zitiert hier beispielsweise die eigentlich recht intelligente Susan Blackmore, die 2005 davon schreibt, dass das Verständnis der Mechanismen im Gehirn unsere Lehrstrategien transformieren könnte. Gelegentlich wird dazu aufgefordert, in die Ausbildung von Lehrern die Wissenschaften stärker einzubeziehen denn nur ein gutes Verständnis der Prozesse im Gehirn könne Lehrer dazu befähigen, ihre Schüler wirklich effizient zu unterrichten. Doch obschon dies seit fast 20 Jahren immer wieder behauptet wird, hat die Neurowissenschaft bislang noch gar nichts zur Pädagogik beitragen können. Bowers (2016) legt überzeugend dar, dass die angeblichen Erfolge der Neurowissenschaft im Bereich der Pädagogik entweder
1. trivial sind, in dem Sinne, dass ihre Empfehlungen selbstverständlich sind,
2. irreführend sind, in dem Sinne, dass ihre Empfehlungen bereits aufgrund von verhaltensorientierten Studien gut belegt sind oder
3. unbelegt sind, in dem Sinne das ihre Empfehlungen auf einer falschen Interpretation neuropsychiatrischer Erkenntnisse beruhen oder die Schlussfolgerungen nicht aus den Naturwissenschaften folgen.

Ad 1.: Von einigen Autoren wird es als große neue Erkenntnis gefeiert, dass das Gehirn auch nach der frühen Kindheit in der Lage sei, dazu zu lernen. Doch dies ist banal und selbstverständlich. Wäre es anders, gäbe es keine weiterführenden Schulen und Universitäten. Tatsächlich hat die Neurowissenschaft herausgefunden, dass sich entgegen früherer Annahmen tatsächlich auch noch im Erwachsenenalter neue Nervenzellen bilden können. Zuvor ging man lediglich davon aus, dass sich neue Synapsen bilden. An den beobachtbaren Fakten (dass Menschen auch im Erwachsenenalter lernen können) ändert das rein gar nichts. Bowers (2016) kritisiert in diesem Zusammenhang auch Phrasen wie die vom „gehirnbasierten Lernen“. Da schon sehr lange klar ist, dass das Lernen etwas ist, das im Gehirn passiert, handelt es sich hierbei um eine Tautologie.

Als große Erkenntnis wird gelegentlich auch gehandelt, dass die Neurowissenschaft uns gelehrt habe, wie wichtig die Emotionen beim Lernen seien. Auch dies kann schwerlich als neue Erkenntnis gelten, genauso wenig wie die angeblich neurowissenschaftlich untermauerte Erkenntnis, dass ausreichender Schlaf und gute Ernährung wichtig für das Lernen sein. Die Beispiele für Plattitüden, die angeblich durch die Neurowissenschaft belegt worden seien, lassen sich beliebig fortsetzen: eine anregungsreiche Umgebung und sportliche Betätigung sei wichtig für das Lernen, das Lernen sei ein soziales Phänomen, eine gute Motivation sei wichtig, man solle besser in ruhigen Umgebungen lernen usw.

Ad 2.: Neben diesem hochgradig banalen Einsichten werden auch weniger selbstverständliche Erkenntnisse als Verdienst der Neurowissenschaft reklamiert. Tatsächlich aber sind diese Erkenntnisse in der Regel schon längst durch verhaltensorientierte, psychologische Untersuchungen belegt worden. Zum Beispiel wird es als Erkenntnis der Neurowissenschaft verkauft, dass man eine Fremdsprache möglichst bald im Leben erwerben solle. Doch die vorgelegten neurowissenschaftlichen Daten sind für diese Erkenntnis belanglos. Die entscheidenden Daten zum Beleg dieser Behauptung sind psychologische Untersuchungen, die lange zuvor stattfanden. Ebenso verhält es sich mit der Erkenntnis, dass ein Test die Lernleistung mehr verbessert als zusätzliches Üben. Interessanterweise leuchtet dies weder Lehrern noch Schülern ein. Befragt man sie, was ihnen beim Lernen mehr helfen würde, zusätzliche Lernzeit oder eine Übungsklausur, entscheiden sie sich in der Regel für die zusätzliche Lernzeit. Das Ergebnis psychologischer Untersuchungen ist hier also kontra-intuitiv und insofern ein echter Fortschritt gegenüber dem „gesunden Menschenverstand“. Doch zu dieser Erkenntnis trugen neurowissenschaftlichen Befunde überhaupt nichts bei.

Neurowissenschaftlichen Daten werden, so Bowers (2016) oft dazu verwendet, Unterrichtmethoden zu stützen, die bereits durch verhaltensorientierte, psychologische Daten ausreichend gestützt werden und weit verbreitet sind. Bowers (2016) betont, dass er keine selektive Auswahl vorgenommen hat, sondern sich unter anderem auf einen Artikel in Nature Neuroscience bezieht, der die größten Erfolge der pädagogischen Neurowissenschaften aufliste.

Ad 3.: Oft haben die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse überhaupt nichts mit der Lehrmethode o. ä. zu tun, für die sie als Beleg angeführt werden. Bowers (2016) nennt hier das Parallel Distributed Processing (PDP). Die Personen, die tatsächlich das PDP entwickelt haben, distanzieren sich deswegen häufig sogar explizit von den Neurowissenschaften.

Die Neurowissenschaften, so Bowers (2016), haben nicht nur bislang nichts zur Verbesserung der Lehr- und Lerntechniken beigetragen, es ist aus rein logischen Gründen auch nicht zu erwarten, dass dies in der Zukunft der Fall sein wird. Das Einzige, was im Bereich der Pädagogik zählt, ist ob das Kind tatsächlich lernt. Dies lässt sich letztlich nur am Verhalten feststellen. Verhaltensänderungen können nicht durch die Neurowissenschaft bestätigt werden. Wenn das Verhalten sich ändert, folgt daraus logischerweise, dass das Gehirn sich in irgendeiner Weise verändert hat. Eine Veränderung im Gehirn bedeutet nicht notwendigerweise, dass das Verhalten sich verändert. Das einzig relevante Maß für Leistung ist das Verhalten, so Bowers (2016). Der einzige reliabel Test, um festzustellen ob eine Lehrmethode die Lesefähigkeit eines Kindes verbessert hat, ist die Leseleistung des Kindes zu beobachten und zu messen. Neurowissenschaftlichen Daten können dies nicht ersetzen. Hinzu kommt, dass in letzter Zeit immer wieder darauf hingewiesen wird, wie unzuverlässig die bildgebenden Verfahren sein können. Bowers (2016) fasst dies folgendermaßen zusammen: „The critical difference between psychology and neuroscience that explains this contrasting success is that psychology is concerned with behavior, and behavior is the only relevant metric when assessing the value of an instructional intervention” (S. 6).

Als Argument für die Neurowissenschaften in der Pädagogik wird oft angeführt, dass man mit neurowissenschaftlichen Methoden zum Beispiel Lese- und Rechtschreibschwächen besser diagnostizieren könne. So habe man durch neurowissenschaftliche Studien belegen können, dass hier chronologische Prozesse eine Rolle spielen. Doch auch dies war lange bekannt. Hinzu kommt, dass sich in den neurowissenschaftlichen Studien dahingehend gar kein einheitliches Bild ergibt, es scheinen bei einer Legasthenie viele abnormale Prozesse im Gehirn eine Rolle zu spielen.

Hinzu kommt zuletzt noch, dass die Neurowissenschaft nun sehr oft auch hinzugezogen werden, um Belege für Interventionen zu liefern, die kaum einen oder keinen verhaltenswissenschaftlichen Beleg für ihre Wirksamkeit vorbringen können.

Informationen zu verhaltenswissenschaftlich fundierten Lehrmethoden finden Sie hier.

Literatur

Bowers, J. S. (2016). The practical and principled problems with educational neuroscience. Psychological Review, 123(5), 600-612. doi:10.1037/rev0000025

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Gesundheitsverhalten verbessern mit Verhaltensanalyse

Am Di., 21. Juli 2015 um 16 Uhr findet in München (am Institut für Ernährungsmedizin, Technische Universität München, Georg-Brauchle-Ring 62, 80992 München, Campus D, 5. Stock) ein Vortrag über das Thema “Health Behavior from a Natural Science Perspective” statt. Hier die Ankündigung:

Behavior concerned with an individual’s health obeys the same principles as any other type of human conduct. As a branch of biology, the science of behavior has been busy establishing the empirical foundation for these principles since about the thirties of the last century. Unfortunately, this knowledge has almost been forgotten by now. It is thus time to rediscover it and to apply it, among many others, to generating and maintaining health behavior. Digital technology can be a powerful resource in this endeavor – given that behavior has been grasped as a subject matter of natural science.

Der Refernt ist mein guter Freund Dr. Peter Pohl, der das Thema aus Sicht der Behavior Analysis darstellen wird. Peter Pohl ist Preisträger des Bayerischen Innovationspreises Gesundheitstelematik 2015. Er erhielt diesen Preis für  eine von ihm mitentwickelte verhaltensanalytisch basierte Software zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens von Kindern und Jugendlichen.

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Tagteach beim Tanzen

Ähnlich wie beim „Clicker-Training“ nutzt man auch beim „Tagteach“ einen konditionierten Verstärker. Der „Tag“ (Markierer) ist in der Regel ein kurzes Geräusch (auch ein Clicker wird gerne verwendet), mit dem man bestimmte, erwünschte Verhaltensweisen markiert. Die unmittelbare zeitliche Nähe von Verhalten und Markierung erleichtert das Lernen. Bei menschlichen Versuchspersonen muss man in der Regel den Clicker nicht „aufladen“ (mittels eines primären Verstärkers zum konditionierten Verstärker machen). Bei Versuchspersonen, die bereits sprechen können, genügt es zumeist, wenn man der Person, die mittels Tagteach etwas lernen soll, vorher sagt, dass der „Click“ anzeigt, dass das gerade gezeigte Verhalten „richtig“ war. Diese Instruktion wirkt dabei als etablierende Operation (establishing operation), durch die das Klickgeräusch (regelgeleitet) zum Verstärker wird.

Quinn et al. (2015) berichten vom Einsatz des Tagteaching bei vier Mädchen im Alter von sechs bis neun Jahren, die in einem Studio Jazztanz lernten. Zur Didaktik des Tanzens gibt es recht wenig empirische Untersuchungen (Nemecek & Chatfield, 2007). Die meisten Tanzlehrer setzen unbewusst vor allem aversive Techniken (Bestrafung und negative Verstärkung) ein: Wenn die Schülerin alles richtig macht, wird sie nicht geschimpft. Der zeitliche Bezug (die Kontiguität) zwischen dem Verhalten (der jeweiligen richtigen oder falschen Tanzbewegung) ist dabei meist sehr schwach, die Rückmeldung erfolgt unsystematisch und zeitverzögert. All das erschwert das Lernen.

Tagteach ist schon bei anderen Sportarten, bei denen es auf gute Körperbeherrschung ankommt, erfolgreich eingesetzt worden, z. B. beim Golfspielen (Fogel et al., 2010) und beim Schießen (Mononen, 2007).

Quinn et al. (2015) nutzen das verhaltensorientierte Fertigkeitstraining (Behavioral Skills Training, BST), um den Tanzlehrerinnen das Tagteaching zu vermitteln. Anschließend erklärten die Tanzlehrerinnen die Schülerinnen, was es mit dem „Tagger“ (dem Clicker) auf sich hat: Immer, wenn die Schülerin eine Bewegung, die ihr zuvor erklärt wurde, richtig ausführte, wird sie unmittelbar dieses Geräusch hören. Den Schülerinnen wurde der Einsatz des Taggers demonstriert und sie durften ihn auch selbst verwenden, um das Verhalten der Lehrerin zu formen. Anschließend wurde der Tagger im normalen Unterricht eingesetzt. Dabei wurde das Tagging im Schnitt nur vier Minuten lang pro Bewegungsart und pro Woche eingesetzt, in der restlichen Zeit fand normaler Unterricht statt.

Die Lehrerin erklärte zunächst immer, was in der folgenden Übung der „Tag-Punkt“ sein solle (z. B. „Der Tag-Punkt ist: Zehen zum Knie“). Bei der jüngsten Schülerin erwies sich der Tagger alleine als nicht ausreichend, um eine stabile Verhaltensänderung zu erreichen. Das Tagging wurde daher durch ein Token-System ergänzt. Für jedes „Click“ erhielt die Sechsjährige einen Punkt, sie konnte ihre Punkte am Ende der Stunde gegen ein kleines Geschenk (einen Aufkleber oder eine Süßigkeit) eintauschen.

Die Forscher untersuchten die Wirkung des Tagteaching bei drei verschiedenen Bewegungsarten, die die Kinder lernen sollten (Drehen, Springen, Schwingen). Das Tagteaching wurde bei jeder dieser Verhaltensweisen zeitversetzt eingeführt, in der Form eines Multiplen-Basisratendesigns. Die Schülerinnen verbesserten ihre Leistungen in den einzelnen Verhaltensweisen mit Beginn des Tagteaching jeweils deutlich und dauerhaft. Der Anteil korrekt ausgeführter Bewegungen verbesserte sich, je nach Schülerin und geforderter Bewegungsart um 20 % bis 50 % innerhalb weniger Termine.

Die Schülerinnen und die Lehrerinnen wurden zudem auch nach ihrer Einschätzung bezüglich des Tagteaching befragt (soziale Validität des Verfahrens). Die Kinder äußerten übereinstimmend, dass das Tagteaching ihnen dabei half, sich zu konzentrieren und dass es besser als der normale Unterricht sei. Die Lehrerinnen verglichen Videoaufnahmen von vor und nach dem Tagteaching und bewerteten das Verfahren ebenfalls als sehr hilfreich.

Literatur

Fogel, Victoria A.; Weil, Timothy M. & Burris, Heather. (2010). Evaluating the efficacy of TAGteach as a training strategy for teaching a golf swing. Journal of Behavioral Health and Medicine, 1(1), 25-41.

Mononen, Kaisu. (2007). The effects of augmented feedback on motor skill learning in shooting. Studies in Sport, Physical Education, and Health, 122, 1-63. DOI: 10.1080/0264041031000101944

Nemecek, Sarah M. & Chatfield, Steven J. (2007). Teaching and technique in dance medicine and science. A descriptive study with implications for dance educators. Journal of Dance Education, 7(4), 109-117. doi: 10.1080/15290824.2007.10387348

Quinn, Mallory J.; Miltenberger, Raymond G. & Fogel, Victoria A. (2015). Using tagteach to improve the proficiency of dance movements. Journal of Applied Behavior Analysis, 48(1), 11-24. DOI: 10.1002/jaba.191

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Schul-Mobbing bekämpfen

„Bullying“ – das Mobben von Schülern durch Schüler – ist ein ernstes Problem, nicht nur an amerikanischen Schulen. Viele Präventionsprogramme setzen allein bei den Tätern an oder sie verändern nur die Kommunikation und die Einstellungen der Schüler, ohne die Zahl der tatsächlichen Mobbinghandlungen zu verringern. Dabei ist dies das einzige Maß, das anzeigen könnte, ob solche Programme tatsächlich wirken.

Das Mobben von Mitschülern ist nicht nur an amerikanischen Schulen ein Problem. Der Leiter des amerikanischen Gesundheitsamtes (Surgeon General) listete 2011 insgesamt 29 Methoden auf, die bei Jugendgewalt hilfreich sind (U.S. Department of Health and Human Services, 2001). Darunter befand sich jedoch nur ein Programm, das sich mit dem Problem des Mobbings in Schulen befasste (Olweus et al., 1999). Eine neuere Übersicht (Osher & Dwyer, 2006) fand 32 wirksame Programme, darunter aber nach wie vor nur das eine von Olweus et al., das das Mobbing an Schulen behandelte. Eine Metaanalyse (Merrell et al., 2008) fand 16 Programme zur Bekämpfung des Mobbings an Schulen, jedoch konnte kein einziges von einer Reduzierung beobachteter Mobbinghandlungen berichten. In der Regel ging es nur um eine veränderte Wahrnehmung des Mobbings bei den Beteiligten. Üblicherweise wird bei der Evaluation dieser Programme nur geprüft, ob die Teilnehmer die Inhalte des Programms verstanden haben und ob sie glauben, dass sie künftig andere handeln werden.

Ein verhaltensanalytisches Programm sollte zunächst definieren, was genau unter Mobbing zu verstehen ist, sodass die Mobbinghandlungen auch beobachtet und gezählt werden können. Zudem geht die Verhaltensanalyse davon aus, dass Mobbinghandlungen – wie jedes Verhalten – von vorausgehenden und nachfolgenden Umweltereignissen ausgelöst und aufrechterhalten werden. Ein wichtiger Aspekt der Umwelt ist die Reaktion des Opfers und der Außenstehenden auf die Mobbinghandlung.

Ross und Horner (2009) berichten von einem Programm zur Verringerung des Mobbings, das sie an drei Schulen einführten. Die Schulen galten als Problemschulen, 32 % bis 87 % der Schüler waren auf Sozialleistungen angewiesen. In diesen Schulen fanden bereits Programme zur Verbesserung des Sozialklimas statt, das „Positive Behavior Support (PBS)“. Dieses Programm hat sich als zur Verbesserung des Sozialklimas in randomisierten, kontrollierten Versuchen (RCT) als wirksam erwiesen (Bradshaw et al., 2008; Horner et al., 2009). Das Ziel des PBS ist es, positive, vorhersagbare Umwelten zu schaffen.

Im speziell auf das Mobbing konzipierten Bestandteil dieses Programms lernten die Schüler unter anderem folgende Schritte.

  • Die Unterscheidung zwischen respektvollem und respektlosem Verhalten.
  • Wenn man von jemandem nicht respektvoll behandelt wird, soll man „Stopp!“ sagen und die Hand (in der Art einer Stopp-Geste) hochhalten.
  • Wenn man sieht, dass jemand nicht respektvoll behandelt wird, soll man „Stopp!“ rufen und das Opfer weg bringen.
  • Wenn man, obwohl man „Stopp!“ gesagt hat, weiterhin respektlos behandelt wird, soll man weggehen.
  • Wenn man, obwohl man weggeht, noch immer respektlos behandelt wird, soll man es einem Erwachsenen sagen.
  • Wenn jemand zu einem „Stopp!“ sagt, soll man mit dem, was man tut, aufhören, durchatmen und sich um seinen eigenen Kram kümmern.

An keiner Stelle im Training wurde den Schülern gegenüber das Wort „Mobben“ verwendet.

Die Forscher beobachteten das Verhalten von je zwei Schülern aus den drei Schulen, die bereits durch häufige verbale und physische Gewalt gegen andere Schüler aufgefallen waren. Beobachtet wurde, wie häufig es zu verbaler oder physischer Gewalt kam. Bei den beteiligten Opfern wurde beobachtet, ob sie die Bestandteile des Programms (Stopp, Weggehen oder Ignorieren, Berichten) umsetzten und ob sie entweder positive (Lachen) oder negative Reaktionen (Jammer, Zurückschlagen etc.) zeigten (die ggf. das Mobbingverhalten des Täters verstärkten). Ebenso wurde bei den Außenstehenden (Schülern, die den Vorfall beobachteten) geprüft, ob sie die angemessene Reaktion zeigten oder die Mobbinghandlungen durch positive oder negative Reaktionen verstärkten.

Zunächst wurden die Basisraten über mehrere Wochen erhoben. Anschließend fand das Training statt, danach wurde weiter beobachtet. Die Zahl der Mobbinghandlungen ging (bei den sechs beobachteten Kindern) um 53 % bis 86 % zurück. Sowohl die Opfer als auch die Außenstehenden zeigten vor dem Training fast kaum, danach in 10 % bis 40 % das im Programm vorgesehene Verhalten. Der Anteil (positiver oder negativer) potentiell das Mobben verstärkender Reaktionen sank im Schnitt auf weniger als die Hälfte des Ausgangswertes.

Ross und Horner (2009) verweisen darauf, dass es durchaus bereits Programme gibt, die die Häufigkeit von Mobbinghandlungen verringern können (z. B. Olweus et al., 1999). Der Vorteil ihres Programms liegt jedoch in der einfachen Umsetzbarkeit, die es wahrscheinlicher macht, dass die Schulen das Programm auch dann aufrechterhalten, wenn die Forscher oder Berater nicht mehr zugegen sind.

Literatur

Bradshaw, C.; Koth, C.; Bevans, K.; Ialongo, N. & Leaf, P. (2008). The impact of school-wide positive behavioral interventions and supports (PBIS) on the organizational health of elementary schools. School Psychology Quarterly, 23, 462-473.

Horner, R.; Sugai, G.; Smolkowski, K.; Todd, A.; Nakasato, J. & Esperanza, J. (2009). A randomized control trial of school-wide positive behavior support in elementary schools. Journal of Positive Behavior Interventions, 11(3), 133-144.

Merrell, Kenneth W.; Gueldner, Barbara A.; Ross, Scott W. & Isava, Duane M. (2008). How effective are school bullying intervention programs? A meta-analysis of intervention research. School Psychology Quarterly, 23(1), 26-42.

Olweus, D.; Limber, S. & Mihalic, S. (1999). The bullying prevention program: Blueprints for violence prevention. Boulder, CO: Center for the Study and Prevention of Violence.

Osher, D. & Dwyer, K. (2006). Safe, supportive, and effective schools: Promoting school success to reduce school violence. In S. R. Jimerson & M. J. Furlong (Eds.), Handbook of school violence and school safety: From research to practice (pp. 51-71). Mahwah, NJ: Erlbaum.

Ross, Scott W. & Horner, Robert H. (2009). Bully prevention in positive behavior support. Journal of Applied Behavior Analysis, 42(4), 747-759. PDF 488 KB

U.S. Department of Health and Human Services. (2001). Youth violence: A report of the surgeon general. Rockville, MD: Author.

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Lob und Tadel, 5 zu 1

Manch einer meint, kein Tadel sei Lob genug. Doch erfolgreiches Feedback nutzt häufiger das Lob als die Kritik. Genaugenommen sollte man fünfmal häufiger loben als tadeln, so Stephen Ray Flora.

Obwohl Lob ein hervorragender und zudem kostenloser Verstärker für menschliches Verhalten ist, wird er kaum eingesetzt, insbesondere in Schulen (Beaman & Wheldall, 2000). Einen nachteiligen Einfluss auf die Popularität von Lob als Verstärker haben dabei sicher auch Autoren wie Alfie Kohn ausgeübt, der fordert, dass Kinder das tun sollten, was von ihnen erwartet wird, ohne dass dies einer zusätzlichen Ermunterung oder Rechtfertigung bedarf („should simply do what is expected of them without requiring encouragement or justification“, Kohn, 1993, S. 116). Erstaunlicherweise erfreut sich diese Haltung in der breiten Öffentlichkeit einer großen Beliebtheit. Doch lehrt und die Empirie, dass richtig eingesetztes Lob durchaus erwünschte Verhalten stärken kann.

Bekanntlich sollte in der Kommunikation das Lob die Kritik überwiegen. Flora (2000) belegt, dass ein Verhältnis von fünf Lobesäußerungen zu einer Kritik am effektivsten ist. Hart und Risely (1995, S. 155) konnten nachweisen, dass nicht der sozioökonomische Status der Eltern als solcher die Sprach- und Intelligenzentwicklung von Kindern vorhersagt, sondern dass die Art, wie die Eltern mit ihren Kindern umgehen, entscheidend ist. Diejenigen Kinder, die sich am besten entwickelten, hatten Eltern, die sehr viel mit ihren Kindern sprachen, ihren Kindern häufiger zustimmten und diese lobten. Insbesondere äußerten sie im Schnitt fünfmal mehr Lob oder Zustimmung als Kritik oder Ablehnung.

Dieses Verhältnis findet man auch bei glücklichen Ehen. War die Rate von Zustimmung zu Kritik in einer Beziehung schlechter als 5 zu 1, scheiterte die Ehe wahrscheinlich. Am wenigsten stabil waren die Partnerschaften mit einer Rate von 0,8 bis 1 zu 1 (Gottman et al., 1998, S. 9). Die Kombination aus Hilfestellung und Lob, die Gottman et al. bei erfolgreichen Ehen fanden, ähnelt sehr stark dem verhaltensanalytischen Verfahren der Verhaltensformung (shaping, d. h. sukzessive Annäherung an ein angestrebtes Verhalten durch Verstärkung der Zwischenstufen). Das Verhältnis von 5 zu 1 erwies sich auch bei der Therapie von jugendlichen Straftätern als das erfolgreichste (Stuart, 1971), sowie allgemein bei der Formung angemessenen Verhaltens (Maden & Madsen, 1974).

Martin und Pear (1999, S. 43) führten ein Training mit Lehrern und Studenten der Verhaltensanalyse durch, bei dem die Teilnehmer ihre eigenen zustimmenden und ablehnenden Äußerungen erfassen und innerhalb von 10 Tagen erreichen sollten, dass das Verhältnis 5 zu 1 beträgt. Das Verhältnis betrug während der Basisratenbeobachtung bei den Lehrern 2,59 und bei den Studenten 1,59 (zu 1). Im Lauf des Trainings verbesserten sich die Lehrer auf ein Verhältnis von 4,32, die Studenten auf 4,47, was jeweils einen signifikanten Unterschied darstellt. Natürlich hat die Aufgabe, das eigene zustimmende und kritisierende sprachliche Verhalten zu erfassen an sich einen Einfluss auf die Häufigkeiten (Reaktivität), sodass diese Zahlen nicht so belastbar sind wie objektive Beobachtungen. Allein die Erkenntnis, dass man selbst im Alltag sehr selten lobt, kann aber die Motivation für eine Änderung dieses Verhaltens auslösen, wie die Teilnehmer des Trainings bestätigten.

Um das Verhältnis von fünf zu eins zu erreichen, müssen Lehrer bisweilen ihre Standards senken, damit sie ein Verhalten loben können, dass sie früher vielleicht kritisiert hätten. Doch sind diese Verhaltensweisen oft Annäherungen an das eigentlich erwünschte Verhalten. Die Lehrer in Martin und Pears Studie äußerten, dass sie, um mehr zu loben, nicht ihre Erwartungen an das, was der Schüler letztendlich erreichen sollte, absenkten.

Wenn Menschen, die das bislang nicht bewusst taten, anfangen, mehr zu loben, berichten sie oft, dass es sich „unecht“ oder „komisch“ anfühle. Doch hat dieses Gefühl damit zu tun, dass das Loben selbst auch ein Verhalten ist. Verhalten, in dem man ungeübt ist, fühlt sich oft „komisch“ an. Je flüssiger das Verhalten des Lobens wird, desto mehr verschwindet dieses Gefühl. Zudem sollte man beachten, dass Lob vor allem eine Anerkennung für ein bestimmtes Verhalten sein sollte, um wirksam zu sein. Beispielsweise geben Kinder, die für ihre Intelligenz gelobt werden, eher auf und zeigen schlechtere Leistungen als Kinder, die für ihren Fleiß gelobt werden (Mueller & Dweck, 1998).

Warum aber wird ist ein Verhältnis von fünf zu eins erfolgreich? Wäre es nicht besser, nur zu loben und nie zu kritisieren? Hier zeigt die Forschung, dass Lob, wenn nie etwas kritisiert wird, an Wirkung verliert. Das Lob dient, wenn nur gelobt wird, nicht mehr als diskriminativer Reiz, der dem Gelobten sagt, was gut und was nicht so gut war. Zudem sollte das Lob variiert werden, um wirksam zu bleiben. Flora (2000, S.69) gibt seinen Studenten die „101 Wege, wie man lobt“ mit auf den Weg.

Lob ist und bleibt ein sehr wirksamer und viel zu selten benutzter Verstärker, insbesondere, wenn man bedenkt, dass es vollkommen kostenlos ist.

Literatur

Beaman, R. & Wheldall, K. (2000) Teacher’s use of approval and disapproval in the classroom. Educational Psychology, 20, 431-446.

Davis, H. & Perusse, R. (1988). Human-based social interaction can reward a rat’s behavior. Animal Learning & Behavior, 16, 89-92.

Evans, M. J.; Duvel, A.; Funk, M. L.; Lehman, B. & Neuringer, A. (1994). Social reinforcement of operant behavior in rats: A methodological note. Journal of the Experimental Analysis of Behavior, 62, 149-156.

Flora, Stephen Ray. (2000). Praise’s magic reinforcement ration: Five to one gets the job done. The Behavior Analyst Today, 1(4), 64-69. PDF der Zeitschrift 322 KB

Gewirtz, J. L. & Baer, D. M. (1958). Deprivation and satiation of social reinforcers as drive conditions. Journal of Abnormal and Social Psychology, 57, 165-172.

Gottman, J. M.; Coan, J. & Swanson, C. (1998). Predicting marital happiness and stability from newlywed interactions. Journal of Marriage and the Family, 60, 2-22.

Hart, B. & Risley, T. R. (1995) Meaningful Differences. Baltimore, MD: Paul H Brookes.

Kohn, A. (1993). Punished by Rewards: The Trouble with Gold Stars, Incentive Plans, A’s, Praise, and Other Bribes. New York, NY: Houghton Mifflin.

Madsen, C. H. Jr., & Madsen, C. R. (1974). Teaching discipline: Behavior principles towards a positive approach. Boston, MA: Allyn & Bacon.

Martin, G. & Pear, J. (1999). Behavior Modification 6th ed. Upper Saddle River, NJ: Prentice Hall.

Mueller, C. M. & Dweck, C. S. (1998). Praise for intelligence can undermine children’s motivation and performance. Journal of Personality & Social Psychology, 75, 33-52.

Rheingold, H. L.; Gewirtz, J. L. & Ross, H. W. (1959). Social conditioning of vocalizations in the infant. Journal of Comparative and Physiological Psychology, 52, 68-73.

Stuart, R. B. (1971). Assessment and change of the communication patterns of juvenile delinquents and their parents. In R.D. Rubin, H. Fernsterheim, A. A. Lazarus, & C. M. Franks (Eds.), Advances in behavior therapy (pp. 183-196). NY: Academic Press.

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Brailleschrift lernen in 22 Minuten!

Vor einer Weile berichtete ich hier über ein Brailleschriftlernprogramm. Mittlerweile liegt eine Evaluation des Programms vor, die die Vorzüge des Schnellkurses bestätigt.

Scheithauer, Tiger und Miller (2013) evaluierten das verhaltensanalytisch fundierte Programm zum Brailleschriftlernen von Scheithauer und Tiger (2012) mit insgesamt 81 Versuchspersonen. Wieder wurde vor dem Programm festgestellt, ob die Person normale Schrift flüssig lesen konnte (alle konnten das). In einem Multiple-Choice-Test wurde erfasst, wie viele Braillebuchstaben sie entziffern konnte; die Trefferquote lag bei 20 %, was einem Zufallswert entspricht. Keine der Versuchspersonen konnte auch nur ein Wort in Braille lesen.

Sodann übten die Versuchspersonen die Brailleschrift mit dem von Scheithauer und Tiger (2012) entwickelten Verfahren. 40 Versuchspersonen lernten, wie in der ursprünglichen Studie, mittels eines Multiple-Choice-Verfahrens, die anderen 41 Versuchspersonen sollten bei den Antworten die entsprechende Taste auf der Tastatur drücken (d. h. auf den Buchstaben „k“ drücken, wenn am Bildschirm das Braillezeichen für „k“ angezeigt wurde). Um den Kurs abschließen zu können, musste die Versuchspersonen bei zwei aufeinanderfolgenden Terminen mindestens 95 % der Aufgaben richtig bearbeiten. Insgesamt benötigten die Versuchspersonen der Multiple-Choice-Gruppe im Schnitt 21,9 Minuten, um den Kurs abzuschließen, die Versuchspersonen der Gruppe, die ihre Antworten über die Tastatur eingeben musste, brauchten dafür durchschnittlich 23,6 Minuten.

Im Abschlusstest sollten die Versuchspersonen wieder die gleichen Multiple-Choice-Aufgaben bearbeiten wie im Vortest. Die Versuchspersonen in beiden Gruppen erreichten nun eine Trefferquote von 99,6 %. Beim Lesetest konnten die Versuchspersonen der Multiple-Choice-Gruppe im Schnitt in fünf Minuten 26,3 Wörter in der Brailleschrift vorlesen, in der Tastatur-Gruppe waren es 25,8 Wörter.

Zwischen sieben und 14 Tagen nach dem Abschluss des Kurses (im Schnitt zehn Tage später) sollten die Versuchspersonen erneut zu einem Test antreten. 67 Versuchspersonen (33 in der Multiple-Choice- und 34 in der Tastaturgruppe) kamen dieser Aufforderung nach. Erneut wurde ein Multiple-Choice-Test vorgegeben, dieses Mal mit anderen Buchstaben. Nun lag die Trefferquote in der Multiple-Choice-Gruppe noch bei 89,5 %, in der Tastaturgruppe bei 83,5 %. Beim Lesetest sollten die Versuchspersonen einen neuen Text vorlesen. Die Versuchspersonen der Multiple-Choice-Gruppe konnten jetzt im Schnitt 22,8 Wörter in fünf Minuten lesen, die Versuchspersonen der Tastaturgruppe lasen durchschnittlich 16,9 Wörter.

Alle bisher berichteten Unterschiede zwischen beiden Gruppen waren nicht signifikant. Allerdings machte die Tastaturgruppe während des Kurses im Schnitt signifikant mehr Fehler (55,3) als die Multiple-Choice-Gruppe (35,3).

Beide Gruppen gaben in einem Fragebogen an, dass sie den ganzen Kurs als sehr angenehm und nützlich empfanden, die Tastaturgruppe fand das sogar zu einem höheren Ausmaß (5,5 auf einer Rating Skala von 1 bis 6) als die Multiple-Choice-Gruppe (5,0).

Die Methode von Schaithauer und Tiger (2012) eignet sich dazu, z. B. Studenten der Sonder- oder Sozialpädagogik auf einfache Weise mit den Grundlagen der Brailleschrift vertraut zu machen und so evtl. zu einem vertieften Studium der Brailleschrift hinzuführen. Angesichts des berichteten Mangels an geeigneten Lehrkräften für Braille ist dies ein sinnvoller Ansatz, dem man auch hierzulande Verbreitung wünschen kann.

Literatur

Scheithauer, Mindy C. & Tiger, Jefrey H. (2012). A computer-based program to teach Braille reading to sighted individuals. Journal of Applied Behavior Analysis, 45(2), 315-327. PDF 978 KB

Scheithauer, Mindy C.; Tiger, Jefrey H. Miller, Sarah J. (2013). On the efficacy of a computer-based program to teach visual Braille reading. Journal of Applied Behavior Analysis, 46(2), 436-443.

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Kinderleicht Musik lernen

Eine Firma, die von Verhaltensanalytikern gegründet wurde, bietet ein Musiklernprogramm  als App an, das auf verhaltensanalytischen Prinzipien basiert. Hier

ein Video, das die Anwendung demonstriert. Das Programm wurde ursprünglich von „Headsprout“ – einem Pionier auf dem Gebiet der verhaltensanalytisch fundierten Lehrmethoden – entwickelt. Weitere Informationen zu dieser netten kleinen App gibt es hier.

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04/06/2013 · 20:30