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ABA und PTSD?

Henny Kupferstein (2018) behauptete kürzlich in einem Artikel für die Zeitschrift Advances in Autism, Belege dafür gefunden zu haben, dass ein großer Anteil von autistischen Menschen, die als Kinder mit verhaltensanalytisch basierten Methoden (Applied Behavior Analysis, ABA) behandelt worden waren, später Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung (Post Traumatic Stress Disorder, PTSD) entwickeln würden. Wer nach Arbeiten von Henny Kupferstein („independent researcher“) sucht, findet unter anderem eine Webseite, auf der behauptet wird, dass „ABA“ auf Pawlows operantem Konditionieren basieren würde (Pawlow hat mit dem operanten Konditionieren nichts zu tun; auf ihn geht das sogenannte klassische Konditionieren – im Englischen auch pavolvian conditioning genannt – zurück). Man fragt sich natürlich, wie kompetent ein Kritiker ist, der solch gravierende Wissensdefizite bezüglich des Gegenstandes seiner Kritik hat.

Leaf, Ross, Cihon und Weiss (2018) unterzogen die Arbeit von Kupferstein (2018) einer gründlichen kritischen Analyse. Die dem Artikel zugrundeliegende Studie ist demnach methodisch so fehlerbehaftet, dass sie keinerlei Aussagekraft besitzt. Unter anderem wurden weder die unabhängige Variable (ob und welche Form von „ABA“ Behandlung durchgeführt wurde) noch die abhängige Variable (ob tatsächlich Symptome von PTSD vorliegen) richtig erfasst (u. a. wurden zahlreiche Suggestivfragen gestellt). Kupersteins (2018) Studie taugt daher nur als Anschauungsmaterial in Methodenlehre-Vorlesungen (als Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte), nicht aber zum Beleg der vorgebrachten Behauptung, „ABA“ verursache PTSD. Der Artikel von Leaf et al. (2018) ist auf der Webseite von Advances in Autism frei zugänglich.

Literatur

Kupferstein, H. (2018). Evidence of increased PTSD symptoms in autistics exposed to applied behavior analysis. Advances in Autism, 4(1), 19-29.

Leaf, J. B.; Ross, R. K.; Cihon, J. H. & Weiss, M. J. (2018). Evaluating Kupferstein’s claims of the relationship of behavioral intervention to PTSS for individuals with autism. Advances in Autism. (Open Access – als Volltext hier frei verfügbar)

 

Ein Kommentar

Eingeordnet unter Autismus, Kritik, Therapie, Verhaltensanalyse

„ABA“ bei Autismus: Wissenschaftliche Belege

Die verhaltensanalytische Intervention („ABA“) ist die am besten untersuchte und wirksamste Therapie bei frühkindlichem Autismus. Dies ist durch zahlreiche Untersuchungen sehr gut belegt (vgl. hier, Weinmann et al. (2009): „Verhaltensanalytische Interventionen basierend auf dem Lovaas-Modell können weiterhin als die am besten empirisch abgesicherten Frühinterventionen angesehen werden“). Dennoch wird die wissenschaftliche Evidenz für ABA von einigen Personen außerhalb des Wissenschaftsbetriebs gelegentlich angezweifelt. Zum Beispiel wird die oben erwähnte DIMDI-Studie aus dem Zusammenhang heraus zitiert. Bspw. beklagen die Autoren der Studie, dass die Befundlage „keine solide Antwort auf die Frage zu[lasse], welche Frühintervention bei welchen Kindern mit Autismus am wirksamsten ist“ – d.h. also welche Kinder von welcher Intervention am meisten profitieren. Wer nicht aufmerksam liest, kann hierin ein negatives Urteil über „ABA“ sehen, ebenso, wer die in solchen Studien übliche Sprache nicht versteht („scheinen wirksam zu sein“, bedeutet nicht, dass sie nicht wirksam sind…).

Es erscheint sinnvoll, die Befundlage zu sichten. Wenn vorhanden, sollte man v. a. Übersichtsarbeiten (reviews) betrachten (vgl. den Leitfaden zur Prüfung von Verfahren von Schreck und Miller (2010), den ich hier wiedergebe). Dabei gilt nicht jede beliebige zusammenfassende Darstellung als Übersichtsarbeit. Beispielsweise ist dieser Artikel (Gernsbacher, 2003) weder eine systematische Literaturübersicht noch eine Meta-Analyse (obschon sie hier irreführenderweise als „Meta-Studie“ bezeichnet wird), sondern lediglich eine willkürliche Zusammenstellung von Studien, die von Gernsbacher (2003) diskutiert werden. Systematische Literaturübersichten sind, wie der Name schon sagt, systematisch und v. a. transparent. Die Autoren geben an, wo sie nach welchen Kriterien nach Studien gesucht haben und aufgrund welcher Kriterien sie aus den so gefundenen Artikeln wieder die Mehrzahl ausgeschlossen haben. Die verbliebenen Studien bewerten sie dann nach transparent dargelegten Kriterien, um somit zu einer zusammenfassenden Einschätzung zu kommen. Meta-Analysen wenden ein ähnliches Verfahren an, um Studien zu finden, deren Daten sie dann mittels statistischer Analysen zusammenfassen (d. h. Meta-Analysen berichten immer über statistische Analysen, daran kann man sie erkennen…). Da es für systematische Literaturübersichten und Metaanalysen viele verschiedene Möglichkeiten (Inklusionskriterien) gibt, um Studien auszuwählen und (bei den Metaanalysen) mehrere unterschiedliche statistische Analysemethoden, existieren in der Regel, wenn ein Gebiet schon einigermaßen beforscht wurde, oft mehrere systematische Literaturübersichten und Meta-Analysen nebeneinander – deren Ergebnisse nicht immer deckungsgleich sind.

Larson (2012) (hier und hier) fasst die Belege für die Wirksamkeit angewandter Verhaltensanalyse bei Autismus zusammen. Im Gegensatz zu dem, was im Internet gelegentlich verbreitet wird, kommen unabhängige Überblicksarbeiten generell zu der Schlussfolgerung, dass diese Maßnahmen wirksam sind und das die umfangreiche Forschung auf diesem Gebiet in der Regel von hoher Qualität ist. Seit 2012 sind noch etliche Studien und mehrere Meta-Analysen hinzugekommen, die alle zu vergleichbaren Schlussfolgerungen kommen. Beispielsweise kommen Makrygianni, Gena, Katoudi und Galanis (2018) in einer Meta-Analyse über 29 Studien zu dem Ergebnis, dass die Interventionen sowohl zu Zugewinnen beim IQ führen als auch zu verbesserten Kommunikations- und Sprachfertigkeiten.

Rogers und Vismara (2008) kommen z. B. zu dem Schluss, dass die Behandlungsprogramme nach Lovaas (1987) die Kriterien für ein evidenzbasiertes Verfahren nach Chambless und Hollon (1998) erfüllen.

Larson (2012) fand 45 unabhängige Metaanalysen und systematische Literaturübersichten. In keiner von diesen wird bestritten, dass Verhaltensanalytische Interventionen bei Autismus wirksam wären. Diese Überblicksarbeiten sind kritische Evaluationen. In vielen Fällen wurden in diesen Überblicksarbeiten andere, nicht verhaltensanalytisch basierte Behandlungsmethoden den Kategorien „ungenügende Belege“, „unbewiesen“, oder sogar „potentiell gefährlich“ zugewiesen. Wenn in den Überblicksarbeiten negative Schlussfolgerungen gezogen wurden, dann betrafen diese einen der folgenden Punkte:

  • Mit verhaltensanalytischen Interventionen erzielen nicht alle Kinder mit Autismus Fortschritte.
  • Verhaltensanalytische Interventionen sind weder die einzigen wirksamen Behandlungsmethoden, noch sind sie eindeutig die besten.
  • Es werden keine begründeten Methoden genannt, um diejenigen Kinder herauszufinden, die sich am besten für die Behandlung eignen.

Anmerken muss man, dass die eher kritischen Arbeiten sehr große und m. E. zum Teil nicht gut begründete Einschränkungen vornehmen, durch die ein Großteil der vorliegenden Studien ausgeschlossen wird (bspw. Spreckley & Boyd, 2009, die nur vier Studien berichten). Zudem verwendet man bei Forschungen im Bereich der Verhaltensanalyse sehr oft das Single-Subject-Design (Einpersonenexperiment). Zur Wirksamkeit der autismusspezifischen verhaltensanalytischen Therapie („ABA“) liegen hunderte solcher Studien vor, die in vielen Übersichten nicht berücksichtigt werden, weil diese lediglich Gruppenvergleiche akzeptieren. Dabei gibt es mittlerweile etablierte Methoden, um auch die Daten aus Single-Subject-Studien in Metaanalysen angemessen zusammenfassen zu können, vgl. etwa hier (Scruggs & Mastropieri, 1998).

Interessant ist auch ein Blick in die Cochrane-Library. Die Cochrane-Collaboration setzt sich für eine evidenzbasierte Medizin (EBM) ein. Sie veröffentlicht Übersichtsarbeiten über die Wirksamkeit von Medikamenten und medizinischen Behandlungsmethoden. Auch psychotherapeutische u. ä. Verfahren werden gelegentlich begutachtet. Cochrane ist sehr restriktiv, was die Kriterien für berücksichtigte Studien angeht. Die Cochrane-Übersicht für ABA (EIBI) kommt zu dem Schluss, dass es für die Wirksamkeit von ABA „einige“ Belege gibt. Das bestätigt meine obige Aussage (fast niemand bestreitet, dass ABA wirksam ist und dass es dafür Belege gibt). Andererseits klingt das nicht gerade euphorisch (vgl. aber meine Anmerkungen zur in solchen Studien üblichen Sprache oben). Sieht man sich jedoch an, was Cochrane zu anderen Methoden (z. B. hier, hier und hier) im Bereich der Behandlung von ASD (Autism Spectrum Disorders) zu sagen hat, ändert sich das Bild: Hier lautet die Schlussfolgerung meistens, dass es keine Belege oder nur schwache Beleg gibt.

Selbstverständlich gibt es, was die Studien zur Wirksamkeit verhaltensanalytisch basierter Interventionen bei Autismus angeht, mehr oder weniger gute Studien. Dies bedeutet aber nicht, dass die methodisch schwächeren Studien komplett wertlos wären, wie die Metaanalyse von Makrygianni und Reed (2010) zeigt. Um in die Metaanalyse aufgenommen werden zu können, musste eine Studie in einer Zeitschrift mit Gutachterverfahren erschienen sein und es musste sich um eine Längsschnittstudie handeln. Einpersonenexperimente und Falldarstellungen wurden somit ausgeschlossen. Die methodische Qualität der Studien wurde anhand von elf Kriterien beurteilt, darunter:

  • zufällige Zuordnung zu Experimental- und Kontrollgruppe
  • Beobachterübereinstimmung über 0,80
  • präzise Beschreibung der unabhängigen und abhängigen Variablen
  • Einsatz unabhängiger Beurteiler
  • Auswahl angemessener statistischer Analysen
  • ausreichende Gruppenstärken (n > 10)

Studien, die weniger als die Hälfte dieser Kriterien erfüllten, wurden als methodisch sehr schwach eingeschätzt und ausgeschlossen. Die verbleibenden 14 Studien wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Studien mit hoher methodischer Qualität erfüllten neun oder mehr der oben genannten Kriterien. Studien mit geringer methodischer Qualität erfüllten sechs bis acht der genannten Kriterien.

In dieser Metaanalyse erwiesen sich verhaltensanalytisch basierte Programme als sehr wirksam in der Verbesserung der intellektuellen, sprachlichen, kommunikativen und sozialen Fertigkeiten von Kindern mit Autismus. Die Effektstärken dieser Metaanalyse waren etwas höher als die Effektstärken, die in früheren Metaanalysen berichtet werden, doch waren die allgemeinen Schlussfolgerungen die gleichen.

Bemerkenswert an dieser Metaanalyse ist folgender Befund. Makrygianni und Reed (2010) fanden keine statistisch signifikanten Unterschiede in den Ergebnissen von Studien mit hoher und geringer methodischer Qualität (mit Ausnahme der Effektstärke für die Sprachfertigkeiten, welche in Studien mit geringerer methodischer Qualität als wirksamer erschienen). Studien von geringer methodischer Qualität sind nicht notwendigerweise „falsch“ und damit wertlos. Die geringe methodische Qualität weist nur auf ein höheres Risiko, dass die Ergebnisse falsch sein könnten, hin. Man kann aber abschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass die positiven Resultate der Studien geringer methodischer Qualität falsch sind, indem man sie mit den Ergebnissen der Studien höherer methodischer Qualität vergleicht. Findet man, wie zum Beispiel für den Bereich des Neurolinguistischen Programmierens (NLP), dass die methodische Qualität der Studien negativ mit der Wahrscheinlichkeit eines positiven Resultates korreliert, dass also eine Studie nur dann ein positives Resultat berichten kann, wenn sie nur wenige Vorsichtsmaßnahmen gegen Selbst- und Fremdtäuschung berücksichtigt (Witkowski, 2012), so ist dies ein starker Hinweis darauf, dass die positiven Resultate der methodisch schwachen Studien tatsächlich falsch sind. Hat die methodische Qualität der Studien jedoch keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines positiven oder negativen Resultats, verweist dies darauf, dass auch die Studien von geringerer methodischer Qualität wahrscheinlich „echte“ Resultate berichten.

Literatur

Chambless, D. L. & Hollon, S. D. (1998). Defining empirically supported therapies. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 66(1), 7-18. https://doi.org/10.1037/0022-006x.66.1.7

Gernsbacher, M. A. (2003). Is One Style of Early Behavioral Treatment for Autism ‚Scientifically Proven‘? Journal of Developmental and Learning Disorders, 7, 19-25.

Lovaas, O. I. (1987). Behavioral treatment and normal educational and intellectual functioning in young autistic children. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 55(1), 3-9. https://doi.org/10.1037/0022-006X.55.1.3

Makrygianni, M. K., Gena, A., Katoudi, S., & Galanis, P. (2018). The effectiveness of applied behavior analytic interventions for children with Autism Spectrum Disorder: A meta-analytic study. Research in Autism Spectrum Disorders, 51, 18-31. https://doi.org/10.1016/j.rasd.2018.03.006

Makrygianni, M. K. & Reed, P. (2010). A meta-analytic review of the effectiveness of behavioural early intervention programs for children with Autistic Spectrum Disorders. Research in Autism Spectrum Disorders, 4(4), 577-593. https://doi.org/10.1016/j.rasd.2018.03.006

Rogers, S. J., & Vismara, L. A. (2008). Evidence-based comprehensive treatments for early autism. Journal of Clinical Child & Adolescent Psychology, 37(1), 8-38. https://doi.org/10.1080/15374410701817808

Scruggs, T. E. & Mastropieri, M. A. (1998). Summarizing Single-Subject Research: Issues and Applications. Behavior Modification, 22(3), 221-242. https://doi.org/10.1177/01454455980223001

Spreckley, M. & Boyd, R. (2009). Efficacy of Applied Behavioral Intervention in Preschool Children with Autism for Improving Cognitive, Language, and Adaptive Behavior: A Systematic Review and Meta-analysis. The Journal of Pediatrics, 154(3), 338-344. https://doi.org/http://dx.doi.org/10.1016/j.jpeds.2008.09.012

Weinmann, S.; Schwarzbach, C.; Begemann, M.; Roll, S.; Vauth, C.; Willich, S. N.et al. (2009). Verhaltens- und fertigkeitenbasierte Frühinterventionen bei Kindern mit Autismus. GMS Health Technology Assessment, 5, 1-10. https://doi.org/10.3205/hta000072L

Witkowski, T. (2012). A review of research findings on Neuro-Linguistic Programming. The Scientific Review of Mental Health Practice, 9(1), 29-40.

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Verhaltensanalytische Autismustherapie

John Hall wurde als Kind als „autistisch“ diagnostiziert. Den Eltern wurde gesagt, dass er wahrscheinlich nie wird sprechen können und dass er geistig behindert sein wird. John nahm an einer verhaltensanalytisch fundierten Therapie teil. Diese Programme sind auch als „ABA“, „Verbal Behavior“ oder „Lovaas-Methode“ bekannt. Über das Ergebnis dieser Therapie berichtet er in diesem Video selbst.

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11/03/2013 · 09:17