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Sich abzulenken, wenn das Baby schreit, hilft manchmal

Eltern, deren Neugeborenes schreit, tun alles Mögliche, um das Kind zu trösten und zu beruhigen. Was aber, wenn das Kind sich nicht trösten lässt und trotzdem weiter schreit? Dies kann zu einem größeren Problem werden, insbesondere dann, wenn die Eltern keinen angemessenen Umgang mit den fortgesetzten Schreien finden können. Nach einer Studie von Krugman (1983) stellt fortgesetztes, untröstliches Schreien den häufigsten Anlass für Kindesmisshandlungen bei Neugeborenen dar. Es gibt zahlreiche Programme, die Eltern dabei helfen sollen, ihr schreiende Kind zu trösten und auf ein fortgesetzt schreiendes Kind angemessen zu reagieren. Wenn Kinder schreien, obwohl die Eltern alles getan haben, um die Bedürfnisse des Neugeborenen zu befriedigen, fühlen sich die Eltern oft frustriert oder wütend. Man rät Eltern in dieser Situation gelegentlich, das Kind an einem sicheren Ort zu belassen, weg zu gehen und sich abzulenken, etwa dadurch, dass man ein weiches Objekt (zum Beispiel einen sogenannten Stressball) drückt. Diese Empfehlung gilt jedoch nur, sofern das Schreien trotz ernsthafter Bemühungen, die Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen oder das Kind zu trösten, anhält.

Glodowski und Thompson (2016) untersuchten, ob Studierende, die dem per Tonband abgespielten Schreien eines Babys ausgesetzt waren, dieses Schreien länger aushielten, wenn sie einer ablenkenden Aktivität nachgingen. Die Forscher wählten aus 37 Studenten sechs aus, die in einem Vortest das Schreien eines Babys nicht länger als 10 Minuten aushielten. Im eigentlichen Versuch wurden die Versuchspersonen in einen Raum gebracht, der mit einem Tisch, einem Stuhl und einem Laptop ausgerüstet war. Auf dem Laptopmonitor sah man einen Startknopf, den die Versuchsperson anklicken konnte, das Bild eines schreienden Kindes und einen schwarzen Knopf. Sobald die Versuchsperson den Startknopf drückte, wurde eine Aufnahme eines Kinderschreiens mit einer Lautstärke von 80 dB abgespielt. Die Versuchsperson wurde aufgefordert, das Schreien so lange wie möglich zu ertragen. Über mehrere, maximal zehn Durchgänge wurde gemessen, wie lange die Versuchsperson das Schreien aushielt, bevor sie den schwarzen Knopf klickte, der das Schreien beendete. Nach spätestens 10 Minuten endete das Schreien. Die Versuchsperson musste aber auf jeden Fall 10 Minuten lang im Untersuchungsraum verbleiben, auch dann, wenn sie schon deutlich früher das Schreien beendet hatte. Unter der Kontrollbedingung konnte die Versuchsperson keinerlei ablenkenden Tätigkeiten nachgehen. Mobiltelefone und andere persönliche Gegenstände mussten zuvor abgegeben werden. In der Experimentalbedingung fand die Versuchsperson auf dem Tisch zusätzlich zum Laptop noch einen sogenannten Stressball, ein Kreuzworträtsel mit Stift, ein Sudoku-Spiel und ein Smartphone mit verschiedenen Spielen vor. Der Versuchsperson wurde nahegelegt, sich mittels dieser Gegenstände von den Schreien abzulenken. Die abhängige Variable war die Latenzzeit, bis die Versuchsperson durch das Drücken des schwarzen Knopfes das Kinderschreien beendete. Wie häufig und wie lange die Versuchsperson in der Experimentalbedingung einer ablenkenden Tätigkeit nachging, wurde durch unabhängige Beobachter erfasst. Drei der sechs Versuchspersonen hielten das Schreien des Kindes deutlich länger aus, wenn sie einer ablenkenden Aktivität nachgingen. Diese drei Versuchspersonen gingen den ablenkenden Aktivitäten deutlich länger nach als die anderen drei Versuchspersonen. Eine der drei anderen Versuchspersonen tolerierte weder in der Experimental- noch in der Kontrollbedingung das Schreien des Kindes auch nur für 1 Minute. Die Autorinnen empfehlen, diese Studie mit Eltern kleiner Kinder zu wiederholen, nach Möglichkeit unter eher typischen, ökologisch validen Bedingungen.

Glodowski, K. & Thompson, R. (2016). Do distracting activities increase tolerance for an infant cry? Journal of Applied Behavior Analysis, 50(1), 159-164.
Krugman, R. D. (1983). Fatal child abuse: analysis of 24 cases. Pediatrician, 12(1), 68-72.

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„ABA“ bei Autismus: Wissenschaftliche Belege

Die verhaltensanalytische Intervention („ABA“) ist die am besten untersuchte und wirksamste Therapie bei frühkindlichem Autismus. Dies ist durch zahlreiche Untersuchungen sehr gut belegt (vgl. hier, Weinmann et al. (2009): „Verhaltensanalytische Interventionen basierend auf dem Lovaas-Modell können weiterhin als die am besten empirisch abgesicherten Frühinterventionen angesehen werden“). Dennoch wird die wissenschaftliche Evidenz für ABA von einigen Personen außerhalb des Wissenschaftsbetriebs gelegentlich angezweifelt. Zum Beispiel wird die oben erwähnte DIMDI-Studie aus dem Zusammenhang heraus zitiert. Bspw. beklagen die Autoren der Studie, dass die Befundlage „keine solide Antwort auf die Frage zu[lasse], welche Frühintervention bei welchen Kindern mit Autismus am wirksamsten ist“ – d.h. also welche Kinder von welcher Intervention am meisten profitieren. Wer nicht aufmerksam liest, kann hierin ein negatives Urteil über „ABA“ sehen, ebenso, wer die in solchen Studien übliche Sprache nicht versteht („scheinen wirksam zu sein“, bedeutet nicht, dass sie nicht wirksam sind…).

Es erscheint sinnvoll, die Befundlage zu sichten. Wenn vorhanden, sollte man v. a. Übersichtsarbeiten (reviews) betrachten (vgl. den Leitfaden zur Prüfung von Verfahren von Schreck und Miller (2010), den ich hier wiedergebe). Dabei gilt nicht jede beliebige zusammenfassende Darstellung als Übersichtsarbeit. Beispielsweise ist dieser Artikel (Gernsbacher, 2003) weder eine systematische Literaturübersicht noch eine Meta-Analyse (obschon sie hier irreführenderweise als „Meta-Studie“ bezeichnet wird), sondern lediglich eine willkürliche Zusammenstellung von Studien, die von Gernsbacher (2003) diskutiert werden. Systematische Literaturübersichten sind, wie der Name schon sagt, systematisch und v. a. transparent. Die Autoren geben an, wo sie nach welchen Kriterien nach Studien gesucht haben und aufgrund welcher Kriterien sie aus den so gefundenen Artikeln wieder die Mehrzahl ausgeschlossen haben. Die verbliebenen Studien bewerten sie dann nach transparent dargelegten Kriterien, um somit zu einer zusammenfassenden Einschätzung zu kommen. Meta-Analysen wenden ein ähnliches Verfahren an, um Studien zu finden, deren Daten sie dann mittels statistischer Analysen zusammenfassen (d. h. Meta-Analysen berichten immer über statistische Analysen, daran kann man sie erkennen…). Da es für systematische Literaturübersichten und Metaanalysen viele verschiedene Möglichkeiten (Inklusionskriterien) gibt, um Studien auszuwählen und (bei den Metaanalysen) mehrere unterschiedliche statistische Analysemethoden, existieren in der Regel, wenn ein Gebiet schon einigermaßen beforscht wurde, oft mehrere systematische Literaturübersichten und Meta-Analysen nebeneinander – deren Ergebnisse nicht immer deckungsgleich sind.

Larson (2012) (hier und hier) fasst die Belege für die Wirksamkeit angewandter Verhaltensanalyse bei Autismus zusammen. Im Gegensatz zu dem, was im Internet gelegentlich verbreitet wird, kommen unabhängige Überblicksarbeiten generell zu der Schlussfolgerung, dass diese Maßnahmen wirksam sind und das die umfangreiche Forschung auf diesem Gebiet in der Regel von hoher Qualität ist. Seit 2012 sind noch etliche Studien und mehrere Meta-Analysen hinzugekommen, die alle zu vergleichbaren Schlussfolgerungen kommen. Beispielsweise kommen Makrygianni, Gena, Katoudi und Galanis (2018) in einer Meta-Analyse über 29 Studien zu dem Ergebnis, dass die Interventionen sowohl zu Zugewinnen beim IQ führen als auch zu verbesserten Kommunikations- und Sprachfertigkeiten.

Rogers und Vismara (2008) kommen z. B. zu dem Schluss, dass die Behandlungsprogramme nach Lovaas (1987) die Kriterien für ein evidenzbasiertes Verfahren nach Chambless und Hollon (1998) erfüllen.

Larson (2012) fand 45 unabhängige Metaanalysen und systematische Literaturübersichten. In keiner von diesen wird bestritten, dass Verhaltensanalytische Interventionen bei Autismus wirksam wären. Diese Überblicksarbeiten sind kritische Evaluationen. In vielen Fällen wurden in diesen Überblicksarbeiten andere, nicht verhaltensanalytisch basierte Behandlungsmethoden den Kategorien „ungenügende Belege“, „unbewiesen“, oder sogar „potentiell gefährlich“ zugewiesen. Wenn in den Überblicksarbeiten negative Schlussfolgerungen gezogen wurden, dann betrafen diese einen der folgenden Punkte:

  • Mit verhaltensanalytischen Interventionen erzielen nicht alle Kinder mit Autismus Fortschritte.
  • Verhaltensanalytische Interventionen sind weder die einzigen wirksamen Behandlungsmethoden, noch sind sie eindeutig die besten.
  • Es werden keine begründeten Methoden genannt, um diejenigen Kinder herauszufinden, die sich am besten für die Behandlung eignen.

Anmerken muss man, dass die eher kritischen Arbeiten sehr große und m. E. zum Teil nicht gut begründete Einschränkungen vornehmen, durch die ein Großteil der vorliegenden Studien ausgeschlossen wird (bspw. Spreckley & Boyd, 2009, die nur vier Studien berichten). Zudem verwendet man bei Forschungen im Bereich der Verhaltensanalyse sehr oft das Single-Subject-Design (Einpersonenexperiment). Zur Wirksamkeit der autismusspezifischen verhaltensanalytischen Therapie („ABA“) liegen hunderte solcher Studien vor, die in vielen Übersichten nicht berücksichtigt werden, weil diese lediglich Gruppenvergleiche akzeptieren. Dabei gibt es mittlerweile etablierte Methoden, um auch die Daten aus Single-Subject-Studien in Metaanalysen angemessen zusammenfassen zu können, vgl. etwa hier (Scruggs & Mastropieri, 1998).

Interessant ist auch ein Blick in die Cochrane-Library. Die Cochrane-Collaboration setzt sich für eine evidenzbasierte Medizin (EBM) ein. Sie veröffentlicht Übersichtsarbeiten über die Wirksamkeit von Medikamenten und medizinischen Behandlungsmethoden. Auch psychotherapeutische u. ä. Verfahren werden gelegentlich begutachtet. Cochrane ist sehr restriktiv, was die Kriterien für berücksichtigte Studien angeht. Die Cochrane-Übersicht für ABA (EIBI) kommt zu dem Schluss, dass es für die Wirksamkeit von ABA „einige“ Belege gibt. Das bestätigt meine obige Aussage (fast niemand bestreitet, dass ABA wirksam ist und dass es dafür Belege gibt). Andererseits klingt das nicht gerade euphorisch (vgl. aber meine Anmerkungen zur in solchen Studien üblichen Sprache oben). Sieht man sich jedoch an, was Cochrane zu anderen Methoden (z. B. hier, hier und hier) im Bereich der Behandlung von ASD (Autism Spectrum Disorders) zu sagen hat, ändert sich das Bild: Hier lautet die Schlussfolgerung meistens, dass es keine Belege oder nur schwache Beleg gibt.

Selbstverständlich gibt es, was die Studien zur Wirksamkeit verhaltensanalytisch basierter Interventionen bei Autismus angeht, mehr oder weniger gute Studien. Dies bedeutet aber nicht, dass die methodisch schwächeren Studien komplett wertlos wären, wie die Metaanalyse von Makrygianni und Reed (2010) zeigt. Um in die Metaanalyse aufgenommen werden zu können, musste eine Studie in einer Zeitschrift mit Gutachterverfahren erschienen sein und es musste sich um eine Längsschnittstudie handeln. Einpersonenexperimente und Falldarstellungen wurden somit ausgeschlossen. Die methodische Qualität der Studien wurde anhand von elf Kriterien beurteilt, darunter:

  • zufällige Zuordnung zu Experimental- und Kontrollgruppe
  • Beobachterübereinstimmung über 0,80
  • präzise Beschreibung der unabhängigen und abhängigen Variablen
  • Einsatz unabhängiger Beurteiler
  • Auswahl angemessener statistischer Analysen
  • ausreichende Gruppenstärken (n > 10)

Studien, die weniger als die Hälfte dieser Kriterien erfüllten, wurden als methodisch sehr schwach eingeschätzt und ausgeschlossen. Die verbleibenden 14 Studien wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Studien mit hoher methodischer Qualität erfüllten neun oder mehr der oben genannten Kriterien. Studien mit geringer methodischer Qualität erfüllten sechs bis acht der genannten Kriterien.

In dieser Metaanalyse erwiesen sich verhaltensanalytisch basierte Programme als sehr wirksam in der Verbesserung der intellektuellen, sprachlichen, kommunikativen und sozialen Fertigkeiten von Kindern mit Autismus. Die Effektstärken dieser Metaanalyse waren etwas höher als die Effektstärken, die in früheren Metaanalysen berichtet werden, doch waren die allgemeinen Schlussfolgerungen die gleichen.

Bemerkenswert an dieser Metaanalyse ist folgender Befund. Makrygianni und Reed (2010) fanden keine statistisch signifikanten Unterschiede in den Ergebnissen von Studien mit hoher und geringer methodischer Qualität (mit Ausnahme der Effektstärke für die Sprachfertigkeiten, welche in Studien mit geringerer methodischer Qualität als wirksamer erschienen). Studien von geringer methodischer Qualität sind nicht notwendigerweise „falsch“ und damit wertlos. Die geringe methodische Qualität weist nur auf ein höheres Risiko, dass die Ergebnisse falsch sein könnten, hin. Man kann aber abschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass die positiven Resultate der Studien geringer methodischer Qualität falsch sind, indem man sie mit den Ergebnissen der Studien höherer methodischer Qualität vergleicht. Findet man, wie zum Beispiel für den Bereich des Neurolinguistischen Programmierens (NLP), dass die methodische Qualität der Studien negativ mit der Wahrscheinlichkeit eines positiven Resultates korreliert, dass also eine Studie nur dann ein positives Resultat berichten kann, wenn sie nur wenige Vorsichtsmaßnahmen gegen Selbst- und Fremdtäuschung berücksichtigt (Witkowski, 2012), so ist dies ein starker Hinweis darauf, dass die positiven Resultate der methodisch schwachen Studien tatsächlich falsch sind. Hat die methodische Qualität der Studien jedoch keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines positiven oder negativen Resultats, verweist dies darauf, dass auch die Studien von geringerer methodischer Qualität wahrscheinlich „echte“ Resultate berichten.

Literatur

Chambless, D. L. & Hollon, S. D. (1998). Defining empirically supported therapies. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 66(1), 7-18. https://doi.org/10.1037/0022-006x.66.1.7

Gernsbacher, M. A. (2003). Is One Style of Early Behavioral Treatment for Autism ‚Scientifically Proven‘? Journal of Developmental and Learning Disorders, 7, 19-25.

Lovaas, O. I. (1987). Behavioral treatment and normal educational and intellectual functioning in young autistic children. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 55(1), 3-9. https://doi.org/10.1037/0022-006X.55.1.3

Makrygianni, M. K., Gena, A., Katoudi, S., & Galanis, P. (2018). The effectiveness of applied behavior analytic interventions for children with Autism Spectrum Disorder: A meta-analytic study. Research in Autism Spectrum Disorders, 51, 18-31. https://doi.org/10.1016/j.rasd.2018.03.006

Makrygianni, M. K. & Reed, P. (2010). A meta-analytic review of the effectiveness of behavioural early intervention programs for children with Autistic Spectrum Disorders. Research in Autism Spectrum Disorders, 4(4), 577-593. https://doi.org/10.1016/j.rasd.2018.03.006

Rogers, S. J., & Vismara, L. A. (2008). Evidence-based comprehensive treatments for early autism. Journal of Clinical Child & Adolescent Psychology, 37(1), 8-38. https://doi.org/10.1080/15374410701817808

Scruggs, T. E. & Mastropieri, M. A. (1998). Summarizing Single-Subject Research: Issues and Applications. Behavior Modification, 22(3), 221-242. https://doi.org/10.1177/01454455980223001

Spreckley, M. & Boyd, R. (2009). Efficacy of Applied Behavioral Intervention in Preschool Children with Autism for Improving Cognitive, Language, and Adaptive Behavior: A Systematic Review and Meta-analysis. The Journal of Pediatrics, 154(3), 338-344. https://doi.org/http://dx.doi.org/10.1016/j.jpeds.2008.09.012

Weinmann, S.; Schwarzbach, C.; Begemann, M.; Roll, S.; Vauth, C.; Willich, S. N.et al. (2009). Verhaltens- und fertigkeitenbasierte Frühinterventionen bei Kindern mit Autismus. GMS Health Technology Assessment, 5, 1-10. https://doi.org/10.3205/hta000072L

Witkowski, T. (2012). A review of research findings on Neuro-Linguistic Programming. The Scientific Review of Mental Health Practice, 9(1), 29-40.

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Wie man eine Unterhaltung führt

Nicht jedem fällt es leicht, eine angenehme Unterhaltung mit anderen Menschen zu führen. Dabei ist auch das – mit andern plaudern – etwas, das man lernen kann.

Beaulieu et al. (2014) berichten von dem verhaltensorientierten Training eines 21jährigen Studenten, der sich an die Studentenberatung einer Universität gewandt hatte, weil er Probleme damit hatte, normale Gespräche zu führen. Cornelius unterbrach seine Gesprächspartner häufig, stellte selbst selten Fragen, sprach mehr, als dass er zuhörte und berichtete zu spezifisch. Wenn er bspw. seinen Tagesablauf schildern sollte, berichtete er diesen viel detaillierte als es für den Gesprächspartner von Interesse sein konnte („Naja, ich stand erst auf, ging die Treppe hinunter und nahm mir in der Küche eine Schüssel, in die ich Cornflakes tat…“). Diese Defizite in den Konversationsfähigkeiten waren in mehreren Assessmentterminen festgestellt worden. In einem zwanzigminütigen Gespräch etwa war er nur drei Minuten lang in der Zuhörerrolle, er unterbrach seine Gesprächspartner bis zu 17mal in der Minute und stellte höchstens eine Frage je Minute (üblich ist das 2-3fache). Die Vergleichsdaten waren durch die Auswertung der Gespräche von gleichaltrigen Studenten ohne Probleme mit ihren Konversationsfähigkeiten gewonnen worden. Die Spezifität seiner Redebeiträge wurde auf einer Skala von 1 bis 4 von Beobachtern im Schnitt mit knapp „4“ bewertet („normal“ waren Werte von etwa „2“). Die Gespräche, die Cornelius im Laufe des Assessments und des Trainings führte, wurden auf Video aufgezeichnet und von Beobachtern ausgewertet, die verblindet waren (nichts über den Zweck der Untersuchung oder die Maßnahmen wussten).

Das Training dauerte jeweils eine Stunde und fand dreimal in der Woche über insgesamt knapp fünf Monate statt. Zunächst trainierten Beaulieu et al. (2014) die Merkmale „Unterbrechungen“, „Zeit in der Zuhörerrolle“, „Fragen stellen“ und „inhaltliche Spezifität“. Das Training der einzelnen Merkmale begann zeitlich versetzt (nach der Methode der „multiplen Basisraten“), um die spezifische Wirkung des Trainings feststellen zu können. Das Training beinhaltete Informationen über gelungene Kommunikation, das Demonstrieren von Beispielen für richtiges und falsches Gesprächsverhalten, das Üben mit Feedback in 20minütigen Gesprächen und Hausaufgaben. Das Feedback wurde sowohl grafisch als auch verbal vermittelt. Cornelius wurde z. B. eine Grafik gezeigt, auf der er sehen konnte, wie viel Zeit er in den letzten Übungsgesprächen in der Zuhörerrolle verbracht hatte. Wenn Cornelius im Gespräch den Gesprächspartner unterbrach, wurde ihm zunächst nonverbal Feedback gegeben: Der Trainer hatte vor sich auf dem Tisch eine Anzahl von Glasperlen liegen. Wenn Cornelius ihn unterbrach, nahm er jeweils eine davon weg. Dieses Verfahren wurde gewählt, um den Gesprächsfluss nicht zu unterbrechen. Gegen Ende des Trainings wurde das Feedback nach und nach verbal gegeben, indem der Trainer Cornelius darauf hinwies, dass dieser ihn gerade unterbrochen hatte. Das Fragenstellen wurde über Rollenspiele geübt.

Die trainierten Verhaltensmerkmale verbesserten sich im Laufe des Trainings deutlich. Cornelius unterbrach den Gesprächspartner nun kaum mehr (im Schnitt weniger als einmal je Minute), er war in 20 Minuten fünf bis zehn Minuten lang der Zuhörer (der „Normalwert“ bei gleichaltrigen Studenten lag bei 9,8 Minuten je 20 Minuten), er stellt im Schnitt zwei bis drei Fragen je Minute und die Spezifität seiner Redebeiträge wurde nun im Schnitt von den unabhängigen Beobachtern mit rund „2“ bewertet. Diese Werte konnte Cornelius auch in mehreren Gesprächen mit Gleichaltrigen, die gegenüber dem Untersuchungsziel verblindet („naiv“) waren, zeigen.

Nicht trainiert, aber beobachtet wurde die Häufigkeit, mit der Cornelius seinem Gesprächspartner positives Feedback gab (z. B. Zustimmung signalisierte). Er gab im Schnitt fünfmal je Minute seinem Gegenüber positives Feedback, unabhängig von dem jeweiligen Stand des Trainings. Der Wert variierte stark, je nachdem, um welche Gesprächsinhalte es ging.

Die Autoren vermuten, dass Cornelius sich im Lauf des Trainings Selbstkontrolltechniken aneignete, d. h. sogenanntes Self-Editing betrieb. Er begann im Lauf des Trainings etwa, sich selbst zu stoppen, wenn er sein Gegenüber unterbrach; er entschuldigte sich dann dafür, dass er den anderen unterbrochen hatte. Bisweilen sagte er leise zu sich „Ich sollte jetzt eine Frage stellen“.

Cornelius empfand das Training als angenehm und hilfreich. Er beschrieb sich als selbstischerer in sozialen Situationen. Dieser Eindruck wurde auch von den unabhängigen Beobachtern geteilt. Seine Selbstsicherheit hatten sie vor dem Training auf einer Skala von 1 bis 10 mit durchschnittlich 2,3 bewertet, nach dem Training betrug dieser Wert im Schnitt 5,3.

Leider liegen keine langfristigen Ergebnisse vor, da Cornelius die Universität verließ, nachdem er seinen Abschluss gemacht hatte.

Diese kleine Studie, mit nur einer Versuchsperson, die auf nur sechs Seiten in der Zeitschrift The Analysis of Verbal Behavior berichtet wird, ist m. E. ein schönes Beispiel für angewandte Forschung in der Verhaltensanalyse. Das Problem, mit dem sich der Teilnehmer vorstellte, wurde zunächst analysiert und so objektiv wie möglich gemessen. Das Training wurde systematisch und effizient durchgeführt, wobei der Artikel transparent dahingehend ist, was im Training tatsächlich passierte. Maßnahmen wie die Verblindung, die Berechnung der Beobachterübereinstimmung, die Sicherstellung der Generalisation der erworbenen Fähigkeiten über Situationen hinweg und die soziale Validität des Trainings werden eingehend berichtet. Und letztlich war die Maßnahme auch erfolgreich, im Sinne des Klienten.

Literatur

Beaulieu, Lauren; Hanley, Gregory P. & Santiago, Joana L. (2014). Improving the conversational skills of a college student with peer-mediated behavioral skills training. The Analysis of Verbal Behavior, 30, 48-53.

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