Behavior Based Safety (BBS) ist die mit Abstand bestuntersuchte und erfolgreichste Methode zur Verbesserung des Verhaltens im Bereich der Arbeitssicherheit (Zimolong et al., 2006). Im deutschsprachigen Raum ist BBS kaum bekannt. Wenn in Deutschland über „BBS“ berichtet wird, dann wird es meist falsch dargestellt. Wenn Beratungsfirmen in Deutschland „BBS“ anbieten, dann oft mit der Behauptung, BBS reduziere die Zahl der Arbeitsunfälle um bis zu 80 % – wobei das, was diese Firmen anbieten, mit BBS kaum mehr als den Namen gemeinsam hat. – Erfolg schafft Nachahmer, auch schlechte.
Schneller noch als „echtes“ BBS verbreitet sich aber m. E. die ungerechtfertigte Kritik an BBS. Christopher Goulart (2013a/b) stellt die verbreitetsten Kritikpunkte vor und diskutiert sie.
Kritik an BBS wird nach Einschätzung von Christopher Goulart (2013) am häufigsten von drei Personengruppen geäußert:
- Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter, die befürchten, mit BBS solle die Schuld an den Arbeitsunfällen auf die Mitarbeiter geschoben werden.
- Berater in Sachen Arbeitssicherheit, die andere Ansätze verwenden.
- Menschen, die einen gescheiterten Versuch, BBS in einem Unternehmen einzuführen, miterlebt haben.
Goulart analysiert die häufigsten Kritikpunkte, die gegen BBS vorgebracht werden und entgegnet diesen.
1. „Bei BBS geht es darum, den Mitarbeitern die Schuld an den Unfällen zu geben“
Keines der formalisierten BBS-Konzepte (Krause, McSween, Aubrey Daniels usw.) erlaubt es auch nur ansatzweise, den Mitarbeitern die Schuld an Unfällen zu geben. BBS setzt in aller Regel vor allem auf bestätigendes Feedback zu sicheren Verhaltensweisen. Wer mit BBS versucht, den Mitarbeitern die Schuld an Unfällen zu geben, scheitert mit seinem BBS-System. Ohnehin geht es bei BBS nicht darum, den Schuldigen zu finden, sondern die Ursachen für das Verhalten. Jedes riskante Verhalten, dass ein Mitarbeiter zeigt, ist das Ergebnis eines Versagens des Systems, nicht des Individuums. Die Frage lautet nicht, warum der Mitarbeiter sich riskant verhalten hat, sondern welche Bedingungen dazu geführt haben, dass das riskante Verhalten begünstig wurde. Natürlich kann man nicht verhindern, dass ein System, das dazu dient, Mitarbeitern die Schuld an Unfällen zu geben, von den Betreibern „BBS“ genannt wird. Nach Goularts Einschätzung hat dieses Phänomen aber in den letzten zehn Jahren abgenommen. Kein schriftlicher oder offizieller Ansatz zu BBS beinhaltet, dass den Mitarbeitern die Schuld gegeben wird.
2. „BBS geht zu Lasten der herkömmlichen Arbeitssicherheit“
BBS dient im Gegenteil dazu, das Erkennen von Risiken zu begünstigen. Mitarbeiter, die in einem BBS-System arbeiten, erkennen Sicherheitsrisiken leichter, sie reden öfter darüber und sie haben keine Angst, Sicherheitsprobleme bekannt zu machen. Goulart illustriert das an mehreren ähnlichen Behauptungen:
- „BBS ist billiger, als Sicherheitsrisiken zu beseitigen und in die Sicherheitstechnik zu investieren“
BBS verlangt von den Firmen, die es erfolgreich betreiben wollen, sehr viel. Alle Ebenen des Betriebs müssen einbezogen sein. Die Firma muss sich nicht nur eine Technik, wie man beobachtet und Feedback gibt, angewöhnen, sie muss, um erfolgreich BBS zu betreiben, ihre Philosophie ändern.
- „BBS bringt Mitarbeiter dazu, nur noch auf die Handlungen der anderen Mitarbeiter zu achten und die physischen Gefahren zu vernachlässigen“
Wenn man ein Sicherheitsproblem durch eine technische Lösung beseitigen kann, sollte und muss man das auch tun. Es ist ungleich leichter, eine riskante Verhaltensweise technisch zu verhindern, als zu versuchen, sie durch ein Programm zur Verhaltensänderung zu verändern.
- „BBS ist eine Methode, die der Betrieb anwendet, um die Verantwortung für die Sicherheit auf die Mitarbeiter abzuwälzen“
Die Führungskräfte können die Verantwortung für die Arbeitssicherheit weder im rechtlichen noch im moralischen Sinn auf die Mitarbeiter abwälzen. Die meisten Konzepte und Texte zum BBS betonen zudem, wie wichtig es ist, dass auch die Führungskräfte ihren Beitrag zu BBS leisten. Die Unterstützung der Leitung und der Vorgesetzten ist zudem der wichtigste Erfolgsfaktor für ein BBS-System.
3. „Bei BBS geht es vor allem um Belohnungen und Prämien“
Die sogenannten materiellen Verstärker spielen bei BBS meist eine sehr geringe Rolle. Wenn die Mitarbeiter Belohnungen erhalten, dann handelt es sich um Dinge, die für den Mitarbeiter einen besonderen Wert haben und die sicheres Verhalten auch wirklich verstärken können (dazu beitragen, dass die Rate des sicheren Verhaltens ansteigt). Die materielle Verstärkung ist nie an Ergebnisse (wie die Unfallzahlen) gebunden, die der Mitarbeiter nicht oder nur teilweise beeinflussen kann. Die materiellen Verstärker, die Mitarbeiter bekommen, dürfen nicht dazu führen, dass sich die anderen Mitarbeiter, die diese Verstärker nicht bekommen, zurückgesetzt fühlen. Aus diesem Grund vermeidet man bei BBS auch Wettbewerbe, die nur einen Gewinner und sonst lauter Verlierer kennen. Die üblichen „Give-aways“ – Mützen, Jacken und Stifte mit Firmenlogo erweisen sich selten als wirksame Verstärker. Auch vom Einsatz von Geld als Verstärker wird bei BBS abgeraten.
In einigen Fällen soll der ungeschickte Einsatz von materiellen Verstärkern dazu beigetragen haben, die intrinsische Motivation der Mitarbeiter zu mindern (Beswick, 2007) – im Gegensatz zum spezifischen Einsatz von Verstärkung und Feedback, der zuverlässig die intrinsische Motivation verbessern kann.
4. „BBS geht davon aus, dass die meisten Unfälle und Verletzungen durch Verhaltensweisen und Handlungen verursacht werden, nicht durch unsichere Bedingungen und Gefährdungen“
Diese Kritik soll nahelegen, dass BBS sich auf unbegründete Annahmen bezieht. In Publikationen zu BBS wird bisweilen ausgeführt, dass die meisten Unfälle auf riskantes Verhalten zurückzuführen sind. Tatsächlich aber muss man feststellen, dass viele Faktoren zusammenkommen müssen, damit ein Unfall passiert. Reason (1990) illustriert dies mit dem „Schweizer-Käse-Modell“: Man stelle sich mehrere Scheiben Schweizer Käse vor. Jede Scheibe steht für einen Aspekt der Arbeitssicherheit (Technik, Regeln, Verhalten, Zufall usw.) Jede dieser Scheiben hat Löcher. Die Löcher stehen dafür, dass keine Maßnahme für sich genommen Unfälle zu 100 % verhindert. Die Technik kann versagen, die Regeln nicht jeden Fall erfassen und, natürlich, auch die Menschen können sich falsch verhalten. Nur wenn ein Ereignis durch alle Löcher in diesen Käsescheiben rutscht, kommt es tatsächlich zu einem Unfall. BBS versucht, um im Bild zu bleiben, die Löcher in der Scheibe zu stopfen, die für das Verhalten der Mitarbeiter steht.
Die These, dass die meisten Unfälle durch menschliches Verhalten verursacht werden, geht im Wesentlichen auf die Arbeit von H. W. Heinrich (1931) zurück. Doch die Arbeit von Heinrich muss kritisch hinterfragt werden (vgl. unten). Prinzipiell ist die Vorstellung, dass eine Ursache allein für einen Unfall verantwortlich ist, weltfremd (vgl. auch Gano, 2007). Daher ist BBS auch nicht als ein Arbeitssicherheitskonzept konzipiert, das andere Aspekte der Sicherheit ignoriert. BBS ersetzt keine der üblichen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitssicherheit im technischen oder administrativen Bereich. Wenn BBS mit anderen Maßnahmen kombiniert wird, sind die Erfolge sehr robust (Goulart, 2010).
Goulart (2013b) empfiehlt, dass man nach Möglichkeit nicht über prozentuale Anteil des Verhaltens als Ursache für Unfälle diskutieren sollte. Dies führt zu nichts und erfordert immer, dass man darlegen muss, dass „Ursache“ nicht „Schuld bedeutet usw. Nichts desto trotz muss man festhalten, dass auch unsichere Arbeitsbedingungen technischer Natur auf das Handeln von Menschen zurückzuführen sind.
BBS dafür zu kritisieren, dass es sich mit dem Verhalten beschäftigt ist absurd. Falsch wird die Kritik dann, wenn unterstellt wird, BBS versuche das Verhalten zu verändern, ohne die anderen Aspekte der Arbeitssicherheit zu berücksichtigen.
5. „BBS fußt auf den umstrittenen Arbeiten von H. W. Heinrich“
H. W. Heinrich ist bekannt für „Heinrichs Gesetz“: Auf jeden Unfall mit schweren Verletzungen kommen 29 Unfälle mit nur leichten Schäden und 330 Unfälle ohne Verletzungen. Heinrich (1931) behauptete aber auch aufgrund seiner Untersuchungen, dass 88 % aller Verletzungen durch menschliches Versagen verursacht werden. Heinrich wird daher immer wieder unterstellt, er habe die Schuld an den Arbeitsunfällen den Arbeitern zuschieben wollen. Doch auch er betonte, dass vor allem anderen die Vermeidung physischer Gefahren steht.
“No matter how strongly the statistical records emphasize personal faults or how imperatively the need for educational activity is shown, no safety procedure is complete or satisfactory that does not provide for the … correction or elimination of … physical hazards” (Heinrich, 1931).
Unabhängig davon sind H. W. Heinrichs Arbeiten nicht der Grundstock von BBS. Viel entscheidender sind Forscher wie Thorndike, B. F. Skinner, Komacki, Sulzer-Azaroff, Daniels, Geller, Cooper und Krause.
6. „BBS beruht auf einer fragwürdigen Wissenschaft“
Eckenfelder (2003) listet elf Probleme auf, die er bei BBS sieht:
- Die Vorgesetzten werden durch BBS irregeführt, sie achten aufgrund von BBS nicht mehr auf alle Aspekte der Arbeitssicherheit.
- BBS ist nur alter Wein in neuen Schläuchen.
- Es verwischt den Fokus bei der Vermeidung von Unfällen.
- BBS kümmert sich um das Verhalten, dabei sind die Einstellungen das wirkliche Problem.
- BBS leugnet die Bedeutung von Überzeugungen und Werten.
- BBS manipuliert die Arbeiter und behandelt sie wie kleine Kinder.
- Es verschleiert die eigentlichen Ursachen von Unfällen und verzögert so die eigentlichen Lösungen.
- BBS ist teuer und aufwändig, es funktioniert auf Kosten der Produktivität.
- BBS zersplittert das Arbeitsmanagement, statt die Bemühungen zu integrieren.
- BBS ist kein selbsttragender Prozess.
- BBS fußt auf einer fragwürdigen Wissenschaft.
Für die von Eckenfelder (2003) genannten Probleme 1, 5, 6, 7 und 8 gibt es keinerlei Belege, dass es sich so verhalten könnte. Auf die Probleme 3, 5, 7 und 9 wurde bereits eingegangen. Problem 2 ist kein Kritikpunkt, denn die Tatsache, dass die Prinzipien von BBS lange bekannt sind, macht diese ja nicht unwirksam.
Dennoch sollte man die die Kritikpunkte 4, 5 und 8 beachten, so Goulart (2013b). Eckenfelder (2003) führt aus: „BBS is largely based on experiments with rodents“ (Dt.: “BBS fußt größtenteils auf Experimenten mit Nagetieren”). Dieser Aussage kann man entgegen halten, dass Menschen mit anderen Tieren einen Großteil ihrer biologischen, physiologischen und auch psychologischen Prozesse gemeinsam haben. Die BBS zugrundeliegenden Prozesse wurden sowohl mit Tieren als auch mit Menschen untersucht und für gültig befunden. BBS als ein Prozess zur Verbesserung des arbeitssicheren Verhaltens wurde in etlichen Studien (allesamt mit menschlichen Versuchspersonen) eingehend untersucht. Dabei wurden auch Aspekte des Verhaltens, die spezifisch bei Menschen eine Rolle spielen (z. B. Selbstbeobachtung und der Beobachtereffekt, vgl. Olson & Winchester, 2008; Alvero & Austin, 2004) in Hinsicht auf ihre Funktion im Bereich der Arbeitssicherheit und im BBS-Prozess erforscht.
Spinnt man die Argumentation von Eckenfelder (2003) weiter, müsste man auch einen Großteil der Forschungsergebnisse der Medizin, Psychologie und der Ingenieurswissenschaften verwerfen (und auch der Physik – die Fallgesetze sind sicherlich noch nicht hinreichend mit menschlichen Körper untersucht worden, dennoch halten wir sie auch hier für gültig).
Das Problem Nummer 8 wurde von Cooper (2010) eingehend behandelt. Der Return on Investment (ROI) ist für BBS-Prozesse erheblich. Cooper nennt in seiner Untersuchung einen Betrag von 1,7 Millionen Dollar je 200.000 Arbeitsstunden.
Fazit
Nach Prüfung der üblichen Kritik bleibt bestehen, dass BBS das am besten untersuchte und erfolgreichste System zur Veränderung des arbeitssicheren Verhaltens ist (Zimolong et al., 2006). Zudem hilft BBS dabei, die Sicherheitskultur eines Betriebes positiv zu verändern, von der Schuldkultur zu einer Kultur der Verantwortung und Wertschätzung (Goulart, 2010).
Kritiker von BBS kritisieren oft ein Zerrbild, sie verwenden unangebrachte Vergleiche, unterschlagen Informationen und nutzen einer unpräzise Sprache. Viele Kritiker, so Goulart (2013b), ziehen es vor, ihre Kritik an BBS anonym zu äußern. Auch dies sagt viel über die Qualität der Kritik und die Motivation der Kritiker aus.
Literatur
Alvero, Alicia M. & Austin, John. (2004). The effects of conducting behavioral observations on the behavior of the observer. Journal of Applied Behavior Analysis, 37, 457-468. PDF 164 KB
Beswick, David. (2007). Management implications of the interaction between intrinsic motivation and extrinsic rewards. Internetresource, Zugriff am 17.10.2013.
Cooper, D. (2010). The return on investment oft he BBS process. Italian Journal of Occupational Medicine and Ergonomics: Supp I.A Psychology, 32(1), A15-A17.
Eckenfelder, Donald J. (2003). The Antidote for Behavior-Based Safety: The Virtues and Vices Associated with BBS and The Cure. Internetressource, Zugriff am 17.10.2013.
Gano, D. (2007). Apollo root cause analysis – A new way of thinking. Third Editon. Midland,
MI: Apollonian Publications.
Goulart, C. (2010). Integrity based safety. RCI Safety Web Based Publication. Internetressource.
Goulart, Christopher. (2013a). Response to the criticisms of Behavior Based Safety (BBS). OBM Network News, 27(2), 4-11.
Goulart, Christopher. (2013b). Response to the criticisms of Behavior Based Safety (Part II). OBM Network News, 27(3), 1-9.
Heinrich, H. W. (1931). Industrial accident prevention: A scientific approach. New York, NY: McGraw-Hill.
Olson, Ryan & Winchester, Jamey. (2008). Behavioral self-monitoring of safety and productivity in the workplace: A methodological primer and quantitative literature review. Journal of Organizational Behavior Management, 28(1), 9-75.
Reason, J. (1990). Human error. New York, NY: Cambridge University Press.
Zimolong, Bernhard; Elke, Gabriele & Trimpop, Rüdiger (2006). Gesundheitsmanagement. In B. Zimolong & U. Konradt (Hrsg), Ingenieurpsychologie (S. 633-668). Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich D (Praxisgebiete). Serie III (Wirtschafts-, Organisations- und Arbeitspsychologie). Band 2. Göttingen: Hogrefe. PDF 145 KB