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Warum Lob scheinbar nicht wirksam, Bestrafung scheinbar aber wirksam ist

Aus der Verhaltenswissenschaft ist hinreichend bekannt, dass Lob und andere Arten von Belohnungen in den meisten Fällen dazu führen, dass ein Verhalten häufiger gezeigt wird. Die verbreitete Auffassung, Belohnungen würden die sogenannte intrinsische Motivation schmälern, lässt sich nicht aufrechterhalten (Cameron, Banko & Pierce, 2001; Eisenberger & Cameron, 1996). Der Einsatz aversiver Reize führt dagegen zu weniger nachhaltigen Verhaltensänderungen. Dennoch ist in der Öffentlichkeit die Auffassung verbreitet, das Lob und Belohnungen nachteilige Auswirkungen haben können. Eine Person, die gelobt oder belohnt wurde, strenge sich danach nicht mehr so an wie zuvor. Bestrafungstechniken werden dagegen oft als generell wirksamer betrachtet.

Die Regression zur Mitte ist verantwortlich

Eine Ursache für diese unter Laien verbreitete falsche Wahrnehmung dürfte der Effekt der statistischen Regression sein (Kahneman & Tversky, 1973; Tversky & Kahneman, 1974). Statistische Regression tritt dann auf, wenn ein Messwert durch mehrere, zum Teil dem Zufall unterliegende Einflussgrößen verursacht wird. Sie besagt, dass auf einen extrem ausfallenden Messwert höchstwahrscheinlich ein weniger extremer Messwert folgen wird (daher spricht man auch von der Regression zur Mitte). Die Regression fällt umso stärker aus, je extremer der erste Messwert war und je größer die Rolle des Zufalls bei der Messung ist. Gerade bei der Beobachtung von Verhalten spielt der Regressionseffekt eine große Rolle. Die meisten Arten von Verhalten werden durch viele, zum Teil unkontrollierbare Einflussfaktoren determiniert.

Verhalten wird üblicherweise dann gelobt, wenn es in einer bestimmten Weise überdurchschnittlich (gut) war. Bestraft wird Verhalten dann, wenn es unterdurchschnittlich (schlecht) war. Auf einen überdurchschnittlichen Wert folgt wahrscheinlich ein Wert, der wieder näher am arithmetischen Mittel liegt. Ebenso folgt auf einen unterdurchschnittlichen Wert wahrscheinlich ein Wert, der weniger unterdurchschnittlich ist. Die Folge davon ist, laut Schaffner (1985), dass die Person, die das Verhalten einer anderen Person durch Lob oder Bestrafung verändern möchte, für das Loben bestraft wird und für das Bestrafen belohnt wird.

Kahneman und Tversky (1973) berichtet in diesem Zusammenhang von einer Flugschule, die aufgrund verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse begann, Flugschüler immer dann zu loben, wenn sie eine perfekte Landung hingelegt hatten. Mit der Zeit lehnten die Fluglehrer jedoch diese Praxis ab. Sie stellten fest, dass das Loben des Flugschülers dazu führte, dass dieser beim nächsten Mal eine schlechtere Landung hingelegte.

Ein Versuch zur Verwendung von Lob und Strafe

Schaffner (1985) führte eine Studie durch, bei der die Versuchspersonen einen (hypothetischen) Schüler entweder loben oder bestrafen konnten. Den Versuchspersonen wurde über einen Computermonitor angezeigt, zu welcher Zeit der Schüler die Schule betrat. Den Versuchspersonen wurde mitgeteilt, dass der Schüler bisweilen zu spät in die Schule komme. Sie sollten den Schüler dazu bringen, immer spätestens um 8:30 Uhr in der Schule zu sein. Die Versuchspersonen konnten per Eingabe am Computer den Schüler entweder sehr loben, etwas loben, etwas bestrafen, sehr bestrafen oder gar nicht reagieren. Nach ihrer Eingabe wurde angezeigt, zu welcher Zeit der Schüler am nächsten Tag die Schule betrat. Nun sollten die Versuchspersonen wieder entscheiden, ob sie den Schüler loben, bestrafen oder ignorieren wollten. Nach 15 Durchgängen sollten die Versuchspersonen beurteilen, für wie wirksam sie Lob oder Bestrafung bei der Einflussnahme auf das Verhalten des Schülers hielten. Die Zeiten, zu denen der Schüler die Schule betrat, waren jedoch unabhängig von dem, was die Versuchspersonen taten. In einer Bedingung streuten die Zeiten um einen Mittelwert (8:31 Uhr) herum (mit einer Standardabweichung von 5 Minuten). In einer anderen Bedingung verbesserten sich die Werte des Schülers über die 15 Tage hinweg leicht, jedoch ebenfalls mit einer zuvor programmierten Streuung.

Generell nutzten die Versuchspersonen, bei denen sich das Verhalten des Schülers im Schnitt nicht veränderte, die Bestrafung häufiger als das Lob (55 % zu 45 %). Interessanterweise benutzten die Versuchspersonen über die einzelnen Durchgänge hinweg häufiger das Lob. In den ersten fünf Durchgängen betrug das Verhältnis von Lob zu Bestrafung noch 0,39, in den nächsten fünf Durchgängen 0,66 und in den letzten fünf Durchgängen 0,82. Auch der Anteil von starkem Lob gegenüber leichtem Lob vergrößerte sich. Die Versuchspersonen lobten und bestraften in Abhängigkeit von der Ankunftszeit des Schülers. Im Schnitt wurde starkes Lob dann eingesetzt, wenn der Schüler um 8:25 Uhr die Schule betrat, starke Bestrafung wurde dann angewendet, wenn der Schüler erst um 8:35 Uhr die Schule betrat.

Im Gegensatz zum Verhalten der Versuchspersonen (die zunehmend mehr lobten) steht die Einschätzung der Versuchspersonen, wie wirksam Lob und Bestrafung waren. 32,5 % der Versuchspersonen meinten, dass Lob das Gegenteil von dem bewirke, was beabsichtigt sei. Dagegen wurde von 25,9 % der Versuchspersonen Bestrafung als sehr wirksam bezeichnet. Nur 9 % der Versuchspersonen meinten (richtigerweise) dass sowohl Lob als auch Bestrafung unwirksam sein.

Unter der Bedingung, dass das Verhalten des Schülers sich nach und nach leicht besserte, fielen sowohl das Verhalten als auch die Einschätzungen der Versuchspersonen nicht wesentlich anders aus. Im Gegenteil, die Einschätzung, dass Lob unwirksam bis schädlich sei und dass Bestrafung wirksam sei, war hier noch ausgeprägter.

Eine Replikation des Versuchs

Ich (2020) habe die Studie von Schaffner (1985) mit Studierenden der Sozialen Arbeit (N=226) repliziert. Dabei zeigte sich, dass die Versuchspersonen beim ersten Schüler (dessen Verhalten sich nicht veränderte, wobei die Ankunftszeiten mit einer Standardabweichung von 5 Minuten um den Mittelwert 8:30 Uhr streuten) über die 15 Durchgängen hinweg zunehmend mehr straften (vgl. Abb. 1). Dies bestätigt die Vermutung, dass Menschen zunehmend weniger loben und mehr strafen, wenn Verhalten frei variiert. Nur 10 % bis 12 % der Studierenden erkannten, dass Ihre Reaktionen (ob sie den Schüler lobten oder ermahnten) keine Auswirkungen auf das Verhalten des Schülers hatte. Sowohl Lob als Ermahnung wurden überwiegend als wenig effektiv eingeschätzt.

Beim zweiten Schüler, der (mit ähnlicher Streuung) zunehmend pünktlicher kam, setzten die Studierenden über die 15 Durchgänge hinweg mehr Lob ein (vgl. Abb. 2). Sowohl Lob als auch Ermahnung wurden hier als wirksamer erlebt als beim ersten Schüler.

Die Ergebnisse unterscheiden sich von Schaffner (1985). Dies mag damit zusammenhängen, dass es sich bei den Versuchspersonen der Replikationsstudie um Studierende handelte, die zuvor bereits Lehrveranstaltungen besucht hatten, die die differentielle Wirksamkeit von positiver Verstärkung und Bestrafung behandelten.

Literatur

Cameron, J.; Banko, K. & Pierce, W. D. (2001). Pervasive negative effects of rewards on intrinsic motivation. The Behavior Analyst, 24(1), 1-44.
Eisenberger, R. & Cameron, J. (1996). Detrimental effects of reward: Reality or myth? American Psychologist, 51(11), 1153-1166.
Kahneman, D. & Tversky, A. (1973). On the psychology of prediction. Psychological Review, 80(4), 237-251.
Schaffner, P. E. (1985). Specious learning about reward and punishment. Journal of Personality and Social Psychology, 48(6), 1377-1386.
Tversky, A. & Kahneman, D. (1974). Judgements under uncertainty. Heuristics and biases. Science, 185, 1124-1131.

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Eingeordnet unter Verhaltensanalyse, Verstärkung

Der Glaube an den freien Willen – ein Resultat des Wunsches, andere zu bestrafen?

Ob Menschen über einen freien Willen verfügen und wenn ja, wie das funktionieren soll, darüber herrscht unter Philosophen wie Wissenschaftlern Uneinigkeit. Der Glaube an den freien Willen hat aber Konsequenzen für das Verhalten. Wenn wir glauben, dass ein Mensch sich so verhält, wie er sich verhält, weil er seinem freien Willen folgt, bewerten wir seine Handlungen anders, als wenn wir glauben, dass sein Verhalten determiniert ist. Andererseits ist unser Glaube an den freien Willen von den Umständen abhängig. Tendenziell scheint die Überzeugung vom freien Willen wichtiger zu sein, wenn es um moralisch verwerfliche statt moralisch positive bewertete Handlungen geht. Schon Friedrich Nietzsche vermutete, dass es vor allem unser Wunsch sei, andere zu bestrafen, der uns an den freien Willen glauben lässt:

  • Irrthum vom freien Willen. – Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff „freier Wille“: wir wissen nur zu gut, was er ist – das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es giebt, zum Zweck, die Menschheit in ihrem Sinne „verantwortlich“ zu machen, das heisst sie von sich abhängig zu machen… Die Menschen wurden „frei“ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schuldig werden zu können: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden. (Nietzsche, Götzendämmerung)

Für diese Vermutung fanden Clark et al. (2014) in mehreren Studien nun überzeugende Belege.

Zunächst konnte sie feststellen, dass ihre Versuchspersonen stärker von der Existenz des freien Willens überzeugt waren, nachdem sie zuvor über eine unmoralische Handlung (im Gegensatz zu einer neutralen Handlung) nachgedacht hatten. Weiterhin fanden sie, dass dieser Effekt auf die stärkere Motivation, den Täter zu bestrafen, zurückzuführen war. In einem Feldexperiment konnten sie nachweisen, dass Studenten, die Zeugen waren, wie ein Kommilitone offenkundig betrog, stärker an einen freien Willen glaubten, was wiederum auf das Bedürfnis zu bestrafen zurückzuführen war. Versuchspersonen, die zuvor einen Text über das unmoralische Verhalten von Menschen gelesen hatten, fanden Berichte über Forschungen, die kritisch gegenüber der Annahme eines freien Willens waren, weniger überzeugend. Zuletzt untersuchten die Autoren noch, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Häufigkeit von Morden und anderen Verbrechen in einem Land und der Verbreitung des Glaubens an einen freien Willen bei der Bevölkerung dieses Landes. Je mehr Verbrechen es gab, desto verbreiteter war der Glaube an den freien Willen.

Literatur

Clark, Cory J.; Luguri, Jamie B.; Ditto, Peter H.; Knobe, Joshua; Shariff, Azim F. & Baumeister, Roy F. (2014). Free to punish: A motivated account of free will belief. Journal of Personality and Social Psychology, 106(4), 501-513.

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Eingeordnet unter Philosopie, Psychologie

BBS und Disziplin

Verhaltensorientierte Arbeitssicherheit (Behavior Based Safety, BBS) ersetzt nicht die disziplinarische Durchsetzung von Sicherheitsvorschriften. Im Gegenteil, ein funktionierendes Disziplinarsystem im Bereich der Arbeitssicherheit ist Voraussetzung für ein funktionierendes BBS-System.

BBS ersetzt keinen Teil der üblichen Sicherheitsmaßnahmen in einem Betrieb. Weder soll an der Technik gespart werden, noch wird das Disziplinarsystem für BBS außer Kraft gesetzt. Natürlich sollen Beobachtungen im Rahmen des BBS-Prozesses nicht Grundlage disziplinarischer Maßnahmen sein. Wenn Mitarbeiter andere Mitarbeiter beobachten, stellt sich das Problem ohnehin nicht. Wenn aber Vorgesetzte Mitarbeiter beobachten, müssen sie beide Rollen – die als BBS-Beobachter und die als Vorgesetzter – trennen. Wenn ein Vorgesetzter im Rahmen einer BBS-Beobachtung ein potenziell lebensgefährliches Verhalten beobachtet, muss er die Beobachtung sofort beenden und eingreifen. Auch stellen die Maßnahmen zur Anonymisierung der Beobachtungsdaten einen Schutz dar, der verhindert, dass Disziplinar- und BBS-System vermischt werden.

Larry Perkinson (2005) geht noch einen Schritt weiter und betont, dass BBS voraussetzt, dass es ein funktionierendes Disziplinarsystem in Sachen Arbeitssicherheit gibt. Wenn die Vorgesetzten noch nicht mal die gröbsten Sicherheitsverstöße ahnden – weil sie nicht wollen oder nicht können – dann kann BBS diesen Mangel nicht ausgleichen. Die „bottom line of safety“ (S. 35) muss gewährleistet sein. Zudem hat Strafe und negative Verstärkung in der Verhaltensanalyse durchaus einen Sinn: Sie kann, richtig eingesetzt, der Verhaltensaktivierung dienen. Damit ein Verhalten positiv verstärkt werden kann, muss es überhaupt erst einmal auftreten. Perkinson (2005) schildert hier einige Beispiele aus der Praxis. In einer Gummifabrik sprangen die Mitarbeiter gewohnheitsmäßig über die Förderbänder, ein gefährliches und „eigentlich“ verbotenes Verhalten. Jedoch wurde das Befolgen der Regel, dass nicht über die Bänder gesprungen werden darf, in diesem Betrieb nicht durchgesetzt. Die Berater empfahlen folgendes Vorgehen: Zunächst gab es eine dreiwöchige Phase, in der die Mitarbeiter angesprochen wurden, wenn sie beim Überqueren des Bandes angetroffen wurden. Jedoch resultierte aus dieser Beobachtung noch keine Disziplinarmaßnahme. Danach wurden Mitarbeiter, die bei diesem Verhalten angetroffen wurden, mündlich und schriftlich verwarnt, die Verwarnung kam in die Personalakte. Diese Verwarnung sprachen die Vorgesetzten aus, nicht die Beobachter im BBS-Prozess. Diese wiederum gaben positives Feedback, wenn sie Mitarbeiter dabei antrafen, wie diese den längeren Weg um das Förderband herum nahmen.

Während BBS bei den Mitarbeitern vor allem auf positive Verstärkung und Feedback setzt, darf man davon unabhängig von einem Vorgesetzten durchaus erwarten, dass er seine Pflichten wahrnimmt: „Discipline is not reserved for employees“ (S. 35). Wenn Mitarbeiter sich nicht an etablierte Sicherheitsbestimmungen halten, soll man ihnen keine Schuld dafür geben. Zu fragen ist vielmehr, was das Verhalten aufrechterhält. Wenn Vorgesetzte das riskante Verhalten nie kritisieren, wird dieses Verhalten der Mitarbeiter positiv verstärkt. Menschen verhalten sich immer „sinnvoll“, in dem Sinne, dass sie sich den Umweltbedingungen anpassen.

Alles in allem lautet Perkinsons Rat, in der Arbeitssicherheit so viel positive Verstärkung wie möglich und so wenig Disziplinarmaßnahmen wie nötig einzusetzen.

Literatur

Perkinson, Larry I. (2005). Discipline in the extremes. Professional Safety, 2005, 31-35. PDF 668 KB

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Eingeordnet unter BBS, Verhaltensanalyse, Verstärkung