Wenn Verhaltensanalytiker über “Persönlichkeit” sprechen, dann fassen sie sich in der Regel kurz. Nicht der Persönlichkeit, sondern dem Verhalten gilt das Interesse des Verhaltensanalytikers. Ansonsten neigen sie nicht zur Spekulation und beziehen sich bei der Frage nach den Ursachen von Persönlichkeitsstörungen oft nur auf falsches Lernen oder unangepasste Konditionierungen usw. Diese Zurückhaltung hat nun viele Autoren dazu verleitet anzunehmen, die Verhaltensanalyse habe nichts oder wenig zu diesem Thema zu sagen. Dies trifft aber bei genauerer Betrachtung auch auf psychoanalytische, humanistische und kognitive Ansätze zu; auch sie sagen zum Teil dieselben Dinge über ganz unterschiedliche Verhaltensweisen.
Genauer betrachtet ist Verhaltens- und Persönlichkeitstheorie dasselbe. Skinner (1974, 149) definiert „Persönlichkeit“ als „Verhaltensrepertoire“. Die Persönlichkeit setzt sich aus verschiedenen Kontingenzen zusammen und ist der Kontrolle und Veränderung durch die Umwelt unterworfen. Das heißt, was eine Persönlichkeit ausmacht, ist das Produkt der Kontingenzen, denen diese Person unterliegt oder bislang unterlag.
Das Konzept „multipler Persönlichkeiten“ ist in dieser Auffassung von „Persönlichkeit“ bereits enthalten. In verschiedenen Umwelten unterliegen wir verschiedenen Kontingenzen und haben daher – zu einem gewissen Grad – verschiedene Persönlichkeiten.
Phelps (2001) bemerkt, dass „konventionelle“, nicht-verhaltensanalytische Persönlichkeitstheoretiker die Frage „Was ist eine Persönlichkeit?“ so angehen, als könne man darüber nur spekulieren, als handle es sich um ein Thema wie Exobiologie.
Das DSM-IIIR (American Psychiatric Association, 1987) erwähnte noch die multiple Persönlichkeitsstörung, das DSM-IV (1994) fasst diese Symptomgruppe nun unter den Dissoziativen Persönlichkeitsstörungen (Dissociative Identity Disorder, DID) zusammen. Auch in der Definition dieser Störung gab es einen Wandel: War 1987 noch die Rede von mehreren Persönlichkeiten innerhalb des Individuums, hieß es 1994, notwendiges Kriterium sei die Anwesenheit zweier oder mehrer Identitäten oder Persönlichkeitszustände, die verschiedentlich die Kontrolle über das Verhalten erlangten. Die Auffassung des DSM-IV ist also weniger mentalistisch als 1987 und spricht explizit vom Verhalten (an dem die Störung zu identifizieren ist).
Das Verhalten einer Person, bei der eine dissoziative Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, sollte demnach mehr Variabilität aufweisen als das eines „durchschnittlichen“ Menschen.
Zurecht merkt Phelps (2001) an, dass die Diagnose zwischen 1920 und 1970 kaum gestellt wurde, dass es auch heute krasse regionale Unterschiede in der Häufigkeit gibt und dass manche Diagnostiker Hunderte solcher Fälle kennen, andere in ihrem ganzen Leben kaum einen zu Gesicht bekommen. Dies hat die multiple Persönlichkeitsstörung etwas ins Zwielicht gesetzt.
Phelps (2001) sieht ein Kontinuum von „normalem“ Verhalten zu dem einer Person mit multipler Persönlichkeitsstörung. Wir alle verhalten uns unter verschiedenen Umständen verschieden. In einer Kirche benehmen wir uns anders als in einem Café. Hier ist der Unterschied der beiden Umwelten klar kenntlich. Aber auch weniger drastisch unterschiedliche Situationen führen bei manchen Menschen zu sehr unterschiedlichem Verhalten. Oft ist es nur ein minimales Merkmal der Situation, das den Unterschied ausmacht. Ist z.B. die Mutter eines jungen Mannes unter den Gästen seiner Party, verhält er sich anders, als wenn diese nicht zugegen ist. Der Unterschied in seinem Verhalten zwischen einer Party, bei der seine Mutter anwesend ist, und einer Party ohne sie sollte gravierend sein. Für denjenigen Beobachter aber, der nicht über bestimmte Hintergrundinformationen verfügt (z.B. nicht weiß, dass eine der anwesenden Damen die Mutter des Gastgebers ist), ist der Unterschied im Verhalten des jungen Mannes unerklärlich. Ebenso ist erwiesen, dass wir uns in verschiedenen Situationen verschieden gut erinnern können. Oft fallen uns vergessen geglaubte Ereignisse wieder ein, wenn wir in eine Situation kommen, die der damaligen in irgendeiner Weise ähnelt. Und auch hier kann das „gemeinsame Merkmal“ ein Unauffälliges sein, das Außenstehenden kaum oder gar nicht auffällt. Skinner (1953) schlug vor, dass wir alle in gewisser Weise „multipel“ wären. Die Frage sei aber nicht, wie viele Persönlichkeiten wir haben, sondern wie viele Verhaltensrepertoires wir ausführen oder zeigen könnten.
Multiple Persönlichkeiten hingegen behaupten in verschiedenen Situationen sogar, eine ganz andere Person zu sein. Es gibt aber auch für den „Gesunden“ Situationen, in denen Kontingenzen ihn dazu bringen, sich für eine andere Person auszugeben (z. B., wenn es gefährlich wäre, man selbst zu sein).
Kohlenberg und Tsai (1991) argumentieren, dass jedes Kind Phasen durchläuft, in denen es angibt, jemand anderes zu sein oder in denen es jemand anderes zu sein spielt usw. Normalerweise verschwindet dieses Verhalten wieder, denn es wird nicht durch Verstärkung aufrechterhalten. In bestimmten Umständen aber kann dieses Verhalten von Vorteil sein. Ein Kind, das misshandelt wird, kann zwar nicht verleugnen, dass es misshandelt wird, aber es kann sich vormachen, dass diese Dinge nicht mit ihm geschehen. So könnten also bestimmte Umweltereignisse dieses Verhalten, jemand anderes zu sein, verstärken.
Phlebs (2001) vergleicht die lebendigen Erinnerungen von Multiplen mit Skinners Konzept des „konditionierten Sehens“: Eine Person sieht einen bestimmten Stimulus, der eigentlich nicht da ist, wenn dieser Stimulus früher häufig mit einem anderen Stimulus (der anwesend ist) aufgetreten ist. Zwischen lebhafter Erinnerung und Halluzination besteht demnach ein Kontinuum. Ebenso beim differentiellen Erinnern: Wir alle erinnern uns oder erinnern uns nicht in Abhängigkeit von diskriminativen Stimuli (vgl. oben). Bei Multiplen sollte dies einfach stärker ausgeprägt sein.
Phlebs (2001) vermutet, dass Personen mit DID sich stärker als andere nur auf ihre (unangemessenen) Selbstbeobachtungen verlassen und weniger auf Bestätigung aus ihrer Umwelt.
Kohlenberg und Tsai (1991) berichten, dass Personen mit DID sehr aufmerksam sind für die von ihrem Therapeuten stammenden diskriminativen Stimuli und daher sehr leicht unwillentlich von diesem geformt werden können. Diese erhöhte Sensibilität für kleinste nonverbale Zeichen mag aus einer Geschichte der Misshandlung durch einen unberechenbaren Elternteil resultieren.
Schwieriger sind die Berichte über verschiedene Intelligenzniveaus und pharmazeutische Ansprechbarkeit bei den verschiedenen Alter-Persönlichkeiten. Jedoch zeigt die Verhaltensanalyse, dass die Wirkung von Pharmaka bspw. sehr wohl von diskriminativen Stimuli abhängen kann. Was Daten angeht, die auf Selbstberichten basieren (wie z. B. auch Intelligenztests), so stellt deren Interpretation selbstverständlich auch keine Schwierigkeit dar. Die Berichte über Wunden in einem Zustand, die in einem anderen noch nicht vorhanden waren, sind, in Anlehnung an die Befunde aus der Hypnoseforschung, skeptisch zu betrachten (vgl. Barker, 2001 bzw. Johnson, 1989).
Ursprünglich war das Zeigen von Schmerz ein respondentes Verhalten. Als Ergebnis der Misshandlungen können diese Verhaltensweisen aber unter die Kontrolle von Regeln kommen.
Das Ziel einer verhaltensanalytischen Therapie von DID sollte sein, das Verhalten, eine Person zu sein, zu formen und den Klienten zu mehr Einholen von sozialer Rückmeldung zu bringen (um ihn von der Selbstreferenz abzubringen).
Literatur:
American Psychiatric Association. Diagnostic and statistical manual of mental disorders. First edition, 1952; Second edition 1968; Third edition, 1980; revised, 1987; Fourth edition, 1994. Washington, DC: Author.
Barker, L.M. (2001). Learning and behavior, biological, psychological and sociocultural perspectives. (3rd ed.). Upper Saddle River, NJ: Prentice Hall.
Johnson, R.F.Q. (1989). Hypnosis, suggestion, and dermatological changes. A consideration of the production and dimunition of dermatological entities. In N.P. Spanos & J.F. Chaves (Eds.), Hypnosis. The cognitive-behavioral perspective (pp. 297-312). Buffalo, NY: Prometheus.
Kohlenberg, R.J. & Tsai, M. (1991). Functional analytic psychotherapy. Creating intense and curative therapeutic relationships. New York: Plenum.
Phelps, B. J. (2001). Personality, personality “theory” and dissociative identity disorder: What behavior analysis can contribute and clarify. The Behavior Analyst Today, 2(4), 325-335. https://doi.org/10.1037/h0099949
Skinner, B.F. (1953). Science and human behavior. New York: Free Press.
Skinner, B.F. (1974). About Behaviorism. New York: Random.