Archiv der Kategorie: Philosopie

Wie „radikal“ ist der Radikale Behaviorismus?

B. F. Skinners Variante des Behaviorsimus wird als „Radikaler Behaviorismus“ bezeichnet. Doch was bedeutet „radikal“ in diesem Zusammenhang? Schneider und Morris (1987) geben einen Überblick über die Verwendung des Begriffs „radikal“ im Zusammenhang mit dem Behaviorismus.

Es ist interessant, dass die Behauptung, Behavioristen leugneten, dass es ein Bewusstsein gibt, haufenweise bei Nicht-Behavioristen zu finden ist, aber kaum bei den (prominenten) Behavioristen selbst. Behavioristen wie Watson und Skinner leugnen nicht, dass es etwas gibt, das wir als Bewusstsein bezeichnen. Doch sprechen sie dem Bewusstsein den Charakter eines Dings ab – das Bewusstsein ist ein Konstrukt, oder, genauer, wenn wir das Wort Bewusstsein verwenden, verhalten wir uns verbal in Bezug auf unser eigenes Verhalten.

Der Begriff „radical“ kann im Englischen mehrere Bedeutungen haben, nämlich extrem, gründlich, bilderstürmerisch und politisch. In den Bedeutungen „extrem“ und „bilderstürmerisch“ wurde Watsons Behaviorismus schon früh (von Nicht-Behavioristen) als „radikal“ bezeichnet, z. B. 1921 von Calkins, der Watson unterstellt, er leugne oder ignoriere das, was wir als mentale Phänomene kennen. „Extreme behavioristic psychology denies or ignores what are known as mental phenomena“ (Calkins, 1921, S. 1; vgl. auch S. 4). Auch als radikal im Sinne von „politisch extrem“ wurde der Behaviorismus Watsons schon bald bezeichnet, oft als links-extrem, aber ebenso auch als rechts-extrem. Watson selbst bezeichnete seine Form des Behaviorismus nie als „radikal“.

Skinner (1945/1984) bezeichnete seine Form des Behaviorismus erstmals 1945 als „radikal“, im Sinne von „gründlich“ (thoroughgoing). Er grenzt ihn v. a. vom methodologischem Behaviorismus ab. Sehr viele Psychologen, die sich selbst nie als Behavioristen bezeichnen würden, kann man als methodologische Behavioristen betrachten (vgl. Brunswik, 1952, S. 66-67; Day, 1980, S. 241; Leahey, 1984, S. 131-132; Marx & Hillix, 1979, S. 160). „[E]ven some present-day psychologists who might not call themselves behaviorists, could be considered to be behaviorists of this sort” (Schneider & Morris, 1987, S. 33). Skinners Behaviorismus ist insofern radikal, als er (im Gegensatz zum methodologischen Behaviorimus) auch die privaten Ereignisse und das verdeckte Verhalten behandelt und keinen prinzipiellen Unterschied zwischen offenem Verhalten, das von Außen beobachtet werden kann (wie Gehen, Reden etc.), und verdecktem Verhalten, das nur die Person selbst bei sich feststellen kann (wie Denken, Fühlen etc.), anerkennt. Zuriff (1984) erläutert dies: „What distinguishes Skinner from … other behaviorists is not his legitimization of private events but the fact that he provides the most coherent account of how these events come to function as stimuli for verbal behavior“ (S. 572).

Skinners und Watsons Behaviorismus verbindet einiges. Vom methodologischen Behaviorismus sind ihre beiden Positionen meilenweit entfernt.

Literatur

Brunswik, E. (1952). The conceptual framework of psychology. Chicago: University of Chicago.

Calkins, M. W. (1921). The truly psychological behaviorism. Psychological Review, 28, 1-18. https://doi.org/10.1037/h0072853

Day, W. F., Jr. (1980). The historical antecedents of contemporary behaviorism. In R. W. Rieber & K. Salzinger (Eds.), Psychology: Theoretical-historical perspectives (pp. 203-262). New York: Academic.

Leahey, T. H. (1984). Behaviorism. In R. J. Corsini (Ed.), Encyclopedia of psychology (Vol. 1, pp. 130-133). New York: Wiley.

Marx, M. H. & Hillix, W. A. (1979). Systems and theories in psychology (3rd ed.). New York: McGraw-Hill.

Schneider, S. M., & Morris, E. K. (1987). A history of the term Radical Behaviorism. From Watson to Skinner. The Behavior Analyst, 10(1), 27-39. https://doi.org/10.1007/BF03392404

Skinner, B. F. (1945/1984). The operational analysis of psychological terms. Behavioral and Brain Sciences, 7(04), 547-581. https://doi.org/10.1017/S0140525X00027187

Zuriff, G. E. (1984). Radical behaviorism and theoretical entities. The Behavioral and Brain Sciences, 7, 572. https://doi.org/10.1017/S0140525X00027394

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Kognitive Neuropsychologie – Geisterjagd mit Geigerzählern

Die kognitiven Neurowissenschaften gehören zu den boomenden Teilen der Psychologie. Die Zeitschrift „Geist und Gehirn“ aus dem Verlag, der auch „Spektrum der Wissenschaft“ veröffentlicht, widmet sich diesem Thema und ist nur ein Beispiel dafür, welche Aufmerksamkeit diese Forschungen auch in der breiteren Öffentlichkeit genießen. Den Wissenschaftlern scheint hier endlich der Blick in die „Black Box“ zu gelingen, die Psychologie scheint vom Spekulativem zum Exakten voranzuschreiten.

Doch bei genauerer Betrachtung hat sich die kognitive Neurowissenschaft nicht wesentlich von den älteren kognitiven Wissenschaften weg entwickelt. Schon B.F. Skinner (Skinner, 1938, 1953, 1984, 1990) befürchtete, dass die Zuschreibung von unbeobachteten kognitiven Mechanismen zu gewissen Vorgängen im Gehirn zu nichts anderem als eine „konzeptuellen Nervensystem“ führen wird.

Obschon die Technologie, derer sich die kognitiven Neurowissenschaften bedient, eindrucksvoll ist, gleicht ihr Vorgehen Steven Faux (2002) zufolge der Jagd nach Geistern mittels Geigerzähler. Die kognitiven Wissenschaften bedienten sich früher solcher Messwerte wie der Reaktionszeit als abhängige Variable. Die kognitiven Neurowissenschaften bedienen sich der Gehirn-darstellenden Techniken wie der PET (Positron-Emissions-Tomographie). Diese Techniken sind das Ergebnis von Fortschritten in anderen Wissenschaften (Atomphysik, Computertechnik). Die Messwerte, die man mit ihnen erhebt, werden oft in eindrucksvollen farbigen Graphiken und Karten – ähnlich der Wetterkarte – in den diversen Fachzeitschriften dargestellt. Diese Daten scheinen die Leser etwas näher an die Black Box heranzuführen.

Eine häufig verwendete Technik ist die eben erwähnte Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Die PET-Technik stellt gewissermaßen einen computerisierten Geigerzähler dar, der die Verteilung von zuvor eingeatmetem oder injiziertem radioaktivem Sauerstoff und Kohlenstoff im Gewebe darstellt. In den kognitiven Neurowissenschaften wird die mit dem PET gemessene Gehirnaktivität (die radioaktiven Isotope sind an den Stellen des Gehirns am häufigsten anzutreffen, die am meisten „Brennstoff“ verbrauchen) oft in Abhängigkeit von einer bestimmten Tätigkeit, die der Teilnehmer der Studie ausübt, gemessen. Zum Beispiel könnte der Teilnehmer während der Messung eine Liste mit konkreten Hauptwörtern vorlesen oder er soll einen Knopf drücken, wenn er einen bestimmten Ton hört. Die Werte mehrerer Versuche mit einem Teilnehmer werden übereinandergelegt und dann aus den Ergebnissen mehrerer Teilnehmer ein Durchschnitt errechnet.

Eine typische und häufig zitierte Studie stammt von Mellet, Tzourio, Denis und Mazoyer (1995). Die Teilnehmer lagen hier unter dem PET und beobachteten eine Landkarte mit bestimmten Merkmalen. Zuvor war der PET-Basiswert ermittelt worden, indem die Werte gemessen wurden, während die Teilnehmer entspannt mit geschlossenen Augen da lagen. In einer weiteren Bedingung sollten die Teilnehmer sich mit geschlossenen Augen den zuvor auf der Landkarte „gegangenen“ Weg vorstellen. Die für das mentale Vorstellen zuständigen Hirnregionen wurden sodann dadurch identifiziert, dass die Basiswerte von den Werten während der Bedingung, in der die Teilnehmer sich den Weg vorstellen sollten, abgezogen wurden. Hierbei fanden sich bestimmte Regionen im Gehirn (so der obere occipitale Cortex), die relativ konsistent über alle Teilnehmer erregt zu sein schienen, wohingegen andere Regionen auffällig deaktiviert waren. Warum sie das waren, wird von Mellet et al. (1995) jedoch nicht erklärt, ebenso wie in den meisten anderen Studien nicht erklärt wird, warum bestimmte Regionen erregt und andere eher deaktiviert sind.

In dieser Studie, wie auch vielen anderen, die diese Technik verwenden, ist vor allem die große Variationsbreite über die verschiedenen Teilnehmer auffallend. Auch die Daten eines einzelnen Teilnehmers, über den Mellet et al. (1995) detaillierter berichten, variieren stark. Die wenigsten Studien aus diesem Bereich enthalten Berichte über einzelne Teilnehmer. Zudem fällt bei den Graphiken auf, dass Differenzwerte, die tatsächlich sehr gering waren, in den Abbildungen knallrot dargestellt wurden – auffälligen Farbunterschieden liegen nicht notwendigerweise ebenso gravierende Messwertunterschiede zugrunde. Zudem, wenn man die Daten genauer betrachtet, wird klar, dass diese Unterschiede nur im Durchschnitt gelten. Würde man die Werte für jeden Teilnehmer einzeln graphisch darstellen, bei jedem wäre eine andere Region knallrot eingefärbt. Trotz dieser erstaunlichen interindividuellen Variationsbreite schließen die Autoren sehr sicher, dass „mentales Vorstellen“ mit einer Erregung des oberen occipitalen Cortex einhergehe. Mellet et al. (1995) folgern weiter, dass die gespeicherten visuellen Repräsentationen hier ihren Sitz hätten.

Diese Variationsbreite ist typisch für die Experimente in den kognitiven Neurowissenschaften. Selten findet man eine Replikation von einer Gruppe zur nächsten, recht selten sind Replikationen bei einem Individuum und extrem selten ist die Replikation der Ergebnisse von einem Individuum bei einem anderen (Cabeza & Nyberg, 1997, 2000). Besonders bezeichnend sind die Unterschiede in den Ergebnissen von Studien, die dieselbe Aufgabe beinhalteten. So war bei fünf Studien, die alle den sogenannten Stroop-Test (die Versuchsperson muss die Farben benennen, in der bestimmte Farbwörter – blau grün etc. – geschrieben sind; die Farbwörter sind nicht in „ihrer“ Farbe gedruckt, d. h. z. B. „blau“ ist nicht blau geschrieben) verwendeten, um so die „Aufmerksamkeit“ zu erfassen, keine einzige Gehirnregion bei allen fünf Studien aktiviert.

Eines der Hauptprobleme der kognitiven Neurowissenschaften liegt in der Übernahme ungeprüfter mentalistischer Konzepte (wie „mentales Vorstellen“). Die kognitiven Neurowissenschaften setzen voraus, dass die „kognitiven Atome“ bereits entdeckt wurden. Aber es scheint in diesen PET-Experimenten unmöglich zu sein, eine Experimentalbedingung zu schaffen, die von der Kontrollbedingung durch nur eine Aktion des Gehirns unterschieden ist. Die kognitiven Neurowissenschaftler setzen aber voraus, dass es so eine Art Periodensystem der kognitiven Elemente gibt. Das Problem ist, dass man jeden der von den Kognitionswissenschaftlern angenommenen basalen Prozesse ohne weiteres in weitere Subprozesse aufspalten kann (wobei man sich fragen muss, welcher Sinn darin zu sehen ist, ein vages Konstrukt durch drei andere vage Konstrukte zu ersetzen). Bei weitem herrscht hier keine Einigkeit.

Kognitive Neurowissenschaftler können nicht darlegen, warum unbeobachtete kognitive Konstrukte sinnvolle Bezeichnungen für bestimmte Gehirnregionen sein sollen. Uttal (2001) hat daher die kognitiven Neurowissenschaften bereits als die „Neue Phrenologie“ bezeichnet. Bestenfalls, so Faux (2002), bringen uns die PET-Messungen dazu, statt nicht mehr zu wissen, was im ganzen Gehirn vor sich geht, nicht mehr zu wissen, was in einem bestimmten Gyrus vor sich geht.

Zudem sind PET und verwandte Techniken keine direkten Messungen der Gehirnaktivität, sondern nur des Blutflusses im Gehirn. Dies ist insofern relevant, als auch hemmende Neuronen (die in der Gehirntätigkeit eine große Rolle spielen und deren Zweck darin besteht, die Aktivität anderer Neuronen zu hemmen) Sauerstoff und Nährstoffe verbrauchen.

Es ist mehr als zweifelhaft, dass die Wissenschaft dadurch voranschreitet, dass grobe physiologische Messungen vorgenommen werden, um schlecht definierte kognitive Konstrukte zu stützen.

Diese kognitiven Konstrukte werden in diesen Forschungen auch nicht getestet: Zwar werden immer wieder die Gehirn-Karten revidiert, jedoch nie diese Konstrukte wirklich auf die Probe gestellt. Sie werden einfach als gegeben vorausgesetzt.

Hinter all der kognitiven Neurowissenschaft scheint überall der berüchtigte Homunculus im Kopf, das cartesianische Theater, von dem aus alle anderen Aktivitäten gesteuert werden, hindurch. Immer wieder wird auf eine zentrale Exekutive verwiesen, einen Mechanismus, der Output produziert, ohne von Input abhängig zu sein. Diese zentrale Exekutive wird immer dann postuliert, wenn kein direkter Umwelteinfluss beobachtet werden kann. Der „Willen“ stellt somit die Restmenge jenes Verhalten dar, das nicht unter der Kontrolle des Forschers steht.

Literatur

Cabeza, R. & Nyberg, L. (1997). Imaging cognition: An empirical review of PET studies with normal subjects. Journal of Cognitive Neuroscience, 9(1), 1-26.

Cabeza, R. & Nyberg, L. (2000). Imaging cognition II: An empirical review of 275 PET and fMRI studies. Journal of Cognitive Neuroscience, 12(1), 1-47.

Faux, S. F. (2002). Cognitive neuroscience from a behavioral perspective. A critique of chasing ghosts with geiger counters. The Behavior Analyst, 25(2), 161-173.

Mellet, E.; Tzourio, N.; Denis, M. & Mazoyer, B. (1995). A positron emission tomography study of visual and mental spatial exploration. Journal of Cognitive Neuroscience, 7(4), 433-445.

Skinner, B. F. (1938). The Behavior of Organisms. New York: Appleton-Century-Crofts.

Skinner, B. F. (1953). Science and Human Behavior. Reno, NV: MacMillan.

Skinner, B. F. (1984). Methods and theories in the experimental analysis of behavior. Behavioral and Brain Sciences, 7(4), 511-546.

Skinner, B. F. (1990). Can psychology be a science of mind? American Psychologist, 45(11), 1206-1210.

Uttal, W. R. (2001). The new phrenology: The limits of localizing cognitive processes in the brain. Cambridge, Mass.: MIT Press.

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Mentalismus – von den Gefahren, die drohen, wenn man Unterschiede zwischen Menschen auf „innere Faktoren“ zurückführt

Jay Moore (2003) hat vor fast 20 Jahren schon einmal zusammengefasst, warum es problematisch ist, Unterschiede zwischen Menschen auf (echte oder vermeintliche) innere Faktoren zurückzuführen – aus wissenschaftlicher und aus ethischer Sicht.

Verhaltensanalytiker zeichnen sich durch ihr hauptsächliches Interesse an den Kontingenzen, die das Verhalten kontrollieren, durch ihre Abgrenzung vom Mentalismus und ihre Überzeugung, dass sich die soziale Umwelt planen und verändern lässt, aus. Der Mentalismus dagegen vertritt die Ansicht, dass eine angemessene Erklärung von Verhalten den Bezug auf vermeintliche innere mentale Phänomene enthalten muss. Dieser vertritt entweder einen formalen und expliziten Dualismus (es gibt eine geistige und eine physische Welt) oder aber einen epistemiologischen Dualismus, der besagt, dass es eine geistige Sphäre gibt, die zwar physisch begründet ist (als Gehirnaktivität), die aber nicht untersuchbar sondern nur erlebbar ist (vgl. Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten und Erleben des Menschen). Diesem epistemiologischen Dualismus huldigen nicht nur Philosophen und die gesamte traditionelle Psychologie, sondern auch der sogenannte Neo-Behaviorismus, der die vermittelnde Qualität innerer Prozesse anerkennt. In der akademischen Psychologie erwirbt man sich z. Zt. am besten seine Sporen, indem man neue Mentalismen erfindet und popularisiert. Wir haben aus der Medizin eine Tendenz übernommen, unser wissenschaftliches Heil in inneren Vorgängen zu suchen und wir erfinden notfalls welche, wenn sie nicht direkt untersuchbar sind. Zudem werden mentalistische Erklärungen – als ein verbales Verhalten – durch die soziale Umwelt aufrechterhalten: Der Laie kennt das „Erleben und Verhalten“ vor allem aus der Innenansicht und er ist geneigt, in Ersterem die Ursache für Letzteres zu sehen.

Ein Auswuchs des Mentalismus ist die Attributionstheorie. Attributionstheoretiker selbst haben den sogenannten fundamentalen Attributionsfehler entdeckt: Dass die meisten Menschen unangemessenerweise das Verhalten anderer Menschen auf dispositionelle Faktoren attribuieren. Der „fundamentale Attributionsfehler“ an sich ist bereits ein Fehler, denn er setzt voraus, dass Dispositionen überhaupt Ursachen von Verhalten sein können. Ebenso ein Fehler an sich ist das sogenannte Konsistenzparadox: Der Umstand, dass wir das Verhalten anderer Menschen über verschiedene Situationen hinweg als konsistenter einschätzen als dies eigentlich der Fall ist. Für den Verhaltensanalytiker ist das Verhalten immer eine Funktion der gegenwärtigen und der früheren „Situation“ – das Paradox existiert für ihn somit nicht. Wer nun solche dispositionellen Faktoren als Ursachen von Verhalten propagiert, der leistet – gewollt oder ungewollt – der Diskriminierung von Minderheiten Vorschub. Denn wenn das Verhalten einer Person, die einer bestimmten Gruppe von Personen (z. B. von gleicher Hautfarbe oder Nationalität) angehört, durch eine Disposition bestimmt ist, dann ist es zumindest fraglich, ob dieses Verhalten überhaupt geändert werden kann. Warum sollte man es also überhaupt versuchen? Aus Sicht der Verhaltensanalyse dagegen mögen Verhaltensrepertoires gelegentlich zwar gut organisiert und strukturiert sein, aber sie sind nicht durch „innere Ursachen“ determiniert.

Das Konzept der „Intelligenz“ ist ein weiterer bedenklicher Aspekt des Mentalismus. Intelligenz wird für gewöhnlich als eine mentale Eigenschaft eines Menschen betrachtet. Die stereotype mentalistische Betrachtungsweise der Intelligenz hat in der Geschichte bereits viel Leid über die Menschen gebracht (erinnert sei hier an die Ausgrenzung von osteuropäischen und anderen Einwanderern in den USA aufgrund der Ergebnisse von Intelligenttests). Ebenso bedenklich ist die mentalistische Interpretation der Intelligenzunterschiede zwischen Männern und Frauen. Die kognitive Neurowissenschaft unterfüttert diese Interpretation mit den Unterschieden in der Gehirnstruktur. Eine Implikation des Mentalismus ist die Folgerung, dass bei geringer Intelligenz keine Förderung von Nöten ist, denn sie ist ein inhärentes Merkmal der Person: Wenn Frauen bestimmte Aufgaben nicht so gut bewältigen wie Männer, weil ihre Neuronen irgendwie anders sind als die von Männern, warum sollten sie dann nicht am Besten „barfuss und schwanger in der Küche stehen“, wie Moore es umschreibt?

Aus Sicht der Verhaltensanalyse ist „Intelligenz“ nur eine weitere mentalistische Erklärungskrücke. Menschen unterscheiden sich: Sie haben unterschiedliche genetische Ausstattungen, die bedingen, dass sie in unterschiedlicher Weise für die Einflüsse ihrer Umwelt empfänglich sind. Zweifelsohne ist auch das Verhaltensrepertoire eines Menschen aus einer gehobenen sozialen Schicht entwickelter als das eines Menschen aus einer niedrigern sozialen Schicht.  Aus der mentalistischen Sicht folgt hier aber der pädagogische Pessimismus. Wir werden mit Programmen und Interventionen wenig Erfolg haben, solange wir an dem Bezug auf traditionelle mentalistische Erklärungen von Intelligenz festhalten.

Sicher werden bestimmte Aktivitäten des Menschen durch bestimmte anatomische Strukturen ermöglicht. Wir sehen z. B. an den Opfern von Schlaganfällen, dass sie bestimmte Aufgaben nicht mehr oder nur noch schlecht ausführen können. Alle diese Belege aber sind nur eine vage Grundlage für die mentalistischen Metaphern vom Speichern und Abrufen von Informationen. Bei weitem ist kein Bezug herstellbar zwischen den Modellen zur Informationsverarbeitung der kognitiven Psychologie und den Synapsen, Neuronen und Gehirnregionen. Das Verhalten sollte die Suchrichtung für den Physiologen vorgeben. Die traditionelle Psychologie ist verantwortlich für eine gigantische Verschwendung an Forscherarbeit, indem sie Physiologen nach den neuronalen Entsprechungen von mentalistischen Konstrukten suchen ließ.

Schon John Stuart Mill beklagte, wie vulgär es sei, die Diversität von Verhalten und Charakteren auf natürliche Unterschiede zurückzuführen. Der Verführung des Mentalismus erlagen jedoch auch die ersten Behavioristen – indem sie die Naturwissenschaft vom Verhalten zu einer „kognitiven“ Psychologie zu transformieren versuchten (bestes Beispiel: Bandura).

Moore, J. (2003). Behavior analysis, mentalism and the path to social justice. The Behavior Analyst, 26(2), 181-193. https://doi.org/10.1007/BF03392075

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Kann sich die Gesellschaft verhalten?

Kurze Antwort: Nein, eher nicht. Bei der ausführlichen Antwort müssen wir etwas tiefer einsteigen, bei der Ontologie.

Dinge und Konstrukte

Alles ist entweder ein Ding oder ein Konstrukt (Mahner & Bunge, 2000, S. 6). Dinge sind konkrete oder materielle Gegenstände, sie sind wirklich vorhanden. Konstrukte dagegen sind nur etwas, über das wir reden und nachdenken können, sie existieren in gewisser Weise nicht wirklich, sondern nur, solange wir uns in Bezug auf sie verhalten, das heißt reden oder nachdenken (Dinge dagegen existieren unabhängig von uns). Um sich zu veranschaulichen, was ein Ding ist, kann man als unzureichende Behelfsdefinition annehmen, dass ein Ding alles ist, auf das man zeigen kann. Doch es zählen auch Objekte zu den Dingen, auf die man nicht zeigen kann, die aber gleichwohl konkret oder materiell sind, z. B. Elektronen. Aus dem Bereich der Psychologie: Ein Gehirn wäre ein Ding, auf dieses kann ich zeigen. Die Intelligenz dagegen ist ein Konstrukt. Auch menschliches Verhalten besteht in der Interaktion zwischen Dingen. Ein häufiger Fehler ist die Reifikation. Sie besteht darin, dass ein Konstrukt verdinglicht wird, das heißt wie ein Ding behandelt wird.

Konstrukte können nicht etwas bewirken, d. h. sich verhalten. Wenn wir sagen, dass irgendein Konstrukt (z. B. die Intelligenz) etwas bewirkt, dann begehen wir höchstwahrscheinlich den Fehler der Reifikation. Zudem liegt auch die Gefahr der zirkulären Argumentation nahe. Denn Konstrukte wie die Intelligenz sind oft nur bequeme Redeweisen für Dinge und die Interaktion zwischen Dingen. Wir kommen dazu, eine Person als intelligent zu bezeichnen, weil wir bestimmtes Verhalten bei ihr beobachtet haben (sie gibt kluge Antworten, sie kann Probleme lösen, insbesondere Aufgaben in einem Intelligenztest). Wir schreiben dann dieser Person Intelligenz zu. Zum Fehler der Reifikation kommt es, wenn wir diese Intelligenz dann wiederum etwas bewirken lassen und z. B. sagen eine Person könne aufgrund ihrer Intelligenz Probleme lösen. Die Zirkularität liegt auf der Hand.

Die Gesellschaft ist, so wie das Wort zumeist verwendet wird, ein Konstrukt. Ich kann nicht auf sie zeigen, denn sie ist mehr als eine Gruppe von Menschen. Sie beinhaltet auch deren Interaktionen und die von dieser Gruppe von Menschen geschaffenen Dinge. Sage ich nun, die Gesellschaft wolle etwas, die Gesellschaft tue etwas usw., begehe ich den Fehler der Reifikation.

Das strukturell-individualistische Forschungsprogramm

Das strukturell-individualistische Forschungsprogramm setzt voraus, dass kollektive Sachverhalte das Ergebnis der Handlungen individueller Akteure sind (Opp, 2005, S. 103). Das heißt, wenn die Gesellschaft sich verändert, verändern sich in Wahrheit die an der Gesellschaft teilnehmenden Individuen, sie verhalten sich z. B. anders. Das strukturell-individualistische Forschungsprogramm fordert, dass „kollektive Sachverhalte durch die Anwendung von Aussagen über Individuen zu erklären sind“ (Opp, 2005, S. 104). Kollektivistisches Denken dagegen ist in gewisser Weise magisches Denken. Es bietet, so Opp (2005), weniger tiefe Erklärungen und behindert die Lösung praktischer Probleme. Betrachte ich kollektive Sachverhalte dagegen auf der Ebene individuellen Verhaltens, erkenne ich, welche objektiv untersuchbar Prozesse tatsächlich stattfinden und ich habe einen Lösungsansatz, wie ich kollektive Probleme lösen kann. Beklage ich z. B., dass „die Gesellschaft“ nicht bereit ist, die Rechte von Minderheiten zu akzeptieren, verbaut mir ein kollektivistisches Denken den Zugang zur Lösung dieses Problems, die immer erfordert, dass Individuen ihr Verhalten verändern.

Dieser strukturell-individualistische Ansatz ist, wohlverstanden, kein plumper Reduktionismus, wie es z. B. folgende Antwort auf ein Zitat von Margret Thatcher („There’s no such thing as society“) unterstellt:

„Es gibt keine Pflanzen! Nur Pflanzenzellen!

Es gibt keine Moleküle! Nur Atome!

Es gibt keinen Gedanken! Nur elektrochemische Aktivität von Neuronen!“ (Florian Aigner auf Twitter, https://twitter.com/florianaigner/status/1467292309062574081).

Florian Aigner attackiert hier einen Strohmann. Seine Vergleiche hinken, denn die Pflanze als Ganzes bildet auch wieder ein Ding, ebenso das Molekül. Sie sind „mehr“ als ihre Teile, aber das, was sie „mehr“ sind, spielt sich ebenfalls auf der Ebene der Dinge und der Interaktion zwischen ihren Teilen ab. Gedanken sind eine Aktivität von Dingen (in diesem Fall Menschen). Die Gesellschaft dagegen ist ein Konstrukt, wenn ich sie untersuchen will, muss ich das individuelle Verhalten von Menschen untersuchen (welches gegebenenfalls über die Individuen hinweg koordiniert ist, was aber wiederum nicht auf magische Art und Weise geschieht, sondern durch Vorgänge wie z. B. das Lernen am Modell). Des Weiteren kann ich auch die Artefakte, die für das Konstrukt „Gesellschaft“ relevant sind, untersuchen. Artefakte sind jedoch ebenfalls nur Produkte des individuellen Verhaltens von einzelnen oder mehreren Menschen gemeinsam.

So gesehen hat Margret Thatcher („There’s no such thing as society“) in gewisser Weise recht: Die Gesellschaft ist kein Ding, sie ist ein Konstrukt. Wenn wir dieses Konstrukt untersuchen wollen, müssen wir es herunter brechen auf das, was uns dazu bringt (in bequemer Redeweise) von diesem Konstrukt zu sprechen: das was Menschen tun. Nur einzelne Menschen verhalten sich.

Nachtrag: Dies ist jetzt natürlich vor dem Hintergrund eines naturalistisch-materialistischen Zugangs gesprochen, der sich allerdings in den empirischen Wissenschaften bislang als sehr erfolgreich erwiesen hat.

Mahner, M. & Bunge, M. (2000). Philosophische Grundlagen der Biologie. Berlin: Springer.

Opp, K. D. (2005). Methodologie der Sozialwissenschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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Essentialismus und Selektionismus

Der Biologe Ernst Mayr (1976, 1982, 1988) sieht im essentialistischen Denken die Tendenz, Kategorien in der Natur als Ausdruck universeller, überdauernder Eigenschaften zu sehen, die dieser Kategorie zu eigen sind. Vor Darwin waren die Ansichten der Biologen über die Lebewesen essentialistisch. Arten wurden z. B. als eine Klasse von Lebewesen angesehen, die eine bestimmte essentielle Eigenschaft gemeinsam haben.

Der Essentialismus geht davon aus, dass die Phänomene der Ausdruck einer idealen Vorlage sind, einer Art Essenz, die selbst unerklärt bleibt. Biologische Arten sind der Ausdruck oder das Abbild des Schöpfungsvorganges, aus dem sie entstanden sind.

Demgegenüber setzte Darwin das Prinzip der Selektion als eine nicht-teleologische Erklärung für die Diversität des Lebendigen. Wahrscheinlich haben alle Füchse einen gemeinsamen Ahnen. Aber alle Füchse unterliegen auch ähnlichen Selektionsmechanismen, selektiven Kontingenzen. Diese Kontingenzen bewirken, dass alle Füchse sich ähneln. Sie sind aber nicht gleich und sie sind auch nicht unperfekte Abbilder eines idealen Fuchses. Die Varianz zwischen Füchsen ist ebenso ein Resultat der Selektionsmechanismen. Würde eine (schwer vorstellbare) Mutation alle Variabilität zwischen den Exemplaren einer Art ausmerzen, dann wäre diese Art bei der geringsten Änderung der Umweltbedingungen zum Aussterben verurteilt.

Das einzig Universelle, das es auf dieser Welt gibt, sind die Namen, die wir den Dingen geben.

Der Selektionismus betrachtet die Variabilität zwischen den Phänomenen als das Grundlegende, wohingegen der Essentialismus die Variabilität als irrelevant und irreführend betrachtet.

Die Ähnlichkeit von natürlicher Selektion und den Lernprozessen ist bereits mehreren Autoren aufgefallen (z. B. Baldwin, 1895, 1909/1980; Campbell, 1956; Pringle, 1951; Skinner, 1953; Staddon, 1983; Thorndike, 1898). Wie bei der Evolution haben variable Elemente unterschiedliche Konsequenzen. Manche Elemente mit bestimmten Konsequenzen werden gestärkt, andere nicht. Ordnung entsteht, ohne dass es eine planende Instanz, einen Schöpfer oder einer Absicht bedarf. So wie sich nach und nach Arten entwickeln, entwickeln sich nach und nach andere Verhaltensweisen, indem sich nach und nach die Verstärkungskontingenzen verändern, bis ein vollkommen neues Verhalten entstanden ist (man nennt diesen Vorgang „Shaping“, Verhaltensformung). Sowohl die Evolution als auch die Verstärkung wirken, indem sie immer wieder Elemente aus einem variablen Substrat selektieren, was letztlich zu einer Ordnung in den Kategorien der Phänomene führt.

Wir begehen einen großen Fehler, wenn wir die Variabilität unseres Untersuchungsgegenstandes – des Verhaltens – als störend oder irrelevant ansehen. Der gruppenstatistische Ansatz in der Psychologie tut aber gerade dies. Varianz wird hier als störend empfunden. Man verwendet möglichst große Gruppen von Versuchspersonen, weil man hofft, dass so die individuellen Unterschiede verschwinden und die Essenz – der Effekt, die psychologische Gesetzmäßigkeit – zum Vorschein kommt.

Derjenige Psychologe, der den Gedanken des Selektionismus am konsequentesten zu Ende gedacht hat, ist zweifelsohne B. F. Skinner. Er interpretiert jedes Verhalten – vom Hebeldrücken bis zur Wahrnehmung und dem sprachlichen Verhalten – in den Begriffen der Selektion. Demzufolge sind auch seine Untersuchungseinheiten nicht a priori gegeben, sie sind das Ergebnis der Empirie. Wenn unsere Untersuchungseinheiten und Kategorien die Natur wiedergeben sollen, müssen sie empirisch definiert werden. Dabei empfiehlt Skinner nicht, dass wir unsere unabhängigen Variablen so lange manipulieren, bei Ordnung erscheint. Er empfiehlt, dass wir unsere Definitionen so lange verändern, bis Ordnung erscheint. Er wendet sich gegen die Art, wie gelegentlich „Reize“ und „Reaktionen“ ad hoc definiert werden. Wenn wir alltägliche Vorgänge beschreiben, mag das unausweichlich sein. Im Labor aber ist es ein Fehler. Was genau die Reaktion und was der Reiz ist, bei einer Ratte, die einen Hebel drückt und danach eine Futterkugel erhält, müssen wir durch das Experiment herausfinden, wie wissen es (grundsätzlich) nicht von vorn herein. Skinner lehnte auch Watsons (1930) Definition einer Verhaltensweise (response) ab, die besagt, dass alles, was ein Tier oder Mensch tue, eine Verhaltensweise sei, also nicht nur Orientierung des Körpers zum Licht hin, sondern auch das Bauen eines Wolkenkratzers, das Zeichnen eines Plan usw. Die letztgenannten Aktivitäten sind nicht so geordnet und einförmig wie das Hebeldrücken.

In der Psychologie werden die Untersuchungseinheiten a priori definiert oder als selbstverständlich vorausgesetzt. Verhaltensanalytiker setzen eine Klasse oder Kategorie nicht voraus, sie entdecken sie. Essentialisten suchen mit ihrer Definition den „wahren Kern“ zu erfassen. Selektionisten versuchen, ihre Definitionen empirisch zu finden. Wie sie etwas definieren, hängt vom Forschungsinteresse ab, der Menge der Objekte, die sich in gewisser Weise gleich verhalten.

Das Ziel der Wissenschaft ist es, Ordnung bei unseren Untersuchungsgegenständen zu entdecken. Die Ordnung liegt aber oft im Auge des Betrachters.

Die wenigsten kognitiven Psychologen definieren ihre Konzepte empirisch. “In its flight from the restrictions of behaviorism, cognitive science has abandoned this important methodological constraint“ (Palmer & Donahoe, 1992, S. 1348). Essentialistische Analysen bringen einige Probleme mit sich:

Die Versuchung des zirkulären Denkens

Verhaltensphänomene sind zumindest zum Teil eine Funktion der Eigenschaften des Organismus. Wenn man eine hypothetische Eigenschaft des Organismus annimmt, sollte man sie nicht später als Erklärung des beobachteten Phänomens wieder verwerten. Die wenigsten Wissenschaftler argumentieren bewusst zirkulär. Zirkuläres Denken wird leicht kritisiert, aber es ist schwer zu vermeiden, wenn man essentialistisch vorgeht. William James (1907) bemerkte, dass niemand ernsthaft den Reichtum eine Menschen als Ursache dafür ansieht, warum dieser Mensch Geld habe. Doch häufiger führen wir die Kränklichkeit eines Menschen auf seine schlechte Gesundheit zurück, beeindruckende muskuläre Leistungen auf große Körperkraft und gutes Problemlösen auf große Intelligenz. In der kognitiven Psychologie wird der Spracherwerb auf die Sprachkompetenz zurückgeführt und Fehler bei der Erinnerung auf eine eingeschränkte Gedächtniskapazität. Zirkuläre Argumentation tritt auf, wenn ein Konzept (wie etwa Intelligenz) gut eingebürgert und etabliert ist. Dann wird es reifiziert.

Das Abkürzen der Untersuchung

Wer essentialistisch definiert, meint damit oft das Problem gelöst zu haben, ohne es untersucht zu haben. Die weit verbreitete Praxis, die genetische Ausstattung als Ursache für ein Verhalten anzunehmen (wie es u. a. die „Evolutionspsychologie“ tut), ist Essentialismus im Gewand des Selektionismus. Ein Verhalten wird auf eine angenommene Eigenschaft des Organismus zurückgeführt und sodann dazu benutzt, das Verhalten zu erklären. Das Kurzzeitgedächtnis ist beispielsweise eine Metapher, keine Struktur. Anzunehmen, dass es angeboren ist, ist ein Glaubensbekenntnis, keine ernsthafte Annahme.

Nicht-sparsame Erklärungen

Essentialistische Konzepte verlangen nach einzelnen Erklärungen (so wie aus der Sicht des Kreationismus jede Art auf einen eigenen Schöpfungsakt zurückgeht). Wenn man z. B. in Experimenten feststellt, dass nicht alle Daten mit der Annahme eines Kurz- und eines Langzeitgedächtnisses vereinbar sind, dann muss man eine Art Gedächtnis dazwischen postulieren. Dasselbe gilt für die verschiedenen Arten des Langzeitgedächtnisses, sie vermehren sich mit jedem Experiment. Essentialistisches Denken führt uns in nutzlose Debatten darüber, ob ein bestimmtes Phänomen wirklich der Beleg für ein bestimmtes Konzept ist oder nicht. War der Archaeopteryx ein Vogel oder ein Reptil? Ist das Resultat eines bestimmten Experiments ein Beleg für das Langezeit- oder das Kurzzeitgedächtnis, für das episodische oder das semantische Gedächtnis?

Die Kognitionswissenschaft hat sich nach Palmer und Donahoe (1992) dem Essentialismus verschrieben. Chomskys Analyse der Sprache ist ein gutes Beispiel dafür. Er geht davon aus, dass es universelle Eigenschaften der Sprache gibt, die ein Teil unserer genetischen Ausstattung sind. Bei der Ausgestaltung dieses Grundgedankens erkennen wir alle Merkmale des Essentialismus. Wenn Chomsky sich mit realer Sprache auseinandersetzt, muss er sich bald in eine idealisierte Welt zurückziehen. Die Unterscheidung von Kompetenz und Performanz hilft ihm dabei. Er hält die Grammatik für etwas, das real in den Köpfen existiert. “I have argued that the grammar represented in the mind is a real object, indeed that a person’s language should be defined in terms of this grammar“ (Chomsky, 1980, S. 120). Die linguistische Intuition der Muttersprachler wird nur dann herangezogen, wenn sie seine Annahmen stützt. Die fundamentale Variabilität des sprachlichen Verhaltens wird herausgenommen, um das formale Gebäude seiner Theorie aufrecht zu erhalten. Der Satz wird als Einheit untersucht, nicht, weil er eine Einheit des Verhaltens wäre, sondern weil er eine formale Analyse erlaubt.

Chomsky hält es für selbstverständlich, dass Menschen – im Wortsinn – die Grammatik benutzen. Ein Kind kann einen Ball fangen. Die Bewegungsgesetze beschreiben eine vorhersagbare Bewegung des Balles. Doch wir nehmen nicht an, dass das Kind diese Bewegungsgesetze erschlossen hat.

Um die Herkunft der universellen Ordnung der Sprache zu begründen, unterstellt Chomsky eine genetische Grundlage. Doch viele Regeln der Grammatik sind völlig willkürlich. Chomsky stützt seine Annahme einer genetischen Grundlage mit dem Argument, dass der Input, den eine Kind erhält, zu gering sei, als dass es die Regeln der Grammatik daraus erschließen könne (poverty of the stimulus). Doch wenn diese Regeln im Genom angelegt sein sollen, müssen auch sie irgendwie dort hinein gelangt sein. Das gleiche Argument, das er verwendet, um zu begründen, warum man ein bestimmtes sprachliches Verhalten nicht erlernt haben kann, gilt auch für das Genom. Was nicht gelernt worden sein kann, kann auch nicht ins Genom geschrieben worden sein. Denn der einzige Weg, wie etwas ins Genom gelangen kann, ist der der Selektion auf Ebene der Art. Doch willkürliche Regeln haben keine Konsequenzen, die es plausibel machen, warum sie weitervererbt werden sollten. Chomsky unterstellt, dass dies aufgrund der langen Zeit, die der biologischen Evolution zur Verfügung steht, möglich sei. Doch er glaubt wohl selbst nicht an dieses Argument, denn 1969 führt er aus, dass es evtl. auch noch nicht-entdeckte, physikalische Gesetze gäbe, die es ermöglichen, dass eine grammatische Regel ohne adaptiven Nutzen ins Genom geschrieben werde. „It is, in fact, perfectly possible that the innate structure of mind is determined by principles of organization, by physical conditions, even by physical laws that are now quite unknown, and that such notions as „random mutation“ and „natural selection“ are as much a cover for ignorance as the somewhat analogous notions of “trial and error”, “conditioning”, “reinforcement”, and “association”” (Chomsky, 1969, S. 262).

Es gibt viele Beispiele für Verhalten, das offenkundig genetisch determiniert ist, das Balzverhalten, Warnrufe etc. Doch bei all diesen Verhaltensweisen ist klar, wie sie ausgelöst werden und welchen Nutzen sie haben. Von Chomskys Grammatik-Generator kann man das nicht behaupten. Auch Steven Pinkers semantisches „Bootstrapping“ ist kein Ausweg, denn der Mechanismus, wie es funktionieren soll, müsste erst beschrieben werden. Es gibt keinen Zweifel, dass Kinder ihre Muttersprache durch die Interaktionen erlernen, die das Bootstrapping beinhaltet. Doch Kinder lernen nicht die essentialistischen Konzepte der Universalgrammatik.

Auch die Gedächtnispsychologie hat sich dem Essentialismus verschrieben. Erinnerungen werden als „Dinge“ betrachtet. Zwar nimmt kaum ein Wissenschaftler die „Speicher“-Metapher wörtlich, doch wird das Gedächtnis als ein Ding betrachtet, dass sich in bestimmten Verhaltensweisen manifestiert. Wir rufen keine synaptischen Verknüpfungen auf, wenn wir Erinnerungen „aufrufen“. Wir kommen ja auch nicht auf den Gedanken, dass der Patellarsehnenreflex im Rückenmark „gespeichert“ ist. Aus selektionistischer Sicht ist das Abrufen einer Erinnerung ein Beispiel für aktuelles Verhalten (wobei einige Teile dieses Verhaltens verdeckt, d. h. von außen nicht beobachtbar stattfinden). Die vorausgehenden Bedingungen einer Erinnerung sind sicher komplexer als die eines Augenzwinkerns, aber dieser Unterschied in der Komplexität ist kein prinzipieller Unterschied. Wenn wir gefragt werden, wo wir letzten Donnerstag gewesen sind, ziehen wir nicht eine vorgefertigte Antwort aus einer Schublade in unserem Kopf, sondern wir beginnen mit einem Verhalten, das uns dabei hilft, zu rekonstruieren. Unsere eigenen Antworten dienen dabei als vorausgehende Bedingungen unseres weiteren, sprachlichen Verhaltens. Palmer und Donahoe (1992) geben ein Beispiel: „Letzten Donnerstag…? Heute ist Montag. Am Mittwoch gehe ich immer zum Skat, ich war am Mittwoch lange weg und muss wohl am Donnerstag lange im Bett geblieben sein…“ usw.

Literatur

Baldwin, J. M. (1895). Mental development in the child and race. New York: Macmillan.

Baldwin, J. M. (1980). Darwin and the humanities. New York: AMS Press.

Campbell, D. T. (1956). Adaptive behavior from random response. Behavioral Science, 1, 105-110.

Chomsky, N. (1969). Some empirical assumptions in modern philosophy of language. In S. Morgenbesser, P. Supes & M. White (Eds.), Philosophy, science, and methods: Essays in honor of Ernest Nagel (pp. 260-285). New York: St. Martin’s Press.

Chomsky, N. (1980). Rules and representations. New York: Columbia University Press.

James, W. (1907). Pragmatism. New York: Longmans Green.

Mayr, E. (1976). Evolution and the diversity of life. Cambridge, MA: Belknap Press.

Mayr, E. (1982). The growth of biological thought. Cambridge, MA: Harvard University Press.

Mayr, E. (1988). Toward a new philosophy of biology. Observations of an evolutionist. Cambridge, MA: Belknap Press.

Palmer, David C. & Donahoe, John W. (1992). Essentialism and selectionism in cognitive science and behavior analysis. American Psychologist, 47(11), 1344-1358. DOI: 10.1037/0003-066X.47.11.1344

Pringle, J. W. S. (1951). On the parallel between learning and evolution. Behaviour, 3, 175-215.

Staddon, J. E. R. (1983). Adaptive behavior and learning. Cambridge, England: Cambridge University Press.

Thorndike, E. L. (1898). Animal intelligence. An experimental study of the associative process in animals. The Psychological Review Monograph Supplements, 2(4, Whole No. 8).

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Die Legende von den zwei Moralen

Wenn es darum geht, wie Menschen „von Natur aus“ sind, ist die Frage, was „typisch weiblich“ und was „typisch männlich“ sein soll, nicht fern. Da neigen dann auch eher „linke“ Feministinnen zu einem Stereotype zementierenden Nativismus. Zum Beispiel sollen Frauen „von Natur aus“ fürsorglich sein, Männer eher nach dem Law-and-Order-Prinzip handeln. Doch Menschen verhalten sich vor allem situativ bedingt, mal fürsorglich und anteilnehmend, mal streng und gerecht – egal ob Männlein oder Weiblein.

Carol Gilligan (1982) behauptete, es gäbe zwei Moralen: eine männliche, rigide und abstrakt sich an Rechten und Pflichten orientierende und eine weibliche, flexibel und kontextsensitiv an Für­sorglichkeit und Verantwortlichkeit orientierte. Ein gutes Beispiel für diesen Unterschied ist die Fabel von den Maulwürfen und dem Stachelschwein. Die Maulwürfe gruben den ganzen Sommer an ihren Gängen und Höhlen, während sich das Stachelschwein in der Sonne aalte. Als es Winter war, kam das Stachelschwein zu den Maulwürfen. Diese ließen es zunächst ein. Das Stachelschwein aber stach. Was sollen die Maulwürfe tun? Die “gerechte” Antwort wäre: “Das Stachelschwein hat nicht mitgegraben, also hat es keinen Anspruch auf einen Platz im Bau”. Die “fürsorgliche“ Antwort lautet: “Bei der Kälte können wir das Stachelschwein nicht rauswerfen. Wir legen ihm eine Decke um, dann sticht sich keiner mehr an ihm”.

Zunächst behauptete Gilligan (1977, 1982), Männer urteilten stets gerecht, Frauen fürsorglich. Später revidierte sie: Beide Perspektiven seien für beide Geschlechter verständlich, eingebracht wird die Fürsorglichkeit jedoch ausschließlich von Frauen. Die Erklärung dafür, warum das so sein soll, blieb zunächst offen. Virginia Held (1987) spekulierte über eine evolutionsbiologische Grundlage: Männer können Tausende von Kinder zeugen, der Reproduktionserfolg einer Frau dagegen hängt davon ab, dass sie ihre wenigen Kinder möglichst gut groß bringt. Gilligan selbst hat sich später an Chodorow (1986) angelehnt, eine psychoanalytisch argumentierenden Theore­tikerin, die postuliert, dass Mädchen in der ursprünglichen Identifikation zur Mutter verbleiben können, während die Jungen sich gegen die Mutter abgrenzen müssen. Mädchen bauen so ein beziehungsorientiertes Selbst auf, Jungen ein autonomes Selbst. Diese männliche Auflösung primärer Bindungen habe den Verlust der “frühen moralischen Weisheit” zur Folge.

Diese These ist zum einen moralphilosophisch nicht haltbar, so Gertrud Nunner-Winkler (1994). Zum anderen widerspricht dem aufs Schärfste die Empirie. Gilligans Ausgangpunkt war ihre Be­obachtung, Frauen würden in Kohlbergs System von sechs Stufen der moralischen Entwicklung zumeist auf Stufe 3 (“richtig ist es, gute Motive zu haben, sich um andere zu kümmern, Bezie­hungen zu pflegen…”), Männer hingegen auf Stufe 4 (“richtig ist es, seine Pflicht zu tun, den Gesetzen zu folgen, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten…”) eingeordnet. Diese Annahme ist jedoch mittlerweile klar widerlegt: In mehr als 130 Untersuchungen mit insgesamt fast 20 000 Versuchspersonen gab es fast keine Geschlechtsunterschiede (so Nunner-Winkler, 1994; vgl. z. B. Thoma, 1986). Und selbst diese wenigen Unterschiede verschwanden, als man auf das Bildungsniveau der Befragten hin kontrollierte (Frauen hatten im Schnitt ein niedrigeres Bildungsniveau). Mit diesen beeindruckenden Gegenbelegen konfrontiert, erwiderte Gilligan (1986), dass sich ihre These nicht auf Unterschiede im Stufenniveau sondern vielmehr auf inhaltliche Differenzen bezöge. Weibliche Moral sei flexibel und fürsorglich, männliche Moral rigide und gerecht.

Zunächst betrachten wir den Punkt “Flexibilität”. Gilligan stützt sich dabei auf ihre Untersu­chung mit Frauen, die sie zur Problematik des Schwangerschaftsabbruches befragte. Die Frauen, so Gilligans Eindruck, würden sich v. a. auf konkrete Umstände und Kosten eines Abbruches oder der Unterlassung eines Abbruches beziehen, weniger auf abstrakte moralische Prinzipien. Döbert und Nunner-Winkler (1986) konnten dieses Ergebnis in einer Untersuchung an Jugendli­chen und Adoleszenten bestätigen: Die Mädchen äußerten sich mehr zu den konkreten Kosten einer ungewollten Schwangerschaft für Mutter (Nachteile in der Ausbildung usw.) und Kind (ungewolltes Kind sein usw.), Jungen dagegen mehr aufgrund abstrakter Prinzipien (Wert des Lebens vs. Selbstbestimmung der Frau). Doch Döbert und Nunner-Winkler (1986) befragten die Jugendlichen noch zu einer weiteren Problematik, nämlich dem Recht auf Wehrdienstverweige­rung. Hier waren es die Jungen, die eher konkrete Argumente anbrachten (Unterordnung in ein militärisches System, Dienst im Altenheim o. ä. ist sinnvoller usw.) und die Mädchen, die abstrakter argumentierten (Man darf nicht töten usw.). Daraus lässt sich folgern, dass die Kon­textsensitivität und Flexibilität des moralischen Urteils weniger ein Ergebnis der Geschlechts­zugehörigkeit als vielmehr der individuellen Betroffenheit darstellt. Dabei kann allgemeines Weltwissen und Lebenserfahrung einen Mangel an individueller Betroffenheit durchaus wett­machen. In der erwähnten Studie zeigte sich denn auch bei geschlechtsneutralen Dilemmata kein Zusammenhang von Kontextsensitivität mit dem Geschlecht sondern mit Alter und Bildung.

Die Fürsorglichkeit der weiblichen Moral, so Gilligan in Anlehnung an Chodorow (1986), sei ein Resultat der “frühen moralischen Weisheit”, die den Männern abhanden gekommen sei. Demnach müsste sich der Unterschied in den “Moralen” im Laufe der frühen Kindheit erst allmählich herausbilden und Jungen müssten zuerst (wie die Mädchen) fürsorglich und mitfüh­lend urteilen und dann egoistisch und “gerecht” werden. Nunner-Winkler und Sodian (1988) prüften diese Vermutung im Rahmen einer Längsschnittstudie. Ca. 200 Kinder wurden im Alter von 4-5, dann nochmals im Alter von 6-7 und im Alter von 8-9 Jahren untersucht. Dabei wurden ihnen Bildergeschichten vorgelegt, in denen der (gleichgeschlechtliche) Protagonist einigen (positiven und negativen) Pflichten nicht nachkommt. Der Protagonist / die Protago­nistin tat folgendes:

  • Er / sie entwendet einem anderen Kind heimlich Süßigkeiten.
  • Er / sie weigert sich, einen Preis, den er / sie ungerechterweise erhalten hatte, mit dem benachteiligten Kind zu teilen.
  • Er / sie weigert sich, einem durstigen Kind von seiner / ihrer Cola abzugeben.
  • Er / sie weigert sich, einem anderen Kind zu helfen, um so selber bei einer Aufgabe gut abzuschneiden (während ein weiteres Kind hilft).

Die Kinder wurden zu den Geschichten befragt, und zwar zu folgenden Punkten:

  • Regelkenntnis (z.B. Darf man einem anderen Kind etwas wegnehmen?)
  • Regelverständnis (Warum ist das so?)

als Indikatoren für moralisches Wissen.

  • Emotionszuschreibung (Wie fühlt sich der / die Protagonist/in?)
  • Emotionsbegründung (Warum fühlt er / sie sich so?)

als Indikatoren für moralische Motivation.

Emotionen gelten hierbei als Urteile über die subjektive Bedeutsamkeit von Sachverhalten. Durch ihre Emotionszuschreibung konnten die Kinder also ausdrücken, welche der beiden Aspekte der Handlungen (eine moralische Regel übertreten zu haben und ein eigenes Bedürfnis befriedigt zu haben) sie wichtiger finden.

Nach Gilligans These der “frühen moralischen Weisheit” wäre für die einzelnen Fragen folgen­des zu erwarten:

Für die

  • Regelgeltung: Mädchen sollten positive Pflichten (teilen, helfen) für verbindlicher erachten als Jungen.
  • Regelbegründung: Mädchen sollten die Gültigkeit der Regel häufiger als Jungen mit dem Verweis auf die Folgen für das Opfer begründen.
  • Emotionszuschreibung: Mädchen sollten häufiger als Jungen der Protagonistin negative Emotionen aufgrund der Regelverletzung zuschreiben.
  • Emotionsbegründung: Mädchen sollten diese Emotion v. a. durch den Verweis auf das dem Opfer zugefügte Leid begründen.

Die Ergebnisse widersprachen größtenteils Gilligans Annahmen. Die Regelkenntnis nahm im Lauf der Untersuchung zu, sowohl was die negativen Pflichten angeht (hier war die Regelkennt­nis von Anfang an über 90%), als auch was die positiven Pflichten angeht. Dies galt geschlechtsunabhängig. Die einzige Geschlechtdifferenz widersprach Gilligans Theorie diame­tral: Beim Dilemma “Cola-Teilen” hielten anfangs ca. 58% der Jungen und Mädchen das Teilen für angebracht; im Lauf der Messzeitpunkte entwickelten sich die Geschlechter jedoch ausein­ander: Im Alter von 8-9 Jahren akzeptieren 93% der Jungen diese Norm (mit Bedürftigen teilen zu müssen), aber nur 73% der Mädchen.

Bei der Frage nach der Regelbegründung bezogen sich beide Geschlechter in unterschiedlichem Maße auf die Bedürfnisse des Opfers, je nach Dilemma. Bei negativen Pflichten (nicht stehlen) ist vom Opfer selten die Rede, bei positiven Pflichten dagegen häufig. Auch hier gab es nur einen den Voraussagen von Gilligan entgegengesetzten Geschlechtunterschied: Im zweiten Messzeitpunkt verweisen in der Helfer-Geschichte mehr Jungen als Mädchen auf die Bedürf­nisse des Opfers. Mädchen dagegen beziehen sich hier eher auf externe, soziale Sanktionen (“Sonst schimpft die Lehrerin”, “Sonst mögen mich die anderen nicht”).

Obwohl sie die Regeln recht gut kennen, erwarten die jüngeren Kinder eher, dass sich der Protagonist nach der Regelverletzung gut fühlen werde; dies ändert sich bis zum dritten Mess­zeitpunkt: Jetzt nehmen die Kinder mehrheitlich an, dass sich der Übeltäter schlecht fühlt. Dies gilt wieder geschlechtsunabhängig. Bei der Emotionsbegründung kam bei allen Altersklassen relativ wenig, weder werden drohende physische oder soziale Sanktionen für den Regelverletzer in nennenswertem Maße angegeben, noch wird das Leid des Opfers als Grund für die Emotio­nen genannt. Am ehesten kam noch die Begründung, der Übeltäter werde sich schlecht fühlen, weil er böse war. Auch hier gab es keine Geschlechtsunterschiede.

Die Anwendung von “fürsorglicher” Moral hängt also nicht vom Geschlecht, sondern von der Art der Regel, die verletzt wurde ab: Nur bei positiven Pflichten wird das Leid des Opfers in Erwägung gezogen. Auch von einer “frühen moralischen Weisheit” kann nicht die Rede sein: Jüngere Kinder zeigen weniger Neigung als größerer, trotz Kenntnis der Regel diese auch zu befolgen, wenn es ihren eigenen Interessen widerspricht.

Nunner-Winkler (1994) fasst zusammen: “Für beide [Geschlechter] ist moralische Motivation intrinsisch und formal und für beide ist deren Entwicklung ein langwieriger und mühseliger Lernprozeß” (S. 247).

Literatur:

Chodorow, N. (1986). Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter. München: Frauenoffensive.

Döbert, R. & Nunner-Winkler, G. (1986). Wertwandel und Moral. In: H. Bertram (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie (S. 289-319). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Gilligan, C. (1977). In a different voice: Women´s conceptions of self and of morality. Harvard Educational Review, 47, 481-517.

Gilligan, C. (1982). A Different Voice: Psychological Theory and Women´s Development. Cambridge: Harvard University Press.

Gilligan, C. (1986). Reply by Carol Gilligan. UC Journals SIGNS, 11, 68-74.

Held, V. (1987). Feminism and moral theory. In E.F. Kittay & D.T. Meyers (Eds.), Women and Moral Theory (pp. 111-128). Totowa / NJ: Rowman.

Nunner-Winkler, Gertrud. (1994). Der Mythos von den Zwei Moralen. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 42, 237-254.

Nunner-Winkler, G. & Sodian, B. (1988). Children´s understandig of moral emotions. Child Development, 59, 1323-1338.

Thoma,S.J. (1986). Estimating gender differences in the comprehension and preference of moral issuse. Developmental Review, 6, 165-180.

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Der Glaube an den freien Willen – ein Resultat des Wunsches, andere zu bestrafen?

Ob Menschen über einen freien Willen verfügen und wenn ja, wie das funktionieren soll, darüber herrscht unter Philosophen wie Wissenschaftlern Uneinigkeit. Der Glaube an den freien Willen hat aber Konsequenzen für das Verhalten. Wenn wir glauben, dass ein Mensch sich so verhält, wie er sich verhält, weil er seinem freien Willen folgt, bewerten wir seine Handlungen anders, als wenn wir glauben, dass sein Verhalten determiniert ist. Andererseits ist unser Glaube an den freien Willen von den Umständen abhängig. Tendenziell scheint die Überzeugung vom freien Willen wichtiger zu sein, wenn es um moralisch verwerfliche statt moralisch positive bewertete Handlungen geht. Schon Friedrich Nietzsche vermutete, dass es vor allem unser Wunsch sei, andere zu bestrafen, der uns an den freien Willen glauben lässt:

  • Irrthum vom freien Willen. – Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff „freier Wille“: wir wissen nur zu gut, was er ist – das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es giebt, zum Zweck, die Menschheit in ihrem Sinne „verantwortlich“ zu machen, das heisst sie von sich abhängig zu machen… Die Menschen wurden „frei“ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schuldig werden zu können: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden. (Nietzsche, Götzendämmerung)

Für diese Vermutung fanden Clark et al. (2014) in mehreren Studien nun überzeugende Belege.

Zunächst konnte sie feststellen, dass ihre Versuchspersonen stärker von der Existenz des freien Willens überzeugt waren, nachdem sie zuvor über eine unmoralische Handlung (im Gegensatz zu einer neutralen Handlung) nachgedacht hatten. Weiterhin fanden sie, dass dieser Effekt auf die stärkere Motivation, den Täter zu bestrafen, zurückzuführen war. In einem Feldexperiment konnten sie nachweisen, dass Studenten, die Zeugen waren, wie ein Kommilitone offenkundig betrog, stärker an einen freien Willen glaubten, was wiederum auf das Bedürfnis zu bestrafen zurückzuführen war. Versuchspersonen, die zuvor einen Text über das unmoralische Verhalten von Menschen gelesen hatten, fanden Berichte über Forschungen, die kritisch gegenüber der Annahme eines freien Willens waren, weniger überzeugend. Zuletzt untersuchten die Autoren noch, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Häufigkeit von Morden und anderen Verbrechen in einem Land und der Verbreitung des Glaubens an einen freien Willen bei der Bevölkerung dieses Landes. Je mehr Verbrechen es gab, desto verbreiteter war der Glaube an den freien Willen.

Literatur

Clark, Cory J.; Luguri, Jamie B.; Ditto, Peter H.; Knobe, Joshua; Shariff, Azim F. & Baumeister, Roy F. (2014). Free to punish: A motivated account of free will belief. Journal of Personality and Social Psychology, 106(4), 501-513.

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Der Fehler der Reifikation in der Psychologie

Indem wir Wörter für das, was wir tun (z. B. „denken“) in Substantive verwandeln (z. B. „Gedanken“) verwandeln, leisten wir dem Mentalismus Vorschub. Schon Robert S. Woodworth (1921) kritisierte den in der Psychologie verbreiteten Fehler der Reifikation:

  • Instead of “memory“ we should say “remembering“; instead of “thought” we should say “thinking”; instead of “sensation” we should say “seeing, hearing,” etc. But, like other learned branches, psychology is prone to transform its verbs into nouns. Then what happens? We forget that our nouns are merely substitutes for verbs, and go hunting for the things denoted by the nouns; but there are no such things, there are only the activities that we started with, seeing, remembering, and so on. Intelligence, consciousness, the unconscious, are by rights not nouns, nor even adjectives or verbs; they are adverbs. The real facts are that the individual acts intelligently—more or less so—acts consciously or unconsciously, as he may also act skillfully, persistently, excitedly. It is a safe rule, then, on encountering any menacing psychological noun, to strip off its linguistic mask, and see what manner of activity lies behind.
    (S. 5-6)

Literatur
Woodworth, Robert S. (1921). Psychology: A study of mental life. New York: Henry Holt.

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Bewusstsein ist nur ein Wort

Das Bewusstsein ist nicht im Gehirn, es ist etwas, das wir tun. Letztlich ist es sprachliches Verhalten. Hank Schlinger, über dessen Arbeit ich hier bereits berichtet hatte, erläuterte seine Gedanken auf der Konferenz der Skeptics Society im Jahr 2005.

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31/01/2014 · 15:44

Bewusstsein ist nur ein Wort

Wenn wir nach dem Bewusstsein suchen, werden wir nichts finden. Das Bewusstsein liegt in der Sprache, so Henry Schlinger.

Die Neurowissenschaften suchen nach dem Bewusstsein in den Gehirnprozessen. Die Gehirnprozesse erklären jedoch nicht, was Bewusstsein ist. Die endgültige Erklärung, woher das Bewusstsein kommt, kann nur die Geschichte der Art und die Lerngeschichte des Individuums liefern.

Bewusstsein ist kein Ding oder ein Ort oder ein kognitiver Prozess (was auch immer das ist). Die Gelehrten, die sich mit dem Bewusstsein beschäftigten, interessierte vor allem die subjektive Erfahrung, die sogenannten Qualia, wie z. B. die Frage, was rote Dinge rot sein lässt. Nach Schlinger (2008) erlernt man das Konzept „Rot“, wenn man lernt, auf viele verschiedene Objekte, die unterschiedliche Gestalten haben, aber alle eine bestimmte Wellenlänge des Lichts reflektieren, mit dem Wort „rot“ zu reagieren.

Das Bewusstsein ist ein unbefriedigendes Konstrukt, denn es hat keinen klar abgrenzbaren Referenten. Es kann auch keine Naturwissenschaft des Geistes geben (wie es die kognitive Psychologie zu sein vorgibt), denn Naturwissenschaften befassen sich mit realen Ereignissen und der Geist ist kein reales Ereignis.

Schlinger (2008) veranschaulicht den Ursprung des Bewusstseins folgendermaßen: Wenn man zur Arbeit fährt und am Ende sich an diese Fahrt nicht mehr erinnert, dann sagt man, man sei sich der Fahrt nicht bewusst gewesen. Was aber tat man, als man zur Arbeit fuhr? Man redete (im Stillen) zu sich selbst oder man stellte sich etwas vor – etwas anderes als die Reize, die mit dem Autofahren zu tun haben. Vielleicht dachte man an ein Gespräch oder das, was in der Nacht zuvor passiert ist. Bewusstsein heißt, etwas zu tun: Wenn wir sagen, wir waren uns einer Sache bewusst, dann sprachen darüber wir (im Stillen) oder stellten uns unsere äußere und innere Umwelt und unser offenes und verdecktes Verhalten vor.

Thomas Nagel fragte einmal, wie es sei, eine Fledermaus zu sein. Schlinger antwortet: Es ist gar nichts. Es gibt keine bewusste Erfahrung, also auch keine Qualia. Für die Fledermaus wird es nie Qualia geben, denn sie hat keine Sprache, um ihre Erfahrung zu beschreiben. Die Fledermaus kann auch fühlen – innere Zustände haben, Schmerz und Befriedigung empfinden usw. Ein Hund mag ein noch reichhaltigeres inneres Leben haben. So lange sie aber weder laut noch im Stillen darüber reden können, haben weder die Fledermaus noch der Hund ein Bewusstsein

Wir bringen unseren Kinder das Bewusstsein bei, indem wir sie fragen, was sie gerade sehen, was sie gerade tun und was sie gerade fühlen. Ein Kind wird sich seiner Umwelt bewusst, wenn es über sie sprechen kann. Je mehr Worte das Kind hat, um sein eigenes, von anderen beobachtbares Verhalten zu beschreiben, desto bewusster ist es seiner selbst. Am schwierigsten lernt man, seine eigenen innern Zustände zu beschreiben. Zu Beginn des Lernprozesses äußert das Kind hörbar, was es sieht, was es tut und was es fühlt. Mit der Zeit tut es das nur noch im Stillen. Doch neurologische Untersuchungen zeigen, dass dieselben Gehirnregionen aktiviert sind, wenn wir laut sprechen und wenn wir nur „denken“.

Die physiologische Basis des Bewusstseins sind die Sprachmechanismen im Gehirn. Dies zeigen auch verschiedene Funktionsstörungen des Gehirns. Menschen, die an visueller Agnosie leiden, können keine Objekte, die sie sehen, erkennen. Mit „erkennen“ meinen wir, dass sie nicht sagen können, was sie sehen – weder laut zu anderen noch still zu sich selbst. Daher sind sie sich der Objekte, die sie sehen, nicht „bewusst“. Kinder lernen meist, Objekte zu erkennen (das heißt zu benennen), wenn sie sie sehen oder hören, selten, wenn sie sie fühlen oder riechen. Jede dieser Aufgaben erzeugt einen anderen neuronalen Pfad. Bei der visuellen Agnosie wird einer dieser Pfade durchtrennt, die anderen bleiben intakt. Die Patienten, die an dieser Störung leiden, können sich sicher durch ihre Umwelt bewegen, sie sind nicht blind. Sie verhalten sich auch den Objekten, die ihnen gezeigt werden, gegenüber auf richtige Weise. Sie sind sich dessen aber nicht bewusst, d.h. sie können über Objekte, die sie nur sehen, nicht sprechen. Berühren sie beispielsweise das Objekt, können sie es dann häufig benennen. Man denke hier an den Fall eines Musikprofessors, den Oliver Sacks beschreibt. Als er einen Handschuh sieht, kann er diesen zwar beschreiben, aber nicht sagen, um was für ein Objekt es sich handelt. Als er seine Hand in den Handschuh stecken soll, spürt er das Objekt und kann es nun richtig benennen.

In uns ist kein Bewusstsein. In uns sind nur anatomische Strukturen und physiologische Prozesse.

„We skeptics find it all too easy to fault obvious pseudosciences, but when it comes to our own messy, unscientific thinking about ourselves, we’re a lot less critical“ (p. 63).

Literatur

Schlinger, Henry D. (2008). Consciousness is nothing but a word. Skeptic, 13(4), 58-63.

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