Monatsarchiv: Juni 2014

Zur Kritik an der „biologischen Psychiatrie“

Die „biologische Psychiatrie“ geht davon aus, dass neurochemische Dysbalancen, genetische Defekte und andere biologische Phänomene Störungen wie die Schizophrenie, Depressionen, Angststörungen, Drogenmissbrauch und Aufmerksamkeitsdefizit verursachen. Obschon sie die öffentliche Meinung und die Fachöffentlichkeit beherrscht, ist die empirische Grundlage für diese Auffassung dünner als man annehmen möchte. Dasselbe gilt für die Form der Psychiatrie, die vor allem bis ausschließlich auf den Einsatz von Medikamenten setzt: Auch die spezifische Wirksamkeit vieler Psychopharmaka ist zweifelhaft.

Dem gegenüber werden die erwiesenermaßen wirksamen Methoden der angewandten Verhaltensanalyse in der Behandlung schwerer psychischer Krankheiten kaum mehr eingesetzt. Eine Sondernummer der Zeitschrift Behavior and Social Issues ging 2006 der Frage nach, wie es dazu kommen konnte.

Die im folgenden referierten Artikel sind auf der Webseite von Behavior and Social Issues alle im englischen Original als PFD-Dokumente abrufbar (2007 gab es erneut eine Sondernummer zum Thema, zu der einige der u. a. Autoren Beiträge lieferten, vgl. hier).

Wyatt und Midkiff (2006a)

Im ersten Artikel beschäftigen sich Joseph Wyatt und Donna Midkiff (2006a) mit der empirischen Grundlage der biologischen Psychiatrie und der darauf basierenden Pharmakotherapie.

Noch in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und darüber hinaus war die Psychiatrie durch den Einsatz von fragwürdigen Methoden wie der Elektrokrampftherapie und der Lobotomie sowie den theoretischen Bezug auf die Psychoanalyse gekennzeichnet. Bis Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre sank das Ansehen der Psychiatrie innerhalb der Medizin zusehends. Nur wenige junge Ärzte wollten Psychiater werden. Psychiatrie galt als ein antiquiertes bis pseudowissenschaftliches Fach, eine Karriere in diesem Bereich als wenig attraktiv. Interessanterweise ist die Psychoanalyse der einzige nicht-biologische Erklärungsansatz, der in der Psychiatrie auch heute noch eine Rolle spielt. Nur wenige Psychiater vertreten einen verhaltenswissenschaftlichen Ansatz (oder kennen diesen auch nur annähernd). Die Pseudowissenschaft Psychoanalyse wurde und wird vor allem von Psychiatern, also Medizinern betrieben.

Hinzu kam, dass sich immer mehr Nicht-Mediziner mit psychisch Kranken beschäftigten (klinische Psychologen, Sozialarbeiter und Krankenschwestern). Diese Entwicklung rief eine Gegenreaktion auf Seiten der Psychiater hervor. Die amerikanische Psychiatervereinigung und andere professionelle Organisationen betrieben intensive Lobbyarbeit, um das Einsickern anderer Berufsstände in das Feld zu verhindern. Parallel dazu wurden biochemische und genetische Erklärungen für psychische Störungen propagiert, obgleich die (intensiv betriebene und – im Vergleich zur nicht-biologischen Forschung auf diesem Gebiet – üppig finanzierte) Forschung bislang kaum glaubhafte Belege vorlegen konnte. Beispielsweise gibt es keine tragfähigen Forschungsergebnisse, die zeigen, dass soziale Phobien durch eine neurochemische Dysbalance ausgelöst werden. Dennoch wird diese Ätiologie der sozialen Angststörung von Psychiatern als state of the art propagiert.

In dem Bestreben, verlorenes Terrain zurückzuerobern bzw. vorhandenes zu sichern, fand die Psychiatrie einen Verbündeten in der pharmazeutischen Industrie. Während Erklärungsansätze, die die Ursache einer psychischen Störung eher in den Umwelteinflüssen sehen, den Einsatz von Psychopharmaka allenfalls in Ausnahmesituationen rechtfertigen, ist die Gabe von Psychopharmaka die logische Konsequenz aus der Position der biologischen Psychiatrie. Zudem können Psychopharmaka nur von Ärzten verschieben werden, nicht aber von den Angehörigen der o.g. anderen Berufsstände.

Der finanzielle Aufwand, den die pharmazeutische Industrie für die Werbung betreibt, ist immens: 2001 wurden dafür in den Vereinigten Staaten 19 Milliarden Dollar ausgeben. Die Werbung für dies Produkte nimmt oft Bezug auf die angebliche biologische Verursachung der entsprechenden Störungen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass zwischen 1995 und 2000 die Zahl der Arbeitplätze im Bereich von Forschung und Entwicklung in der pharmazeutischen Industrie um 2% sank, während zugleich die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich Marketing um 59% stieg (seit 1995 ist in den USA die direct to customer Werbung für Psychopharmaka erlaubt). Auf jeden Handelsvertreter der Pharmaunternehmen kommen nur sieben Ärzte.

Dieser Aufwand an Werbung scheint nicht gerechtfertigt. Als Laie geht man ja eher davon aus, dass der eigene Arzt die Medikamente aufgrund fachlicher Überlegungen verschreibt. Wären Ärzte so unbestechlich, könnte der Aufwand für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit deutlich reduziert werden, nämlich auf das, was nötig ist, um Ärzte mit den entsprechenden Informationen bezüglich der Wirkungsweise der Medikamente und bezüglich der relevanten Forschungsergebnisse zu versorgen. Tatsächlich lassen sich aber sowohl Ärzte als auch Patienten von der Werbung beeinflussen. Kravitz und Kollegen (2005) schickten 298 „Patienten“ zu insgesamt 152 Allgemeinärzten und Internisten. Diese Patienten stellten sich dem Arzt mit den typischen Symptomen entweder einer Depression oder einer Anpassungsstörung vor. Bei einigen Besuchen berichteten die „Patienten“, sie hätten in einer Werbung gesehen, dass „Paxil“ ihnen helfen könnte. Andere „Patienten“ berichteten, sie hätten eine Werbung für ein Antidepressivum gesehen, erwähnten aber nicht den Namen. Wieder andere erwähnten kein Medikament. Bei den 51 Besuchen, bei denen „Paxil“ erwähnt wurde, verschrieb der Arzt 14 mal das gewünschte Medikament. Bei 50 Besuchen, bei denen kein bestimmtes Medikament genannt wurde, erhielten die Patienten nur einmal eine Verschreibung für Paxil, in der Gruppe, die kein Medikament erwähnte, erhielten 2 von 50 Patienten eine Verschreibung für Paxil.

Obschon es verboten ist, Medikamente zu einem anderen Zweck zu verschreiben als zu dem, für den sie zugelassen wurden (off-label), werden 60% aller Verschreibungen für anti-psychotische Medikamente nicht an Patienten, die an psychotischen Symptomen leiden, vergeben (sondern z.B. für Menschen mit Alzheimer, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und Autismus).

Wyatt und Midkiff (2006a) halten fest: Die biologische Verursachung psychischer Störungen ist der Mörtel, der die Ehe von Psychiatrie und pharmazeutischer Industrie zusammenhält.

Wie sieht es aber mit der empirischen Grundlegung für diesen Erklärungsansatz aus? Zunächst ein Blick auf die „genetische Verursachung“.

Eineiige Zwillinge haben identische Erbanlagen. Wenn eine bestimmte Störung (z.B. Schizophrenie) häufiger bei beiden eineiigen Zwillingen auftritt oder nicht auftritt – wenn also die Konkordanz des Merkmals bei eineiigen Zwillingen größer ist als bei zweieiigen Zwillingen, dann sollte dies für ein genetische Verursachung dieser Störung sprechen (diese und die folgenden Argumente sowie die Kritik daran können im übrigen auf alle anderen psychischen Störungen sowie auf Merkmale wie „Intelligenz“ oder „Persönlichkeitsstruktur“ übertragen werden). Zweieiige Zwillinge die gemeinsam aufwachsen, haben jedoch auch eine hochgradig ähnliche Umwelt. Daher ist die logische Konsequenz daraus, eineiige Zwillingspaare zu suchen, die kurz nach der Geburt getrennt wurden und die dann in unterschiedlichen Umwelten aufwuchsen. Ähnlichkeiten zwischen den Zwillingen und bspw. ihren Adoptivgeschwistern wären dann auf die gemeinsame Umwelt, Ähnlichkeiten zwischen den getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen dagegen auf die identische genetische Ausstattung zurückzuführen. Soweit die Logik der Zwillingsforschung. Und tatsächlich ist die Konkordanz für zahlreiche psychische Störungen bei getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen höher als in der Population zu erwarten wäre.

Die der Zwillingsforschung zugrundeliegende Annahme, dass die Umwelt von getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingen unterschiedlich ist, muss jedoch hinterfragt werden. Das hervorstechendste Merkmal von eineiigen Zwillingen ist ihr nahezu identisches Äußeres. Auch wenn sie an entgegengesetzten Enden der Welt aufwachsen, sie werden einander optisch sehr ähnlich sehen. Nun aber ist bekannt, dass attraktive Menschen von ihrer Umwelt besser behandelt werden als unattraktive. Sie sind beliebter, finden schneller attraktive und erfolgreiche Partner, werden für intelligenter gehalten (und bekommen tatsächlich auch bessere Noten in der Schule) und haben es allgemein im Leben tendenziell leichter. Unattraktive eineiige Zwillinge teilen daher das Risiko, von ihrer Umwelt – wie verschieden diese auch sei – schlechter behandelt zu werden. Die erhöhte Konkordanz für psychische Störungen kann daher auch aus der ähnlichen Reaktion der Umwelt auf das identische Äußere der eineiigen Zwillinge resultieren und muss nichts mit einem „genetischen Faktor“ zu tun haben.

Eineiige Zwillinge sehen einander nicht nur sehr ähnlich, sie reifen auch zu vergleichbaren Zeitpunkten. Mädchen, die früher in die Pubertät kommen als ihre Altersgenossinnen, haben oft mit den ablehnenden Reaktionen ihrer Umwelt zu tun: Sie sind unbeliebter, machen häufiger vorzeitig sexuelle Erfahrungen, konsumieren früher Alkohol und erzielen daher in der Schule oft schlechtere Noten. Frühreifende Jungen dagegen werden von ihren Altersgenossen dagegen eher bewundert, sie nehmen häufiger Führungspositionen ein, müssen aber auch früher (oft unangemessen hohe) Verantwortung übernehmen. Dagegen gelten spätreifende Jungen als ängstlich und zu gesprächig bzw. nach Aufmerksamkeit heischend. All dies sind Reaktionen der Umwelt, die im Zusammenhang mit dem genetisch bestimmten Zeitpunkt der Reifung zu tun haben und die zu psychischen Problemen führen können. Somit kann auch der ähnliche Zeitpunkt der Reifung von getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingen in einer erhöhten Konkordanz für psychische Störungen resultieren, der nichts mit einer genetischen Grundlage für die psychischen Störungen zu tun hat.

Diese Reaktionen der Umwelt in Bezug auf das Aussehen und den Reifungszeitpunkt eines Kindes und die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit sind gut untersucht. Zwillingsforscher interessieren solche Untersuchungen wenig und sie wurden bislang auch nicht in ihren Forschungen berücksichtigt. Aber auch ein Blick auf die genauen Bedingungen der Zwillingsforschung lohnt sich. Man wundert sich nachgerade, wie viele eineiige Zwillinge es wohl geben muss, die unmittelbar nach der Geburt getrennt wurden und die dann in fundamental unterschiedlichen Familien aufwuchsen. Tatsächlich aber entspricht die Realität dieser Untersuchungen nicht dem Ideal. Lykken, McGue, Tellegen und Bouchard (1992) berichten von Untersuchungen an 315 Paaren von eineiigen Zwillingen, die spätestens ab dem Alter von zehn Jahren getrennt aufwuchsen. Bis ein Kind zehn Jahre alt ist, haben jedoch schon sehr viele Umwelteinflüsse auf es eingewirkt, so dass sich eigentlich jegliche Aussage bezüglich der Erblichkeit eines Merkmals verbietet. Hinzu kommt, dass die meisten Jugendämter auf der Welt versuchen, Zwillinge, wenn schon nicht in die selbe Familie, so doch wenigstens so nahe und in so ähnliche Familien wie möglich zu geben. Oft erwarten auch die biologischen Eltern, dass ihre Kinder in ähnliche Familien wie die Ursprungsfamilien kommen (z.B. in Bezug auf die Religion und die soziale Schicht) oder aber die Kinder werden ohnehin in die weitere Verwandtschaft der Ursprungsfamilie gegeben. Der oben geschilderte „Idealfall“ – eineiige Zwillinge werden unmittelbar nach der Geburt in zwei völlig verschiedene Familien gegeben (und erfahren womöglich noch nicht einmal voneinander) – dürfte extrem selten sein, zumindest aber zu selten, als dass man darauf verlässliche Untersuchungen bauen könnte.

Das zweite Dogma der biologischen Psychiatrie ist die Auffassung, dass psychische Störungen durch gestörte Prozesse oder Strukturen im Gehirn verursacht werden. Während dies für einige Störungen zweifelsohne wahr ist (so für Alzheimer und andere degenerative Erkrankungen und für die durch den Missbrauch von Substanzen oder Hirnverletzungen verursachten Krankheiten), liegen für die „klassischen“ psychischen Krankheiten, die von Psychiatern mit Psychopharmaka behandelt werden, kaum tragfähige Belege einer Verursachung durch Hirnschäden oder eine gestörte Gehirnchemie vor.

Ein Forschungsansatz besteht darin, die Gehirne verstorbener psychisch kranker Menschen zu untersuchen. Diese Studien erbringen immer wieder Belege für eine veränderte Zellstruktur z.B. bei Schizophrenen. Ganz abgesehen von der Frage, ob diese veränderte Zellstruktur nicht eher eine Folge der Behandlung mit Psychopharmaka als der Erkrankung selbst ist, ergibt sich ein weiteres Problem: Angenommen, eine Studie zeigt, dass 60% der Gehirne von Schizophrenen einen erhöhten Dopamin-4-Wert aufweisen, während dies nur auf 10% der Gehirne von nicht-erkrankten Menschen zutrifft. Dieser Unterschied spricht zunächst einmal überzeugend für eine ursächliche Rolle des Dopamin-4-Wertes bei der Entstehung von Schizophrenie. Nun aber sehen wir uns einmal die absoluten Zahlen an. Rund ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung der USA gilt als schizophren, das wären also etwa 2 Millionen. 60% davon haben einen erhöhten Dopamin-4-Wert, das entspricht 1,6 Millionen. Von den verbliebenen 198 Millionen nicht-schizophrenen US-Bürgern haben 10% einen erhöhten Dopamin-4-Wert, das sind 19,8 Millionen. Das heißt: 16 mal so viele nicht-schizophrene wie schizophrene Menschen haben einen erhöhten Dopamin-4-Wert. Wenn also ein beliebiger Mensch einen erhöhten Dopamin-4-Wert hat, dann ist er höchstwahrscheinlich nicht schizophren.

Studien, die bildgebende Verfahren einsetzen, zeigen deutliche Unterschiede in der Gehirnaktivität von psychisch kranken und gesunden Menschen. Nur lässt sich daraus nicht folgern, dass diese Unterschiede ein Hinweis auf die biologische Verursachung von psychischen Krankheiten sind, denn auch Erfahrungen verändern die Gehirnaktivität. Sowohl Verhaltenstherapie als auch Medikamente haben ähnliche Effekte auf das offene Verhalten und die Gehirnaktivität. Man muss sich also fragen, ob die Unterschiede in den Gehirnaktivitäten von psychisch kranken und gesunden Menschen nicht eher eine Folge des jahrelangen Leidens sind (als deren Ursache). Depressive Menschen essen eher wenig oder unregelmäßig, sie schlafen schlecht und sie bewegen sich weniger als Gesunde. Es wäre nachgerade verwunderlich, wenn dieser Lebensstil nicht die Physiologie des Organismus beeinflussen würde.

Wie Wyatt und Midkiff (2006a) berichten, wurden die amerikanische Psychiatervereinigung (APA) und ähnliche Organisationen 2003 von der Organisation „Mind Freedom“ herausgefordert: Sie sollten wissenschaftlich tragfähige Belege dafür vorbringen, dass Erkrankungen wie Schizophrenie und Depressionen biologische Ursachen haben (ausgenommen Fälle, in denen eine offenkundige biologische Verursachung vorliegt, wie etwa beim Down-Syndrom). Der medizinische Direktor der Psychiatervereinigung antwortete auf diese Herausforderung: Die Belege, die „Mind Freedom“ verlange, lägen längst vor, sie seien in einigen einschlägigen grundlegenden Lehrbüchern (auf die er verwies) nachzulesen. „Mind Freedom“ schlug die entsprechenden Bücher nach und fand, dass sich in diesen keine Belege fanden, sondern vielmehr Aussagen wie die, dass die Ursache der meisten psychischen Störungen abgesehen von wenigen Ausnahmen bislang nicht eindeutig geklärt sei. Die APA reagierte auf diesen Einwand mit einer Erklärung, in der auf den enormen wissenschaftlichen Fortschritt verwiesen wurde, der bezüglich der Verursachung gemacht worden sei und der belege, dass psychische Störungen ihrer Ursache in Gehirnprozessen habe. Jedoch enthielt die Erklärung keine anderen als die bereits genannten Literaturhinweise. Es ist nicht etwa so, dass die APA den Vertretern von „Mind Freedom“ nicht die Lektüre wissenschaftlicher Texte zutraut: Es gibt schlicht keine wirklich belastbaren Belege für die biologische Verursachung der o.g. Krankheiten. Psychiater glauben einfach an die biologische Verursachung von psychischen Erkrankungen, weil sie und die Pharmaindustrie davon leben.

Die Wirkung von Psychopharmaka wird als Beleg für diese biologische Verursachung herangezogen. Psychopharmaka müssen ihre Wirksamkeit in doppelblinden, placebokontrollierten Studien nachweisen. Die Teilnehmer an solchen Studien sind jedoch nicht gerade repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Natürlich werden schwangere und stillende Frauen und Frauen, die keine Verhütungsmittel nehmen, ausgeschlossen (und das ist auch gut so). Darüber hinaus werden aber auch viele andere Patientengruppe ausgeschlossen, so solche, die neben der Krankheit, die das Medikament behandeln soll, noch an anderen Krankheiten leiden. Psychiater räumen ein, dass 86% aller Patienten, die ein Medikament erhalten, bei den entsprechenden Studien vom Pool der Versuchspersonen ausgeschlossen würden.

Es wäre unverantwortlich zu behaupten, dass niemandem durch Psychopharmaka geholfen wird. Verschiedenen Überblicksarbeiten zeigen jedoch, dass es in 52% der (veröffentlichten) Studien keinen Unterschied zwischen dem Placebo und dem Verum gab. Zudem laufen solche Studien nicht so ab, wie es das wissenschaftliche Ideal vorsieht: Zu Beginn jeder Studie werden die Teilnehmer aussortiert, die positiv auf ein Placebo ansprechen: Bis zu drei Wochen erhalten alle Teilnehmer nur das Placebo – diejenigen, die jetzt schon eine Verbesserung zeigen, werden aus dem Teilnehmer-Pool herausgenommen. Erst dann werden die restlichen Teilnehmer auf die Placebo- und die Verumgruppe verteilt. Solcherart werden die Chancen, dass die Verumgruppe besser abschneidet als die Placebogruppe, drastisch erhöht. Trotzdem sprechen die Resultate solcher Studien oft gar nicht oder nur minimal für eine spezifische Wirkung des Medikaments. Zudem muss betont werden, dass es hier um veröffentlichte Studien geht: Das sogenannte File-Drawer-Problem (unerwünschte Ergebnisse werden nicht veröffentlicht bzw. werden Studien, die keine erwünschten Resultate versprechen, vorzeitig abgebrochen – ob mit oder ohne vorgeschobenen „Grund“) kann in einem Forschungsgebiet, das massiv von den finanziellen Interessen der Pharmaindustrie beherrscht wird, gar nicht unterschätzt werden. Nur erwähnt werden soll, dass solche Bedingungen sich auch auf die Neigung der Forscher, die nötigen Vorkehrungen gegen Selbst- und Fremdtäuschung (wie z. B. Verblindung) penibel einzuhalten, auswirken können.

Verhaltensanalytiker verfolgen keinen ausschließlichen Anspruch auf die Umweltbedingtheit von Verhalten. Vielmehr ist das Verhalten eines Menschen das Resultat der gemeinsame Formung seines Erbguts durch die Umwelt seiner Vorfahren und der seines Verhaltens im Lauf seines eigenen Lebens. Doch schon Skinner (1974) bemerkte, dass die „genetische Ausstattung“ oft zum Lückenbüßer und Erklärungsplacebo für Verhalten gemacht wird, das momentan noch nicht in den Begriffen der Verstärkung durch Umwelteinflüsse beschrieben werden kann. Die Pharmaindustrie hat fragwürdige Aussagen bezüglich der biologischen Verursachung von psychischen Erkrankungen gefördert. Die Psychiatervereinigungen beteiligen sich an dieser Mode, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich dadurch das Behandlungsmonopol sichern (und weil sie enorme finanzielle Zuwendungen der Pharmaindustrie erhalten). Zudem wird den Patienten und ihren Familien solcherart vermittelt, dass die Biologie und nicht sie selbst für ihren Zustand verantwortlich sind, was auch zahlreiche Patienten- und Angehörigenvereinigungen dazu verleitet hat, den biologischen Ansatz vorzuziehen (und was ihnen zum Teil durch finanzielle Zuwendungen der Pharmaindustrie gelohnt wird). Eine Studie von Phelan (2002) zeigt, dass sich Patienten weniger verantwortlich fühlen, wenn sie erfahren, ihre Krankheit sei „genetisch bedingt“. Einen ähnlichen Trost kann nur noch die Astrologie bieten: Wenn Sie „Widder“ sind, dann sind Sie natürlich cholerisch – und können und müssen daran auch nichts ändern…

Wong (2006a)

Stephen Wong (2006a) beschäftigt sich mit der Frage, was aus den verhaltensanalytischen Behandlungsansätzen in der Psychiatrie geworden ist. Schon B.F. Skinner und Ogden Lindsley übertrugen das operante Paradigma auf die Untersuchung von Patienten mit chronischen psychischen Erkrankungen (Lindsley & Skinner, 1954; Skinner, Solomon & Lindsley, 1954; vgl. auch Rutherford, 2003, für einen Überblick). Auch in der weiteren Grundlagenforschung zu den psychotischen Störungen spielte die Verhaltensanalyse eine wichtige Rolle. So wiesen Salzinger und Pisoni (1958, 1961) nach, dass das automatische Sprechen von Schizophrenen wenigstens zum Teil durch die Fragen des Untersuchers ausgelöst und durch seine Reaktionen (wie z.B. „mm-hmm“, „ah ja“ usw.) aufrechterhalten wird. Eines der ersten Beispiele für angewandte Verhaltensanalyse berichtete vom Einsatz der Verhaltensanalyse in der Psychiatrie (Ayllon & Michael, 1959). Ein Überblicksartikel von Stahl und Leitenberg (1976) konnte aufzeigen, dass praktisch alle der 23 zwischen 1959 und 1972 veröffentlichten Artikel von erfolgreichen individuellen Programmen mit großen bis sehr großen Fortschritten bezüglich des Zielverhaltens berichteten, die restlichen berichteten von mäßigen Fortschritten. Auch verhaltensanalytische Maßnahmen, die eine Gruppe von Personen (z. B. alle Patienten in einer Abteilung) zum Ziel hatten, waren durchgehend erfolgreich. Die sogenannten Tokensysteme sind hier besonders hervorzuheben. In zahlreichen Untersuchungen konnte eine gute Wirksamkeit für das angestrebte Zielverhalten (z. B. Teilnahme an Gruppenaktivitäten, Verrichtung täglicher Pflichten, inklusive Körperpflege) nachgewiesen werden: Das Ausbleiben von Fortschritten bei wenigen Teilnehmern (je nach Untersuchung zwischen 3 % und 20 %) konnte immer auf Abweichungen vom Behandlungsprotokoll, den Einsatz unwirksamer Verstärker oder überzogene Werte für die Tokens zurückgeführt werden (Wong, 2006a). Obwohl die Grenzen der Tokensysteme mehr in den strukturellen Bedingungen (wie sie z. B. in der Arbeitsumwelt eines psychiatrischen Krankenhauses zu finden ist) als in der Technik der Systeme selbst liegen, ging der Einsatz von Tokensystemen Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre stark zurück. Mittlerweile ist das Soziale Kompetenztraining oft die einzige verhaltenbasierte Maßnahme, die in Psychiatrien noch durchgeführt wird.

Wong (2006a) kritisiert, dass die Reliabilität und die Validität der Diagnosen des DSM (des diagnostisch-statistischen Manuals der amerikanischen Psychiatervereinigung) ausgesprochen fraglich ist. Das Problem der zu geringen Reliabilität (der Zuverlässigkeit, wie sie z. B. durch die Übereinstimmung der Diagnosen unterschiedlicher Ärzte gemessen werden kann) wurde von den Psychiatern lange unterschätzt. Das DSM-III-R wurde auf eine bessere Reliabilität hin getrimmt, die Diagnosen erreichen aber dennoch nur Kappawerte von .49 bis .69 (ein Wert von 1.0 würde eine perfekte Reliabilität darstellen; gemeinhin werden Untersuchungen, in denen dieser Wert geringer als .80 ist, nicht als reliabel genug betrachtet, damit die Ergebnisse anerkannt werden können). Zum DSM-IV liegen noch keine Untersuchungen vor, die Reliabilität dürfte aber vermutlich wieder etwas höher liegen. Der lange Kampf um die Reliabilität von Diagnosen wie „Schizophrenie“ zeugt aber davon, wie sehr solche Zuschreibungen von der willkürlichen Einschätzung des Diagnostikers abhängen. Die Validität (Gültigkeit) der DSM-Diagnosen ist indes völlig unklar, denn es gibt zu den meisten Diagnosen kein objektives Korrelat, anhand dessen die Diagnose validiert werden könnte. Insbesondere gibt es keine eindeutigen organischen Korrelate. DSM-Diagnosen sind vielmehr mehr oder weniger willkürliche Zusammenstellungen von Symptomen zu „Syndromen“. Der häufige Wechsel der Diagnosen (mal ist eine Diagnose enthalten, in der nächsten Ausgabe wird sie durch eine andere ersetzt oder fehlt ganz) hat mehr mit Faktoren außerhalb der klinischen Forschung zu tun: Auf den Druck der Vertreter von Lesben und Schwulen wurde die Diagnose „Homosexualität“ aus dem DSM genommen, u. a. auf den Druck von Vietnamveteranen kam die posttraumatische Belastungsreaktion hinein. Dennoch – trotz der Tatsache, dass DSM-Diagnosen mehr oder weniger soziale Konstrukte sind – besteht die amerikanische Gesundheitsbehörde darauf, dass Schizophrenie eine „chronische, schwere und behindernde Gehirnerkrankung“ sei. Dabei räumt selbst das DSM ein, dass es keine eindeutigen Laborergebnisse gibt, die als diagnostisches Kriterium für Schizophrenie gelten könnten. Psychische Störungen werden dennoch als körperliche Phänomene deklariert, ohne dass es dafür eine hinreichende wissenschaftliche Grundlegung gibt.

Die Ergebnisse von über 1300 Studien, die seit den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zur Wirkung von Neuroleptika veröffentlicht wurden, zeigen, dass nur 21 % der mit dem Verum behandelten schizophrenen Patienten einen Rückfall erlitten, im Gegensatz zu 55 % der Patienten, die das Placebo bekommen hatten (Cohen, 1997). Dies scheint ein eindeutiger positiver Befund zu sein, der für den Einsatz von Neuroleptika spricht, jedoch sollte man ihn genauer betrachten. Fast keine dieser Forschungen konnte zeigen, dass die Einnahme von Neuroleptika einen positiven Einfluss auf die Fähigkeit der Patienten, soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten, hat oder auf seine Arbeitsfähigkeit. Ironischerweise war dies die Stärke gerade der nun kaum noch praktizierten verhaltensorientierten Programme. Vergleicht man die Daten aus verschiedenen Ländern, so zeigt sich, dass die Heilungsquoten bei Schizophrenie in Ländern, in denen kaum Neuoleptika verschrieben werden (wie Indien oder Kolumbien), deutlich besser sind als in Ländern, in denen die Gabe von Neuroleptika bei Schizophrenie die Behandlungsmethode der Wahl ist. Neuroleptika wirken nach allgemeiner Ansicht nicht spezifisch auf die psychotischen Symptome, sondern sie unterbrechen eine Vielzahl an motorischen, verhaltenrelevanten, affektiven und kognitiven Funktionen. Medikamente wie Chlorpromazin haben viele allgemein unterdrückende oder anregende Wirkungen, beheben aber nicht die psychotischen Denkstörungen im speziellen. Zudem rufen die Neuroleptika erhebliche Nebenwirkungen hervor, wie z. B. die extrapyramidalen Symptome (EPS) und die tardive Dyskinesie (TD). Sogenannte „atypische“ Antipsychotika wurden als nebenwirkungsärmer und spezifischer beworben, neuere Studien zeigen aber, dass sie weder effektiver noch sicherer sind als die „alten“ Neuroleptika.

Der Verkauf von Psychopharmaka ist ein großes Geschäft, allein das Mittel „Zyprexa“ erzielte 2003 einen Umsatz von 4,28 Milliarden Dollar. Wong (2006a) berichtet von der Entwicklung und Kampagne des Mittels „Thorazin“ und kontrastiert diese mit der Forschung und Verbreitung des ersten Tokensystems (Ayllon & Azrin, 1968). Nach der ersten Pilotstudie 1961 waren die Autoren zwar in Versuchung, das System gleich zu verbreiten, warteten aber dennoch vier ganze Jahre, um sicherzustellen, dass die erzielten Erfolge von Dauer waren, eher sie den ersten Bericht veröffentlichten.

Pharmafirmen finanzieren 70 % der klinischen Evaluationsstudien. Es gibt viele subtile Möglichkeiten, das Ergebnis einer Evaluationsstudie zu beeinflussen, auch solche, die dem Untersucher gar nicht einmal bewusst sind. Zum Beispiel kann man viele Parameter erfassen, so dass man unter diesen fast notwendigerweise immer einen findet, der sich zum positiven verändert. Freilich gibt es auch dagegen methodische Vorsichtsmaßnahmen, die solches fishing for significance verhindern sollen, jedoch sind auch die Vorsichtsmaßnahmen für bewusste oder unbewusste Einflussnahme anfällig. Viele Pharmafirmen, die Studien finanzieren, lassen sich, so Wong (2006a), von den Forschern zuvor das Recht auf einer Prüfung vor der Veröffentlichung (und ein entsprechendes Vetorecht) einräumen. Whitaker (2002) berichtet von der Wirksamkeitsprüfung der drei Medikamente Zyprexa, Risperdal und Seroquel. Von den 7269 Patienten, die in den Studien das Verum erhielten, stiegen 60 % vor Beendigung der Studie aus. Zum Beispiel brachen in der Studie zum Medikament Seroquel 80 % der 2162 Versuchspersonen das Experiment frühzeitig ab. Sie brachen ab, weil das Medikament nicht half, weil es unangenehme Nebenwirkungen hatte oder weil sie einfach nicht mehr weitermachen wollten. Die Wirkung von Antidepressiva gilt gemeinhin als gut belegt. Jedoch gab es nur in 20 von 47 Studien messbare positive Wirkungen. Diese Informationen werden nicht veröffentlicht, sie wurden erst aufgrund des „Freedom of Information Act“ freigegeben (Kirsch et al., 2002). Auch war der klinische relevante Unterschied – nicht der statistische – zwischen Placebo und Verum immer sehr klein. Weiterhin ist bekannt, dass über die Hälfte der Experten, die in der amerikanischen Gesundheitsbehörde für die Arzneimittelprüfung verantwortlich sind, finanzielle Beziehungen zur Pharmaindustrie unterhalten.

Die Forschungsgelder für verhaltensorientierte (nicht-pharmazeutische) Forschung in der Psychiatrie werden nach und nach zurückgefahren. 1987 waren nur 6 % der von den amerikanischen Gesundheitsbehörden unterstützen Forschungsprojekten zur Schizophrenie nicht biologisch ausgerichtet. Auch das von Skinner und Lindsley ins Leben gerufene Labor zur Forschung im Bereich der psychischen Krankheiten an der Universität Harvard musste schon 1965 zum Teil aufgrund zu geringer finanzieller Unterstützung wieder schließen (Rutherford, 2003).

Die Kommentare

Hanson (2006)

Meredith Hanson (2006) stimmt sowohl Wyatt und Midkiff (2006a) als auch Wong (2006a) zu. Die sogenannten biologischen oder genetischen Konstrukte spielen neben der Psychiatrie auch in den Debatten um andere Minderheiten eine Rolle. Hanson (2006) exemplifiziert dies an der Argumentation einiger Autoren, die das soziale Konstrukt „Rasse“ als eine biologische Kategorie ausgeben.

Einen genaueren Blick wirft Hanson (2006) auf die „CATIE“-Studie, die erhebliche Zweifel bezüglich der Wirksamkeit von antipsychotisch wirkenden Medikamenten hervorrief. Diese Studie fand an verschiedenen Kliniken statt und versuchte die Bedingungen der wirklichen Verschreibungspraxis von Psychopharmaka zu simulieren. Im Gegensatz zu den üblichen Wirksamkeitsstudien mit ihren eher wirklichkeitsfernen Bedingungen konnten in der CATIE-Studie keine Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Generation von Antipsychotika gefunden werden – und auch allgemein nur wenig Nutzen der Medikation an sich (Lieberman et al., 2005). Ragin (2005) berichtet unter anderem davon, dass 64 % bis 82 % der Teilnehmer die Behandlung von sich aus innerhalb eines Zeitraums von 3,5 bis 9,2 Monaten vorzeitig beendeten. Freilich muss auch die CATIE-Studie aufgrund der von den Autoren selbst angeführten methodischen Bedenken mit Vorsicht interpretiert werden.

Mitchell (2006)

Christopher G. Mitchell (2006) weist darauf hin, dass allein aus der Tatsache, dass die Psychiater und die Pharmaindustrie von der Verbreitung des biologischen Modells profitieren, noch lange nicht folgt, dass ihre Behauptungen falsch sind. Nur ist es ein Umstand, der uns zu größerer Genauigkeit bei der Prüfung ihrer Behauptungen veranlassen sollte. Er lobt die Autoren (Wong, 2006a; Wyatt & Midkiff, 2006a) für diese Genauigkeit. Ihm falle es immer schwer, das biologische Modell in Frage zu stellen, da er selbst so oft den augenscheinlichen Nutzen der Psychopharmaka gesehen habe.

Mitchell (2006) fragt zurecht, wie sich die zweifelhafte Basis der modernen, biologisch orientierten Psychiatrie mit dem allgemeinen Bestreben zur wissenschaftsfundierten Medizin (evidence-based practice) verträgt.

Rakos (2006)

Richard Rakos (2006) stimmt den Autoren (Wyatt & Midkiff, 2006a; Wong, 2006a) zu: Der Behaviorismus hat den Kampf um die Gunst und die Pfründe, die es in der Gesundheitswirtschaft zu verteilen gilt, verloren. Besonders augenfällig ist für ihn die völlige Ignoranz gegenüber der herausragenden Arbeit von Paul und Lentz (1977), die die Wirkung eines Tokensystems in einer Klinik über 4,5 Jahre untersuchten.

Der Behaviorismus hat aber auch nicht die Herzen der Menschen erobert. Ironischerweise ist der Behaviorismus – ein Ansatz, der die Empirie und den Nutzen der Forschung betont – von einer pragmatischen und wissenschaftsorientierten Gesellschaft an den Rand gedrängt worden.

Die Ursache hierfür sieht Rakos (2006) im seines Erachtens angeborenen Streben der Menschen nach einem Gefühl für Autonomie. Rakos (2004) vertritt die These, dass diejenigen Individuen in einer Population, die ihre eigenen Handlungen als selbstverantwortet erlebten (auch wenn es sich de facto nicht so verhält), bessere Überlebenschancen hatten als die Angehörigen einer Art, denen diese Eigenschaft fehlte. Die biologische Psychiatrie ist deshalb für die meisten Menschen attraktiver, weil sie die psychische Störung zu einer Krankheit erklärt, etwas, dass man von seiner Persönlichkeit subtrahieren kann. Verhaltensanalytiker dagegen betrachten psychotische Symptome und allgemein das Verhalten eines Menschen als von der Umwelt kontrolliert, was wiederum diesem Gefühl der Autonomie zuwiderläuft. Verhaltensanalytische Maßnahmen erzeugen daher mehr Reaktanz auf Seiten der Betroffenen und ihrer Angehörigen als die Einnahme von Medikamenten.

Auffällig ist, so Rakos (2006), dass die angewandte Verhaltensanalyse bei der Behandlung von Schizophrenie nur eine kleine Nebenrolle spielt, während sie bei Autismus und Entwicklungsstörungen oft die Behandlung der Wahl ist (zumindest in den USA). Der Unterschied sei damit zu erklären, dass man autistischen und geistig behinderten Kindern eher eine eingeschränkte Fähigkeit zur Selbstbestimmung zuschreibe als einem schizophrenen Erwachsenen.

Der Unterschied erklärt sich m.E. (CB) eher so: Medikamente können bei Autismus einfach nicht das bewirken, was die angewandte Verhaltensanalyse hier schafft: Mehr Verhalten zu erzeugen und die autistischen Kinder, wie von den Eltern gewünscht, zu „normalen“ Kinder machen. Bei schizophrenen Erwachsenen unterdrücken die Medikamente erfolgreich ein unerwünschtes Verhalten (und scheitern oft dabei, erwünschtes Verhalten – das z. B. zur Arbeitsfähigkeit führen könnte – zu erzeugen). Mehr will die Gesellschaft in diesem Fall nicht erreichen, als dass der Schizophrene nicht mehr stört.

Bemerkenswert ist für Rakos (2006) der Umstand, dass sogenannte kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme sich größerer Akzeptanz erfreuen. Die kognitive Theorie appelliert explizit an die Selbstbestimmtheit eines bewusst seinen freien Willen ausübenden Subjekts. Daher werden die (eigentlich nur wirksamen) verhaltensanalytisch fundierten Interventionen im Gewand der kognitiven Verhaltenstherapie akzeptiert, während sie in ihrer „unverkleideten“ Form als freiheitseinengend abgelehnt werden. Woolfolk, Woolfolk und Willson (1977) zeigten, dass Verstärkungstechniken in der Schule von den Beteiligten negativ bewertet wurden, wenn sie als „Verhaltensmodifikation“ deklariert wurden, dagegen als positiv, wenn sie „humanistische Erziehung“ genannt wurden.

Rakos (2006) sieht die Welt eher auf eine „Brave New World“, in der das Verhalten durch Drogen manipuliert wird als auf ein „Walden Two“ (Skinner, 1948) zusteuern. Er rät den Verhaltensanalytikern eher, sich Verbündete zu suchen, um die nächste Ausgabe des DSM in ihrem Sinne zu beeinflussen anstatt das Diagnosemanual gänzlich abzulehnen.

Das Scheitern der an sich erfolgreichen Tokensysteme führt Rakos (2006) auch auf die Umstände, die damit für das Klinikpersonal verbunden sind, zurück. Deren Mühe wurde nicht angemessen verstärkt, so dass die Behandlungsintegrität gefährdet war.

Salzinger (2006)

Kurt Salzinger (2006) schildert die Situation so: In den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bestand die Behandlung psychisch Kranker aus Elektroschocktherapie, Gehirnchirurgie und etwas Psychoanalyse. Viele Menschen waren mehr oder weniger auf Lebenszeit in den Kliniken interniert. Die Ärzte ließen sich selten einmal bei den Patienten blicken und auch die Schwestern und Pfleger ließen diese lieber vorm Fernseher sitzen und beobachteten sie meist aus einem anderen Raum, um nur dann einzugreifen, wenn einer mal zu laut wurde. In diese Situation kamen die Verhaltenstheoretiker (wie sich die Verhaltensanalytiker damals nannten), um sich an den Patienten zu versuchen. Weder Schwester noch Ärzte hatten etwas dagegen, dass ihnen für ein paar Stunden die Aufsicht über die Kranken abgenommen wurde. Nun probierten die Verhaltenstheoretiker – durchaus erfolgreich – ihre Techniken, insbesondere die Tokensysteme. Aber dieser Zustand hielt nicht lange an. Zum einen wollte der Staat die Belegungszahlen in den Kliniken verringern, um Geld zu sparen, zum anderen boten sich die neu entwickelten Psychopharmaka an.

Die Belege für das biologische Modell mögen weit davon entfernt sein, perfekt zu sein, sie sind ein großer Fortschritt im Vergleich zum vorherigen Zustand, in dem die „Theorie“ der Psychiatrie allein in der Psychoanalyse bestand. Er (Salzinger & Serper, 2004) habe es immer nützlich gefunden, von einer angeborenen Tendenz bei Schizophrenen auszugehen, die bewirkt, dass ihr Verhalten mehr von unmittelbaren Reizen abhängig ist als bei anderen Menschen. Wenn wir das Verhalten eines Blinden untersuchen, ignorieren wir ja auch nicht die biologisch verursachten Unterschiede in seiner Reaktion auf Reize, sondern wir arbeiten damit.

Die Verhaltensanalyse muss sich nicht davor fürchten, ihre Erfolge mit denen der Psychopharmaka zu vergleichen. Vielmehr sollte sie ihre Techniken – die in den geschlossenen Anstalten ja schon einmal erfolgreich eingesetzt worden waren – auf die ambulante Arbeit übertragen. Das biologische Modell sollte dabei nicht als eine Alternative zur Umweltbedingtheit betrachtet werden, sondern vielmehr als eine sinnvolle Ergänzung.

Blumenthal (2006)

Judy Blumenthal (2006) stimmt den Autoren (Wong, 2006a; Wyatt & Midkiff, 2006a) weitgehend zu. Die Lobbyarbeit der Pharmaindustrie hat die Tatsache in den Hintergrund gedrängt, dass Verhalten – aufgrund der Formung der Organismen in der biologischen Evolution – ständiger Veränderung durch Lernprozesse unterworfen ist. Seit vielen Jahrhunderten versuchten die Menschen zu verstehen, warum sich andere Menschen so verhalten, wie sie es tun. Die Verhaltensanalyse hat hier die Tür der Erkenntnis weit aufstoßen können, doch werden ihre Erkenntnisse kaum wahrgenommen oder aber in einem negativen Licht dargestellt. Andere „Erklärungen“ sind und waren schon immer populärer und sei scheinen wohl auch aufregender zu sein: Träume, Hexerei, Aberglaube, ein Zombie, ein Werwolf oder eine multiple Persönlichkeit zu sein.

Blumenthal sieht immerhin einen Anfang darin, dass verhaltensorientierte Trainingsprogramme zunehmend als Teil eines medikamentengestützten Therapieprogramms gesehen werden.

Harshbarger (2006)

Dwight Harshbarger (2006) gibt zu Bedenken, dass sich die „ökologische Nische“ in der die Tokensysteme entwickelt wurden und als erfolgreich erwiesen haben, gewandelt hat. Die großen geschlossenen Anstalten, in denen es möglich war, die Welt des Patienten komplett zu gestalten (so auch z. B. seinen Zugang zu alternativen Verstärkern) gibt es in dieser Form (zum Glück) nicht mehr. Nun gibt es viele verschiedene mögliche Umwelten, in denen ein psychisch kranker Mensch leben kann: betreute Wohngruppen, Tageskliniken, geschützte Werkstätten usw. – Nicht zuletzt kann er auch einfach zuhause leben und nur ambulante Therapie in Anspruch nehmen. Die Verhaltensanalyse sollte sich dieser veränderten Umwelt (für ihre Arbeit) anpassen und so ihre Stärke beweisen. Bei anderen Störungsbildern ist der Erfolg der Verhaltensanalyse unbestritten und nicht mehr weg zu diskutieren, z. B. beim frühkindlichen Autismus.

Wakefield (2006)

Jerome C. Wakefield (2006), ein Professor für Soziale Arbeit an der Columbia-Universität in New York, sticht aus der Reihe der Kommentatoren heraus, indem er die wesentlichen Aussagen von Wyatt und Midkiff (2006a) bzw. Wong (2006a) rundweg ablehnt. Die Autoren behaupten, so Wakefield (2006), dass die Verdrängung der Tokensysteme zugunsten der Psychopharmaka auf nicht-wissenschaftliche Gründe zurückzuführen sei. Er könne den Artikeln aber kaum Gründe entnehmen, warum er den Autoren hierin folgen sollte. Nicht-wissenschaftliche Gründe gibt es immer, es genügt also nicht festzustellen, dass die Pharmaindustrie auf die Forschung Einfluss nimmt, um zu belegen, dass die Ergebnisse nicht gültig sind. Die Abkehr von den Tokensystemen sei zumindest zum größten Teil aufgrund der wissenschaftlichen Belege geschehen.

Wyatt und Midkiff (2006a) hätten mit einigem, was sie über die Zwillingsstudien sagten, zweifelsohne recht. Jedoch ist ihre Darstellung der Forschung zur biologischen Verursachung deutlich unausgewogen. Neben den Zwillingsstudien gelte es auch zu berücksichtigen, dass Schizophrenie auch unter Bedingungen der Inzucht, bei Schädel-Hirn-Traumata und bei einem höheren Alter der Eltern gehäuft auftrete. Keller und Miller (2006) stellen fest, es bedürfte der „verdrehtesten post hoc Argumente“, um weg zu erklären, warum adoptierte Kinder immer den biologischen Eltern mehr ähneln als die Adoptiveltern, warum Geschwister und Zwillinge, die gemeinsam aufwachsen, sich nicht mehr ähneln als solche, die getrennt aufwachsen, warum die Ähnlichkeit bezüglich vieler Merkmale in den Familien mit dem Grad der Verwandtschaft abnehme und warum sich eineiige Zwillinge immer mehr ähneln als zweieiige. Wyatt und Midkiffs (2006a) Argumente seien, so Wakefield (2006), zweifelsohne verdreht und post hoc. Natürlich kann man annehmen (assert, kursiv im Original), dass ähnliche Umweltbedingungen als Reaktion auf ein ähnliches Äußeres entstehen, aber das sei doch weit hergeholt.

Anmerkung CB: Wyatt und Midkiff (2006a) nehmen das nicht an, sie listen zahlreiche Studien auf, die belegen, wie unterschiedlich die Umwelt unterschiedlich aussehende Menschen behandelt und was die für die psychische Gesundheit dieser Personen bedeutet.

Bezüglich der angeblichen Störungen im Neurotransmitterhaushalt gibt Wakefield (2006) den Autoren recht: Das sei ja auch eine längst ad acta gelegte Hypothese. Aber es sei ja wohl ebenso unrealistisch, statt unbekannter biologischer Prozesse unbekannte Umwelteinflüsse anzunehmen, die es dann irgendwie schafften, anscheinend hochgradig bestraftes Verhalten – wie psychotisches Verhalten – aufrecht zu erhalten.

Anmerkung CB: Diese Umwelteinflüsse sind nicht unbekannt, sondern gut untersucht. Auch das anscheinende Paradox des psychotischen Verhaltens lässt sich auflösen (vgl. Layng & Andronis, 1984).

Die biologische Theorie sei, so Wakefield (2006), ein Resultat des Scheiterns psychoanalytischer und verhaltenswissenschaftlicher Erklärungsansätze. Wakefield (2006) nennt im übrigen mehrfach Psychoanalyse und Verhaltensanalyse in einem Satz – so als handle es sich um prinzipiell gleichwertige, verworfene Ansätze. Tatsächlich ist aber die Psychoanalyse der Vorläufer der biologischen Theorie der Psychiatrie, während Verhaltensanalyse zu beiden im Gegensatz steht.

Es sei offenkundig Chlorpromazin gewesen, nicht die Tokensysteme, das die geschlossenen Anstalten geleert hätte, es war Lithium, dass die Selbstmordraten gesenkt habe usw.

Außer als Strohmann existiere die extreme biologische Theorie gar nicht, vielmehr gehe jeder vernünftige Wissenschaftler von einer Anlage-Umwelt-Interaktion aus. Wyatt und Midkiff (2006a) scheinen zu glauben, dass eine Umwelttheorie politisch fortschrittlicher sei als eine biologische. Eine biologische Theorie, so Wakefield (2006), sei politisch neutral, Umwelttheorien seien dagegen unrettbar politisch, da sie immer die sozialen Bedingungen einbezögen. Dies sei ein Grund, warum das Nationale Institut für Geistige Gesundheit (NIMH) sich mit dem Beginn der Reagan-Administration der biologischen Sichtweise zugewandt habe. Psychiater sollten sich aus der Politik heraus halten. Verhaltensorientierte Definitionen für „Störungen“ unterschätzen die politischen Gefahren eines Umweltansatzes. (Anmerkung CB: Das heißt, wir machen uns suspekt… – Wakefield (2006) scheint sich nicht einmal für diese Feigheit zu schämen). Behavioristen, die das medizinische Modell angreifen, laufen damit den Bemühungen der Psychologen zuwider, die als professionelle Behandler im Bereich der psychischen Gesundheit mit der Berechtigung zum eigenständigen Abrechnen anerkannt werden wollen.

Wong (2006a) habe insofern recht, als das operante Konditionieren die Manifestation psychotischer Störungen beeinflussen kann. Aber kein Vertreter der Tokensysteme habe je ein tieferes Verständnis für die Ätiologie der Psychosen gezeigt.

Aus der Tatsache, dass sich die Symptome einer Psychose aufgrund einer verhaltenorientierten Behandlung ändern, kann man nicht notwendigerweise schließen, dass sie durch diese Prozesse aufrechterhalten wurden. Wilder et al. (2001) hätten in einer Studie aber genau dies durch einen rhetorischen Kniff unterstellt (psychotische Symptome werden durch Verstärkung aufrechterhalten oder sind zumindest für Verstärkungsprozesse anfällig). Dies sei „rhetorische Drift“ und nur ein weiteres Beispiel für die übliche unredliche Argumentation der Behavioristen.

Wong (2006a) erklärt die Extinktionsresistenz des psychotischen Verhaltens (es bleibt bestehen, auch wenn sich die Umwelt des Patienten dramatisch verändert) damit, dass dieses Verhalten durch einen Prozess intermittierender Verstärkung geformt worden sei. Wakefield (2006) betrachtet dies als ein weiteres ad hoc Argument: Wenn sich die Realität nicht so verhalte, wie die Theorie voraussage, werde schnell ein neuer, unbekannter Prozess herangezogen. Dies widerspreche dem wissenschaftstheoretischen Prinzip der Sparsamkeit. Sparsam sei es dagegen, wenn man in Anbetracht des Netzwerks an wissenschaftlichem Wissen die psychotischen Symptome als Nebenprodukte einer unbekannten (kursiv durch CB) biologisch bedingten Hirnstörung betrachte.

Anmerkung CB: Die Extinktionsresistenz von Verhalten, das intermittierend verstärkt wurde, ist keine Spekulation sondern gesichertes Wissen, dass sich im Einklang mit dem allgemeinen naturwissenschaftlichen Wissensbestand befindet. Ein „unbekannter biologischer Prozess“ ist dagegen eine wissenschaftlich klingende Worthülse, die versucht, durch den Bezug zur Biologie Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen.

Wong (2006a) kritisiert die geringe Reliabilität der DSM-Diagnosen, doch wer habe je die Reliabilität der funktionalen Analyse geprüft?

Anmerkung CB: Die Antwort ist leicht. Jede verhaltensanalytische Untersuchung beinhaltet Reliabilitätsprüfungen. Zudem sind die Kategorien der Verhaltensanalyse Verhaltensweisen (z. B.: selbstverletzendes Verhalten), die in der Regel offen beobachtbar sind, nicht mentalistische Konstrukte wie die DSM-Kategorien.

Alles in allem bleibe festzuhalten: Die verhaltensanalytischen, psychologischen und psychoanalytischen Methoden haben ihre Zeit gehabt und alle haben es nicht geschafft, die Situation psychisch schwer beeinträchtigter Menschen zu verändern.

Anmerkung CB: Ist dann also der Erfolg der Verhaltensanalyse beim Autismus – und der gleichzeitige Misserfolg, diese Störung mit Medikamenten zu behandeln – ein Beleg für das Scheitern des biologischen Modells dort? Wakefield (2006) benutzt und redet über das „tally argument“, ohne es zu verstehen….

Psychotische Störungen seien schon immer, schon von Aristoteles als körperliche Störungen betrachtet worden. Die Unabhängigkeit des Auftretens psychotischer Symptome von Umweltveränderungen legen eine innere Verursachung nahe. Es gebe eine überwältigende empirische Basis für eine wenigstens teilweise biologische Ätiologie der Psychosen. Die Vorstellung, dass es verborgene, noch unbekannte Verstärker gebe, die ein Verhalten wie das psychotische aufrechterhalten, ist einfach viel weniger plausibel als die, dass es verborgene, noch unbekannte biologische Faktoren – oder psychologische Dysfunktionen eines inneren Mechanismus (das heißt mentalistische Ursachen) gebe, die zu diesem Verhalten führen. Einen endgültigen Beleg für eine wissenschaftliche Theorie wird es nie geben.

Anmerkung CB: Eben, und daher ist es ja wohl deutlich überzogen, die Verhaltensanalyse als Pseudowissenschaft zu diffamieren, wie Wakefield (2006) dies im Titel seines Beitrags (!) tut.

Wong (2006a) berichtet, dass um ein Drittel mehr der mit Neuroleptika behandelten Patienten (im Vergleich zu den unbehandelten) keinen Rückfall erleidet. Dies sei ja wohl ein Grund zu Freude, so Wakefield (2006). Wong (2006a) zähle zwar viele Gründe auf, warum die Wirksamkeitsstudien eine überhöhte Erfolgsquote wiedergeben, er berücksichtige aber nicht die Gründe, warum die Studien den tatsächlichen Heilungserfolg evtl. unterschätzen. Zum Beispiel werden in der Praxis die Medikamente oft kombiniert oder die Dosis so lange verändert, bis sich ein Effekt einstelle. (Anmerkung CB: Wakefield (2006) scheint nicht zu begreifen, inwiefern dieses Vorgehen hochgradig unwissenschaftlich ist…)

Die Effektivität von Tokensystemen ist alles andere als klar erwiesen. Es gebe einige einfache und durchaus wissenschaftliche Gründe, warum man in der Psychiatrie auf Tokensysteme verzichtet.

Anmerkung CB: Wakefield (2006) nennt hier jedoch nur pragmatische Gründe wie die leichtere Verabreichung von Tabletten (die auch Salzinger, 2006, genannt hat), nicht aber prinzipielle wissenschaftliche Gründe, die gegen den Einsatz von Tokensystemen sprächen.

Glynn (1990) hat in einer viel beachteten Überblicksarbeit die Forschungslage zu Tokensystemen wiedergegeben. Demnach mangelt es den Systemen vor allem an der Generalisation der Effekte: Die evtl. im Krankenhausumfeld erreichten Fortschritte werden nicht in die Umwelt außerhalb des Krankenhauses hinüber gerettet. Wakefield (2006) findet das suspekt und er zitiert einige Studien, die von einer misslungenen Generalisation berichten.

Anmerkung CB: Verhaltensanalytiker überrascht das Problem der Generalisation nicht: Wenn der Patient in die pathogene Umwelt zurückkehrt, dann kehren auch die Symptome zurück. Generalisation ist keine automatische Folge einer Behandlung, sie muss geplant werden. Zudem fällt auf, dass Wakefield (2006) anscheinend der Meinung ist, Tokens seien etwas ähnliches wie Medikamente. Tokens sind jedoch nur das Medium, über das veränderte Umweltkontingenzen formalisiert werden, sie haben an sich keinen Nutzen, sondern nur im Zusammenhang mit den (durch das Tokensystem) veränderten Kontingenzen.

Der Studie von Paul und Lentz (1977) widmet Wakefield (2006) eine ausführliche Kritik. Paul und Lentz‘ (1977) Langzeitstudie (4,5 Jahre in der Klinik) über den Einsatz eines Tokensystems in einer psychiatrischen Anstalt (inklusive einer Follow-Up-Studie bezüglich der Übertragung der Effekte in die Zeit nach dem Klinikaufenthalt) wird unter Verhaltensanalytikern als Meilenstein betrachtet. Paul und Lentz (1977) verglichen drei Gruppen. Eine Gruppe nahm am Tokensystem teil, die anderer Gruppe erhielt Millieutherapie, die dritte Gruppe die reguläre Behandlung. Die Teilnehmer am Tokensystem schnitten insgesamt besser ab. Dies wurde unter anderem über die geringere Dosis an Medikamenten gemessen, die erforderlich war, damit der Patient symptomfrei bleib. Deutlich mehr Teilnehmer aus der Tokensystemgruppe (97 %) konnten letztlich aus der Klinik entlassen werden. Im Gegensatz dazu war dies nur bei 71 % der Teilnehmer aus der Millieutherapiegruppe und bei 45% aus der regulären Behandlungsgruppe möglich. Auch mussten die Teilnehmer mindestens fünf Jahre lang nicht mehr aufgenommen werden. Alle Unterschiede zwischen den Gruppen waren statistisch signifikant. Dies wird als Beweis der Wirksamkeit und relativen Überlegenheit verhaltensanalytischer Methoden in der Behandlung von Psychotikern angesehen.

Wakefield (2006) kritisiert mehrere Punkte an der Studie von Paul und Lentz (1977) und bezeichnet den angeblichen eindeutigen Beweis der Überlegenheit verhaltensanalytischer Methoden als einen Mythos. Zunächst sei festzuhalten, dass alle Teilnehmer (egal aus welcher Gruppe), die entlassen wurden, mindestens fünf Jahre lang (so lange wurden Daten erfasst) nicht mehr in die Klinik mussten. Dieser Umstand sei also kein Beweis dafür, dass die positiven Effekte von Tokensystemen generalisieren könnten. Zudem scheine es sich so zu verhalten, dass alle Teilnehmer nach ihrer Entlassung wieder auf Medikation gesetzt wurden, das hieße also, auch die Teilnehmer der Tokensystemgruppe. Somit sei der langfristige „Erfolg“ ein langfristiger Erfolg der verwendeten Psychopharmaka. Auch vor der Entlassung sei schon einiges schief gelaufen. In der Klinik sei aggressives Verhalten der Patienten zu Beginn der Studie massiv bestraft worden. Ein Patient, der sich aggressiv verhielt, wurde für 72 Stunden in Einzelhaft genommen. Als man herausfand, dass viele Patienten dies gar nicht als eine Bestrafung auffassten, sei der Aufenthalt in der Einzelzelle so unangenehm wie möglich gemacht (z. B. durch häufiges Wecken oder durch unangemessene Raumtemperatur) worden. Die relativen Erfolge der Tokensystemgruppe seien noch nach vier Jahren nicht stabil gewesen. Wie Liberman (1980) berichtet, wurde die Dauer der Einzelhaft als Bestrafung für aggressives Verhalten zwischenzeitig auf bis zu zwei Stunden reduziert. Nun hätten sich die Teilnehmer am Tokensystem nicht mehr von den anderen Teilnehmern unterschieden. Erst als wieder die o. g. drakonischen Maßnahmen eingeführt worden seien, hätten, kurz bevor sie entlassen wurden, die Teilnehmer der Tokensystemgruppe wieder ihren „Vorsprung“ erreicht.

Wong (2006a) entschuldige, so Wakefield (2006), die Schwierigkeiten bei der Generalisation der Erfolge eines Tokensystems mit der langen Zeitdauer, in denen sich die psychotischen Symptome verfestigen konnten. Wong (2006a) fordert deshalb eine individualisierte funktionale Analyse als eine Alternative zu den altbekannten Tokensystemen. Wong (2006a), so Wakefield (2006), weiche nur aus. Er und die anderen Verhaltensanalytiker zeigten nur die altbekannten Verhaltensmuster von Pseudowissenschaftlern, die eine obsolete Theorie durch ad hoc Annahmen zu retten versuchen.

Die Reaktion der Autoren auf die Kommentare

Wyatt und Midkiff (2006b)

Wyatt und Midkiff (2006b) beantworten die Kommentare zu ihrem Artikel. Salzinger (2006) könne recht haben, wenn er vermutet, dass es möglicherweise bei Schizophrenen eine angeborene Disposition gibt, besser auf Reize in der unmittelbaren Umgebung als auf zeitlich und räumlich ferne Reize zu reagieren. Allerdings können sie nicht nachvollziehen, warum das biologische Modell heutzutage überzeugender belegt sein soll als früher. Zudem ist Salzingers (2006) Aussage, das Human-Genom-Projekt erschlösse ungeahnte Möglichkeiten, nicht nachvollziehbar: Bislang hat sich aus dem Genomprojekt kein einziger greifbarer Fortschritt für die Behandlung psychisch Kranker ergeben.

Der Kommentar von Blumenthal (2006) ist insofern erfrischend, als sie vorschlägt, sich bei jeder neuen Hypothese bezüglich der Ursachen psychischer Erkrankungen zu fragen, was diese Erklärung von Besessenheit, Zombies und multiplen Persönlichkeiten unterscheiden soll.

Wyatt und Midkiff (2006b) stellen fest, dass eine Antwort auf Wakefields (2006) Kritik schwer fällt und dem „Zäumen eines eingefetteten Schweins“ gleicht. Wakefield (2006) weist die zentrale Aussage von Wyatt und Midkiffs (2006a) Artikel zurück, nämlich dass die Belege aus der Forschung zur biologischen Verursachung vieler psychischer Erkrankungen deutlich schwächer sind als in Hinsicht auf die breite Akzeptanz dieser Hypothese anzunehmen wäre und dass die Wirksamkeit von Psychopharmaka zumindest von der pharmazeutischen Industrie übertrieben dargestellt wird. Wyatt und Midkiff (2006b) entgegnen mit einer Sammlung von Zitaten prominenter Forscher, die sich – als Beispiel herausgegriffen – zur Hypothese äußern, dass ein Ungleichgewicht im Serotoninhaushalt für die Entstehung von Depressionen verantwortlich ist. Alle diese Forscher – ausnahmslos solche, die als ausgewiesene Befürworter des biologischen Modells gelten – gestehen ein, dass es keinen bis kaum Belege für die Serotonin-Hypothese gibt. Dennoch wirbt die pharmazeutische Industrie intensiv für Medikamente, die den Serotoninhaushalt ins Gleichgewicht bringen sollen und so Depressionen beseitigen sollen. Dieser Widerspruch ist himmelschreiend und für Wyatt und Midkiff (2006b) ein deutlicher Beleg dafür, dass das biologische Modell weit über die empirischen Daten hinaus gegangen ist. Dennoch besteht Wakefield (2006) darauf, dass Wyatt und Midkiffs (2006a) These ein „Mythos“ sei.

Auffällig an Wakefields (2006) Kommentar ist, was er alles stillschweigend übergeht, etwa das berichtete Scheitern der amerikanischen Psychiatervereinigung, die Herausforderung der Organisation „Mind Freedom“ zu beantworten (mit empirischen Daten zu belegen, dass psychische Erkrankungen biologische Ursachen haben).

Wakefield (2006) scheint die begrenzte Aussagefähigkeit von Studien an getrennt aufwachsenden Zwillingen anzuerkennen. Er bezieht sich aber vage auf andere Belege, die zeigen würden, dass psychische Erkrankungen genetisch bedingt sind. So erwähnt er die Arbeit von Keller und Miller (2006) – einen Artikel, der zu diesem Zeitpunkt noch „im Druck“ war. Allerdings zeigt die Lektüre diese Artikels (der mittlerweile erschienen ist) dass sich auch darin kein Beleg für Wakefields (2006) Position findet. Auch erkennt er nicht, dass die Belege, die er pauschal auflistet (genealogische Studien u. ä.), das Problem der Konfundierung von genetischen und umweltbedingten Faktoren nicht auflösen können. Der Umstand, dass eineiige Zwillingen aufgrund ihres identischen Äußeren und aufgrund ihrer ähnlichen Reifung, auch wenn sie getrennt aufwachsen, von ihrer Umwelt ähnlich behandelt werden (und zwar auf eine Weise, die erwiesenermaßen für die psychische Gesundheit eines Menschen relevant ist) wird von ihm als bloße Spekulation abgetan; die von Wyatt und Midkiff (2006a) genannten Untersuchungen übersieht er geflissentlich.

Während er einerseits bestimmte Teile von Wyatt und Midkiffs (2006a) Artikel „übersieht“, legt Wakefield (2006) andererseits einen Schwerpunkt auf die Schizophrenie, den der Artikel selbst nicht hatte. Auch beißt sich Wakefield (2006) daran fest, dass die Wirkung von Tokensystemen in Kliniken nicht genügend in die Zeit nach dem Klinikaufenthalt generalisierten. Dies bestreiten Wyatt und Midkiff (2006) gar nicht, jedoch kennen sie einen einfachen Grund dafür: Die verhaltensanalytische Behandlung hörte auf, als die Patienten die Klinik verließen. Wyatt und Midkiff (2006b) fragen, ob Wakefield (2006) wohl auch bestreiten würde, dass Training den Körper fit hält, nur weil die Fitness nachlässt, wenn man aufhört zu trainieren. Auch fällt auf, dass Wakefield (2006) es für selbstverständlich hält, dass Medikamente auf Dauer eingenommen werden müssen, während er von der Verhaltensanalyse eine ewig währende Wirkung erwartet, auch wenn die Behandlung beendet wurde. Wakefield (2006) ignoriert dabei auch, dass (nach den Ergebnissen einiger Studien) zwischen 64 % und 82 % aller Patienten wenigen Wochen nach ihrer Entlassung aufhören, ihre Medikamente zu nehmen (unter anderem aufgrund der Nebenwirkungen).

Wakefield (2006) stellt mit gewissem Pathos fest, dass es Chlorpromazin war (und nicht die Tokensysteme), das die geschlossenen Anstalten geleert habe. Wyatt und Midkiff (2006b) geben ihm zum Teil recht. Jedoch sollte Wakefield (2006) bedenken, dass das Verlassen der geschlossenen Anstalt nicht gleichbedeutend mit einer Heilung ist. Er sollte die vielen Obdachlosen bedenken, die murmelnd durch die Straßen laufen, die vielen Menschen, die, ohne arbeiten zu können, in Tageseinrichtungen ihre Zeit vertrödeln oder in betreuten Wohngruppen leben. Es war zudem nicht Chlorpromazin, dass die geschlossenen Anstalten geleert habe, sondern der Gesetzgeber, der die Anstalten aufgelöst hat und an ihre Stelle das soziale Sicherungssystem so verändert hat, dass diese Menschen in Freiheit leben können, unter anderem, indem er die ambulante Versorgung ausgebaut hat.

Wakefields (2006) Verständnis von Verhaltensanalyse ist offenkundig sehr begrenzt. Wyatt und Midkiff (2006a) unterstellt er ein blindes Vertrauen darin, dass es unbekannte Verstärker gebe, die das psychotische Verhalten auch in Anbetracht seiner enormen negativen Konsequenzen aufrecht erhalten könne. Er fragt sich, ob sie das wirklich glauben könnten. Die einfache Antwort auf diese mit gespieltem Erstaunen gestellte Frage ist: Ja, man kann das glauben. Tagtäglich sehen wir Verhalten, dass trotz unangenehmer Konsequenzen aufrecht erhalten bleibt. Dicke Menschen werden von ihrer Umwelt als unattraktiv eingeschätzt und sie leiden häufiger an Krankheiten als dünne. Trotz dieser offenkundigen negativen Konsequenzen essen dicke Menschen zu viel, weil es unmittelbar positive Konsequenzen gibt: die Beendigung von Hungergefühlen und den Geschmack des Essens. Zwanghafte Rituale werden durch die Reduktion von Angst negativ verstärkt, obwohl sie die Patienten leiden machen. Genauso können auch Halluzinationen oder anderes bizarres Verhalten durch unmittelbare Konsequenzen aufrecht erhalten werden, indem etwa unangenehme Aufgaben und Forderungen vermieden werden. Sie können z. B. dadurch verstärkt werden, dass der Betroffene Aufmerksamkeit erfährt und sie können dadurch ausgelöst werden, dass der Arzt fragt, ob der Patient heute wieder Stimmen gehört hat o. ä. Für Wyatt und Midkiff (2006b) ist vielmehr Wakefields (2006) unerschütterlicher Glaube an eine biologische Verursachung bemerkenswert, obschon dieser einräumen muss, dass z. B. die These vom Ungleichgewicht im Neurotranmitterhaushalt nicht aufrecht erhalten werden kann. Für Wakefield (2006) gibt es dann eben „unbekannte“ biologische Prozesse.

Die relative Unabhängigkeit des Auftretens psychotischer Symptome ist kein Beleg für ihre biologische Verursachung. Bizarres Verhalten ruft in verschiedenen Umwelten – ob zuhause, beim Arzt oder in der Klinik – dieselben Reaktionen hervor, die es aufrechterhalten. Die Umwelt eines Tokensystems dagegen bewirkt, dass die Symptome verschwinden, weil es dort z. B. keine Aufmerksamkeit und keine Flucht vor unangenehmen Aufgaben in Folge der bizarren Verhaltensweisen mehr gibt.

Wakefields (2006) Aussage, dass man schon immer überzeugt gewesen sei, dass Schizophrenie eine biologische Ursache habe, ist ein klassisches Scheinargument (ein „Appell an die Tradition“). Glaubt Prof. Wakefield auch an UFOs? – Die meisten US-Amerikaner tun das. Auch glaubten die meisten Menschen lange Zeit, dass die Erde flach ist. In dieses Schema passt Wakefields (2006) Vorliebe für abwertende Äußerungen („pseudowissenschaftlich“, „verbale Gymnastik“). Sie erinnert Wyatt und Midkiff (2006b) an die Rhetorik konservativer Politiker, wenn sie die Erderwärmung zu leugnen versuchen.

Zuletzt wirft Wakefield (2006) Wyatt und Midkiff (2006a) vor, sich auf unwissenschaftliche, politische Fakten zu beziehen, um ihre Position zu untermauern. Wyatt und Midkiff (2006b) entgegnen, dass es gerade unwissenschaftliche Fakten sind, die das biologische Modell stützen, nämlich der Einfluss politischer und wirtschaftlicher Interessen. Wyatt und Midkiff (2006a) haben die Fakten beim Namen genannt und Wakefield (2006) schreit nun, das sei nicht fair.

Wong (2006b)

Wong (2006b) bezieht sich auf Rakos‘ (2006) Idee, es könne eine angeborene Neigung des Menschen geben, seine Handlungen als Äußerungen eines freien Willens zu betrachten. Er, so Wong (2006b) würde zunächst eher nach sozialen als nach biologischen Gründen für eine solche Neigung suchen.

Salzingers (2006) Rat, sich mit dem biologischen Modell zu arrangieren, anstatt es zu bekämpfen, weist Wong (2006b) zurück. Die Neigung der Verhaltensanalytiker, alle Behauptungen empirisch untermauern zu wollen, könne manchmal eher ein Handicap als ein Vorteil sein. Die Anhänger des biologischen Modells scheren sich offenkundig wenig um die empirische Grundlegung ihrer Überzeugung, sondern engagieren sich mehr in der Werbung für diese Konzept. Verhaltensanalytiker müssen hier einen ungleichen Kampf führen.

Wong (2006b) berichtet (S. 234), auch seine Karriere im Rahmen des akzeptierten biologischen Modells begonnen zu haben. Irgendwann einmal sei ihm aufgefallen, dass die Medikamente des öfteren keine Wirkung zeigten und dass andererseits die verhaltensorientierten Maßnahmen die Wirkung der Medikamente bisweilen anscheinend in den Schatten stellten. Er konfrontierte den ihn anleitenden Psychiater mit diesen Beobachtungen, der ihn beruhigte: Wenn Patienten auf die Medikation nicht ansprächen, dann seien sie „Non-Responder“. Die Wirkung der verhaltensanalytischen Maßnahmen sei andererseits nur auf der Grundlage einer erfolgreichen medikamentösen Einstellung möglich. Viele Nicht-Mediziner, so Wong (2006b) gäben irgendwann ihre eigenen Ansätze auf, um sich dem Diktat der Biomedizin zu unterwerfen. Ihr größtes Ziel scheine es zu sein, irgendwann einmal auch Medikamente verschreiben zu dürfen, genau wie die „richtigen“ Ärzte.

Ein entscheidender Grund, warum verhaltensanalytische Behandlungen auch unter den Nicht-Medizinern so wenig populär sind, ist das Vorherrschen des medizinischen Modells der Psychoanalyse, nach der symptomzentrierte Methoden nie die „wahren Ursachen“ einer Störung beheben könnten. Zudem sind viele „verhaltensorientierte“ Programme (nicht nur in psychiatrischen Kliniken) oft nur schlechte Imitate: Es gibt weder eine funktionale Analyse, noch ein individualisiertes Behandlungsprogramm, noch eine Evaluation der Erfolge. Wenn dann auch noch der Einsatz solcher Methoden mehr oder weniger als Unterhaltungsprogramm aufgefasst wird, das eine medikamentöse Therapie begleitet, muss man sich nicht wundern, wenn sie kaum mit Ernst betrieben werden und daher auch keine sichtbare Wirkung entfalten. Diese nur dem Namen nach „verhaltensorientierten“ Methoden haben mit der Verhaltensanalyse nur wenig gemein.

Wakefield (2006) kritisiert Wongs (2006a) Annahme, dass psychische Erkrankungen durch Umwelteinflüsse hervorgerufen werden können, also etwa durch Deprivation, schlechte Sozialisation oder anderen ungünstigen Einflüssen. Wong (2006b) wundert sich, dass ein Professor für Soziale Arbeit wie Wakefield (2006) diese Idee so widersinnig findet. Weder sei seine Annahme neu, noch widerspreche sie aktuellen Forschungsbefunden, so Wong (2006b). Was ist so ungewöhnlich daran? Wenn Umweltkontingenzen psychotisches Verhalten sowohl hervorrufen und verstärken als auch reduzieren und eliminieren können, dann ist es nahe liegend, dass sie zur Entstehung von psychotischem Verhalten beitragen können. Es erscheint Wong (2006b) doch sehr überzogen, wenn Wakefield (2006) aufgrund dieser schlichten Vermutung die ganze Verhaltensanalyse für eine Pseudowissenschaft erklärt.

Wakefield (2006) scheint das Problem der Generalisierung als den finalen Stolperstein der Verhaltensanalyse anzusehen. Diese Sichtweise dürfte jedoch eher aus Wakefields (2006) eingeschränkter Kenntnis der Verhaltensanalyse resultieren. Die Planung und erfolgreiche Umsetzung von Maßnahmen zur Generalisation von verhaltensanalytischen Interventionen ist seit bald 40 Jahren (vgl. z. B. Bear, Wolf & Risley, 1968) eines der wichtigsten Themen der angewandten Verhaltensanalyse. Kaum eine Studie verzichtet darauf, auch über das „Follow-Up“ und die Wirkung der Maßnahmen zur Generalisation der erreichten Erfolge zu berichten.

Niemand erwartet von der Pharmakotherapie, dass ihre Effekte generalisieren. Generalisation ist eine erweiterte Verhaltensänderung, indem der Klient in die Lage versetzt wird, sein verändertes Verhalten auch ohne die Therapie beizubehalten. Praktisch keine Studie aus dem Bereich der biologischen Psychiatrie beschäftigt sich überhaupt mit der Frage, ob die Effekte der Pharmakotherapie in diesem Sinne generalisieren können (ob der Patient also das veränderte Verhalten auch beibehält, wenn er sich nicht mehr in ärztlicher Obhut befindet). Wakefields (2006) Kritik an den Tokensystemen richtet sich gegen ein dreißig Jahre altes Pilotprojekt (Paul und Lentz, 1977). Die daran beteiligten Forscher waren unterfinanziert und ihre Forschungen konnten aufgrund der Vorherrschaft der biologischen Psychiatrie nicht fortgesetzt werden. Es erscheint etwas unfair, wenn er dem gegenüber die geballte Macht der Pharmaforschung mit ihren schier unbegrenzten Ressourcen setzt (die dennoch nicht in der Lage ist, eindeutige Beweise für ihre Wirksamkeit zu liefern).

Wakefield (2006) scheint den Status Quo ganz befriedigend zu finden, einen Status Quo, in dem die klinische Sozialarbeit sich auf Hilfstätigkeiten und Beschäftigungsprogramme im Schatten einer alles bestimmenden Pharmakotherapie beschränkt. Wong (2006b) hofft, dass nicht alle Leser seines Artikels mit diesem Zustand zufrieden sind, sondern sich für empirisch fundierte Behandlungsalternativen einsetzen.

Paul (2006)

Gordon Paul (2006), einer der Autoren der von Wakefield (2006) so scharf kritisierten Untersuchung zu Tokensystemen (Paul & Lentz, 1977), erhielt die Gelegenheit, selbst Stellung zu den erhobenen Vorwürfen zu nehmen. Paul (2006) ist von Wakefields (2006) ungewöhnlichem Interesse an der Studie von Paul und Lentz (1977) überrascht. Einigen Punkten, die Wakefield (2006) vorbringt, könne er ja durchaus zustimmen, doch sei es wohl besser, sich auf die „Mythen“, die Wakefield (2006) vorbringt, zu konzentrieren.

In Bezug auf die Forschung zu Tokensystemen zitiert Wakefield (2006) einige Berichte aus den sechziger und siebziger Jahren bezüglich der psychotischen Sprache. Er leitet diese Passage damit ein, dass er nun nur die wichtigste Literatur zum Thema Tokensysteme, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Ausgeglichenheit, nenne. Das ist leider wahr, zitiert er doch nur solche Arbeiten, die von Schwierigkeiten berichten, die Erfolge von Tokensystemen generalisieren zu lassen, während er erfolgreiche Umsetzungen verschweigt.

Wakefield (2006) zitiere die Studie von 1977 (Paul & Lentz, 1977) zum Teil falsch, zum Teil aus dem Zusammenhang heraus. So betont Wakefield (2006), es sei erstaunlich, dass die Patienten, die am Tokensystem teilnahmen, nach 2,5 Jahren, wie Paul und Lentz (1977) berichteten, nur zu 50% der Zeit ein normales Funktionsniveau in Bezug auf Körperpflege, Sozialkontakte usw. zeigten. Paul (2006) hebt hervor, dass (wie auch in der Originalliteratur zu lesen) zu Beginn der Studie keiner der Patienten auch nur die minimalsten Funktionen zeigte, nachdem sie zuvor zum Teil 17 Jahre in der geschlossenen Anstalt verbracht hatten und zu 100 % medikamentös behandelt worden waren (zusätzlich zu zahlreichen Versuchen, sie mit Elektro- oder Insulinschocks zu „behandeln“). Die Hälfte der Patienten war inkontinent, die meisten von ihnen wurden jeden Tag in Badewannen zur „Hydrotherapie“ festgeschnallt. Der durchschnittliche Patient zeigte über 93 % der Zeit bizarres Verhalten. Nur der allernaivste Beobachter könnte erwarten, dass nach 2,5 Jahren alle Patienten die ganze Zeit ein volles Funktionsniveau zeigten. „Nur zu 50 % der Zeit“ bedeutet, dass die Patienten eine Steigerung der Fähigkeiten, sich selbst zu versorgen, von 377 % erreicht hatten und eine Steigerung der interpersonalen Fertigkeiten von 1200 %. Zudem schneidet das Zitat von Wakefield (2006) aus Paul und Lentz (1977) den letzten Nebensatz heraus, der lautet: „wobei der Trend zu weiteren Verbesserungen ging“. Drei der Insassen waren zu diesem Zeitpunkt schon so weit gesundet, dass sie aus der Anstalt entlassen werden konnten.

Wakefield (2006) bezieht sich auf eine Besprechung der Studie von Liberman (1980), wobei er nur die Passage zitiert, in der Liberman (1980) von einer ersten, nicht erfolgreichen Teilstudie berichtet (um den Anschein zu erwecken, dass nicht einmal Behavioristen wie Liberman etwas Gutes an der Studie von Paul und Lentz, 1977, finden könnten). Dass es eine zweite, erfolgreiche Teilstudie gab, verschweigt Wakefield (2006) schlicht.

Auch die Aussage von Wakefield (2006), der Umstand, dass die einmal entlassenen Patienten nicht wieder in die Klinik mussten, sei allein auf die Medikation zurück zu führen, muss zurückgewiesen werden. Zu keinem Zeitpunkt in den 6 Jahren der Studie konnte die Medikation den positiven Verlauf in der Entwicklung der Patienten voraussagen (wohl aber konnte die verhaltensanalytische Behandlung die Erfolge voraussagen).

Die „drakonischen“ Bestrafungen für aggressives Verhalten müssen ebenfalls in einem anderen Licht gesehen werden. Das „aggressive Verhalten“ bestand nicht in Kleinigkeiten, sondern in extremen tätlichen Angriffen, bei dem dem Angegriffenen z. B. ein Finger abgebissen oder das Bein gebrochen wurde. Die 72-stündige Internierung war lediglich für drei Monate in Kraft, nicht „die meiste Zeit“, wie Wakefield (2006) behauptet – und sie stellte eine Rückkehr zur Basisratenbedingung dar (die vor der Einführung sämtlicher Maßnahmen galt). Diese Maßnahme war vor allem eine Folge der Unterversorgung mit Personal (nur zwei weibliche Pflegerinnen waren zeitweise nachts für 28 Patienten verantwortlich). Das verhaltensanalytische Programm war das bei weitem positivste. Die Rate von positiven zu aversiven Maßnahmen im Programm lag bei 23 zu eins (im Vergleich zu drei zu eins bei den anderen Programmen). Das heißt, die verhaltensanalytisch behandelten Patienten waren von den „drakonischen“ Maßnahmen fast kaum betroffen. Die Reduktion der „Internierungs-Zeit“ wirkte sich dagegen auf die milieutherapeutisch behandelten Patienten dramatisch aus (offenkundig wirkte die Milieutherapie nur, wenn „drakonische“ Strafen angedroht wurden). Auf die verhaltensanalytische Gruppe wirkte sich diese Veränderung kaum aus, was somit die Generalisierbarkeit der durch die verhaltensanalytische Behandlung erreichten Effekte belegt (statt sie zu widerlegen).

Alles in allem bezieht sich Wakefield (2006), wann immer es geht, auf die negativsten Zahlen und die negativsten Interpretation der Zahlen, die möglich ist. Zum Teil referiert er Zahlen, die von den Autoren der Originalstudie explizit als statistische Artefakte erklärt und gekennzeichnet wurden – ohne dies freilich zu erwähnen.

Das Behandlungsprogramm von Paul und Lentz (1977) wurde von der amerikanischen Psychologenvereinigung APA in die Liste der besten Methoden (best practice) aufgenommen.

Wakefields (2006) Vorwurf der Pseudowissenschaftlichkeit muss letztlich, so Paul (2006), gegen ihn selbst gerichtet werden. Das selektive Zitieren, das Verdrehen von Aussagen und seine Rhetorik sind bestens von einschlägigen Pseudowissenschaftlern bekannt.

Literatur

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Psychische Krankheiten – Kritik und differenzierte Betrachtung

Die Verhaltensanalytikerin und Berkeley-Professorin für Soziale Arbeit Eileen Gambrill (2014) kritisiert das Diagnostische und Statistische Manual (DSM) des amerikanischen Psychiater-Verbandes, welches auch in Deutschland stark verbreitet ist, als ein Instrument der Entmenschlichung. Im Grunde wendet sich ihre Kritik aber gegen den Zustand der heutigen Psychiatrie insgesamt.

Eileen Gambrill ist eine der profiliertesten Vertreterinnen der verhaltensorientierten Sozialen Arbeit. Insbesondere ist sie für ihren Einsatz für kritisches Denken und Evidenzbasierung in der Sozialen Arbeit bekannt. Alleine das macht sie mir schon sympathisch – wird doch die Soziale Arbeit und Sozialpädagogik oft noch wie eine Kunst oder eine Geisteswissenschaft gelehrt. In einen Artikel in der Zeitschrift Research on Social Work Practice – dem bedeutendsten Journal der Behavioral Social Work – rechnet sie mit der rein biologischen Psychiatrie (zur Kritik daran siehe auch hier) ab. Zum Anlass nimmt sie das Erscheinen der fünfte Auflage des Diagnosemanuals der amerikanischen Psychiatervereinigung.

Die neueste, fünfte Auflage des DSM wurde schon mehrfach (z. B. Frances, 2012) dafür kritisiert, dass in ihr fast jedes von der Norm abweichende Verhalten als Krankheit betrachtet wird. Die Kriterien für die Zuweisung einer Diagnose sind mittlerweile so lax, dass z. B. viele Menschen, die etwas länger als üblich um einen verstorbenen Angehörigen trauern, nun als psychisch krank gelten. Mit dem DSM 5 wurden viele neue Krankheiten geschaffen. Zudem wird kritisiert, dass das DSM weder reliabel noch valide ist: Die gleichen Personen erhalten nicht immer die gleichen Diagnosen und die Zuweisung einer Diagnose bedeutet nicht, dass die betreffende Person tatsächlich das mit der Diagnose bezeichnete Verhalten zeigt. Das DSM wird als schädlich für die Patienten betrachtet, da es dazu verführt, die Opfer für ihre Leiden verantwortlich zu machen, statt die sozialen Umstände, in denen sie leben und die dieses Leiden (zumindest mit-) verursachen, zu untersuchen und zu verändern. Die Existenz von hunderten von „Krankheiten“ die das DSM auflistet, ist nicht durch empirische Befunde abgesichert, sondern geht allein auf den Konsens unter den beteiligten Experten zurück.

Gambrill (2014) fragt sich, warum das DSM trotz seiner offenkundigen Schwächen so erfolgreich ist. Ein Katalog wie das DSM soll die Kommunikation zwischen den Ärzten erleichtern. Wenn verschiedene Ärzte aber aufgrund des Kataloges zu verschiedenen Diagnosen kommen (wenn sie unabhängig voneinander urteilen), welchen Nutzen hat er dann?

Gambrills Thema ist im Folgenden die Vereinnahmung abweichenden Verhaltens durch die Medizin und die Biologie. Immer mehr Verhaltensweisen (wozu auch Gedanken und Gefühle zählen) werden mit den Begriffen „gesund“ oder „krank“ charakterisiert. Die Rechtfertigung für dieses Vorgehen wird darin gesehen, dass die abweichenden Verhaltensweisen auf Erkrankungen des Gehirns zurückzuführen seien. Bei abweichendem Verhalten handelt es sich demnach um ein Problem der öffentlichen Gesundheitspflege, das eine Durchsicht der gesamten Bevölkerung bezüglich ihrer seelischen Probleme erforderlich macht.

Schon Szasz (1990) hat das Gleichsetzen von seelischer und physischer Krankheit als irreführend bezeichnet. Allgemein menschliche Schwierigkeiten werden durch den Wissenschaftsbetrieb in medizinische Erkrankungen verwandelt. Szasz leugnet nicht die Realität der Phänomene (Wahnvorstellungen, depressive Gedanken usw.), die mit diesen medizinischen Begriffen bezeichnet werden. Er bestreitet, dass es sich bei psychischen Erkrankungen um das Gleiche handelt wie bei physischen Krankheiten. Sicher sind einige beunruhigende Verhaltensweisen auf Störungen des Gehirns zurückzuführen. Doch wenn die Störung des Gehirns ihre wahre Ursache ist, dann sollten sie von Neurologen und nicht von Psychiatern behandelt werden.

Die Behauptung, dass die meisten psychischen Erkrankungen Gehirnerkrankungen sind, konnte nie von Pathologen erhärtet werden. Wohl gibt es biochemische Ungleichgewichte im Gehirn, die mit bestimmten Verhaltensweisen zusammenhängen. Doch sind es nachweislich die Erfahrungen, die unser Gehirn verändern. Analog wird man im statistischen Mittel wohl finden, dass Menschen, die sich häufig körperlich aggressiv gegen andere Menschen verhalten, einen kräftigeren Bizeps haben als Menschen, die selten oder nie aggressiv sind. Doch wird man kaum die Ursache des aggressiven Verhaltens in einem pathologischen Wachstum der Oberarmmuskulatur suchen (Ein Exkurs darüber, wie diese unterstellte Korrelation zustande kommen könnte: Menschen, die sich häufig körperlich aggressiv verhalten, trainieren ihre Muskulatur, die dadurch größer wird. Wer von Natur aus oder aus anderen Gründen muskulöser ist, ist mit körperlich aggressivem Verhalten wahrscheinlicher erfolgreich und behält dieses eher bei. Die gleiche (Sub-)Kultur, die aggressives Verhalten billigt, fördert auch körperliches Training).

Die moderne kognitive Neuropsychologie mit ihren bildgebenden Verfahren fördert diese Vereinnahmung der Verhaltensprobleme durch die Medizin. Gambrill zitiert einen Artikel aus der New York Times. Darin stand zu lesen, man könne jetzt sehen, wie das Gehirn den Geist erschaffe. Gambrill bezeichnet diesen Satz als einen Kategorienfehler, der es auf die Titelseite einer renommierten Tageszeitung geschafft hat.

Wie fragwürdig das Konzept der „psychischen Krankheit“ überhaupt ist, erkennt man beim Blick in die Vergangenheit. Nicht nur homosexuelles Verhalten galt lange Zeit ganz offiziell als Krankheit. Im 19. Jahrhundert war unter der farbigen Bevölkerung der Südstaaten die „Drapetomanie“ eine verbreitete und das Zusammenleben schwer beeinträchtigende Erkrankung. Drapetomanie ist die unwiderstehliche Neigung wegzulaufen. Der Entdecker der Krankheit, der Arzt Samuel A. Cartwright (1851) empfahl zur Behandlung und Prävention das kräftige Auspeitschen der Betroffenen.

[Die Beispiele der „Krankheiten“ Homosexualität und Drapetomanie sind extrem, sie zeigen aber die Gefahr, die im medizinischen Modell der psychischen Erkrankungen liegt. Nimmt man die beiden m. W. verbreitetsten Kriterien zur Definition, ab wann ein Verhalten eine Krankheit ist – die „Störung des Lebensvollzugs“ und das subjektive Leiden des Betroffenen – wird deutlich, dass Homosexualität und Drapetomanie zurecht als Erkrankungen galten, denn Homosexuelle waren (und sind zum Teil noch heute) in ihrem Lebensvollzug eingeschränkt und sie litten aufgrund ihrer Neigung. Ähnliches gilt für die Neigung aus der Sklaverei wegzulaufen. Doch sind die Ursachen des Leidens und der „Störung des Lebensvollzugs“ nicht das homosexuelle Verhalten oder der Wunsch nach Freiheit, sondern die Reaktion der Umwelt. – Umgekehrt daraus abzuleiten, die Reaktion der Umwelt sei immer das alleinige Problem, ist jedoch genauso kurzsichtig! – Betrachtet man aber beides, das homosexuelle Verhalten und die Neigung schwarzer Sklaven wegzulaufen, als das, was sie sind – von der Norm der sie umgebenden Gesellschaft abweichende Verhaltensweisen – eröffnet sich ein wesentlich weiterer Fokus für die Möglichkeiten des Umgangs mit den daraus resultierenden Problemen.]

Wenn man Verhaltensweisen und „Fehlverhalten“ auf psychische Erkrankungen zurückführt, verhindert man, dass jemand für dieses Verhalten verantwortlich ist. Dies macht das Konzept der psychischen Erkrankung so attraktiv für Betroffene, Angehörige, Erzieher und Gesetzgeber. Es ist so einfach für den Mediziner, Probleme, die er nicht lösen kann, auf unveränderliche Merkmale des Patienten (z. B. sein Gehirn) zurückzuführen.

Die Sprache des Kognitivismus, so Gambrill (2014, S. 18), dominiert die klinische Psychologie und die Rede vom Gehirn dominiert die Psychiatrie. Beide beinhalten eine Sprache des Defizits und des Pathologischen. Sprache, die auf den Einfluss des Umfeldes hinweist, wird zurückgedrängt. Der Focus liegt auf den inneren Ursachen. Worüber nicht gesprochen wird, wird auch nicht nachgedacht.

Eine weitere sprachliche Besonderheit betrifft nach Szasz (2001) die trennscharfe Verwendung von Begriffen. „Krankheit“ (disease), „Unannehmlichkeit“ (discomfort) und „Abweichung“ (deviance) sind unterschiedliche Begriffe. Nach Virchow ist eine Krankheit durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Es gibt eine spezifische Ursache, diese Ursache führt immer zu der Erkrankung und die Erkrankung wird schlimmer, wenn sie nicht behandelt wird. Etwas, was eigentlich nur eine Unannehmlichkeit (Traurig-sein) oder eine Abweichung (häufiger als üblich im Internet zu sein) ist, wird zur Krankheit erklärt (Depression, Internetsucht). Hinzu kommt der Fehler der Reifikation: Nur weil man ein Wort dafür hat, meint man, es müsse auch ein Ding geben (Internetsucht), das diesem Wort entspricht. Wenn dieses Ding dann auch noch etwas tut (die Internetsucht bewirkt, dass man sich oft im Internet aufhält), dann wird es gänzlich absurd. Diese Begriffe sind „Konstrukte“, sie stehen nicht für reale Dinge. Konstrukte tun nichts.

Die Rede von der psychischen Erkrankung findet im Umfeld des Wissenschaftsbetriebes statt. Die Sprache der Wissenschaft vermittelt eine Illusion der Wertfreiheit. Dies verleiht der Rede von den psychischen Krankheiten („Alkoholismus“) eine ganz andere Stellung als sie die ansonsten gleichartige Rede der Moral („Trunksucht“) hat.

Die Ärzte, die das DSM entwickelten und nutzen, würden viel dabei gewinnen, wenn sie alternative Ansätze und historische Unterschiede in der Betrachtung der sogenannten psychischen Erkrankungen kennen würden. Der lerntheoretische Zugang zum Verhalten wird oft ignoriert (Thyer, 2005). Krankheit und soziale Isolation werden als Konsequenz der psychischen Erkrankung und nicht als die Ursache des Leidens betrachtet.

Das Ignorieren des verhaltensanalytischen Zugangs hat mit verbreiteten Mythen und Falschdarstellungen zu tun: Verhaltensanalyse sei einfach, man kann eine funktionale Analyse im Büro machen, Gedanken und Gefühle werden nicht berücksichtigt, sie dehumanisiert Menschen, die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist nicht wichtig usw.

Die Anhänger des medizinischen Modells unterliegen nach Gambrill einigen verbreiteten Denkfehlern. Der fundamentale Attributionsfehler – die Tendenz, Verhalten irrtümlich auf Persönlichkeitsmerkmale statt auf die Situation zurückzuführen – ist nur einer davon. Der Interviewer-Fehler ist die Annahme, dass das Verhalten in einer hochgradig künstlichen Situation (wie einer Befragung in der Praxis des Psychiaters) das Verhalten in der wirklichen Welt widerspiegelt. Die Umwelt, in der der Patient normalerweise lebt, wird üblicherweise vom Psychiater nicht beobachtet. Die illusorische Korrelation macht sich ebenfalls bemerkbar: Dass auch Menschen, die keine Hilfe beim Psychiater suchen, oft negative Erlebnisse haben, wird nicht berücksichtigt. Gedanken und Gefühle sind sehr naheliegendes und eindringliches Material, das dazu verführt, darin auch die Ursache des Verhaltens zu suchen (der Grund, warum der Mentalismus so verbreitet ist). Man denke, so Gambrill (2014, S. 21), an ein Kind, das einen Trotzanfall hat: Was man sehen kann, sind das Schreien, das Werfen von Objekten, das Schlagen. Was man nicht sieht, ist die Lerngeschichte, die Serie von Umweltereignissen, während derer sich dieses Verhalten entwickelt hat.

Israel Goldiamond (z. B. 1984; Schwartz & Golddiamond, 1975) folgte der Devise, dass Verhalten immer sinnvoll ist. Jedes Verhalten bringt dem Patienten etwas, auch wenn es (langfristig) hohe Kosten verursacht. Diese Behauptung wird verständlich, wenn man nicht nur das einzelne Verhalten betrachtet, sondern die verfügbaren alternativen Verhaltensweisen (available alternative behaviors, AAB). Vereinfacht heißt das an einem Beispiel: Über seine Wahnvorstellungen zu reden, mag ein dem guten Ruf abträgliches Verhalten sein, doch wenn man sonst keine Möglichkeiten hat, die Aufmerksamkeit anderer zu gewinnen, ist es durchaus sinnvoll – kurzfristig. (Für eine ausführliche Darstellung dieses Ansatzes fehlt hier der Platz).

Wer alternative Erklärungsmodelle wie das verhaltensanalytische nicht kennt, für den sind die Verhaltensweisen psychisch kranker Menschen hochgradig unverständlich. Klassifikationssysteme wie das DSM geben dem Anwender die Illusion, er verstehe etwas. Wir dürfen glauben, dass wir wissen, aber wir tun es nicht.

Literatur

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Placebo-Effekte in der (Richtlinien-)Therapie

Robert Mestel (der hier schon als Co-Autor tätig war) hat auf der letzten Skeptiker-Konferenz in München über die Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren gesprochen. Leider konnte ich selbst nicht dabei sein, jedoch berichtet das Skeptiker-Blog darüber. Dort gibt es auch einen Video-Mitschnitt von Robert Mestels Vortrag.

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