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Verhaltensaktivierung bei Depressionen

Die Aktivierung des Betroffenen ist entscheidend für die Behandlung von Depressionen. Die Veränderung der „kognitiven Strukturen“ scheint dagegen unwirksam bis unnütz zu sein.

„Es ist ein Irrtum, zu meinen, wir litten an unseren Gefühlen. Wir leiden an den mangelhaften Verstärkungskontingenzen, die für unsere Gefühle verantwortlich sind“ (Skinner, 1987, S. 154, Übersetzung CB).

Depressionen sind die häufigste psychische Erkrankungen überhaupt. Als wenigstens zum Teil erfolgreich in der Behandlung von Depressionen haben sich u. a. die kognitive Verhaltenstherapie (Cognitive Behavior Therapy, CBT), die kognitive Therapie (Cognitive Therapy, CT), die Verhaltenstherapie (Behavior Therapy, BT) und die interpersonale Therapie (IT) erwiesen (Cullen et al., 2006).

Verhaltensanalytiker betrachten Depressionen als Verlust von oder Mangel an verhaltenskontingenter positiver Verstärkung (vgl. auch hier). Das bedeutet, vereinfacht ausgedrückt, wer durch seine Handlungen keine positive Verstärkung erlangt, wird depressiv. Dieser Zustand wird oft durch aversive Lebensereignisse ausgelöst, die zum Verlust von Verstärkungsmöglichkeiten führen (z. B. den Tod des Partners oder den Verlust an körperlicher Leistungsfähigkeit). Menschen, die an Depressionen leiden, tun also selten etwas, dass ihnen Spaß macht. Dafür tun sie häufig etwas, um unangenehmen Ereignissen zu entgehen. Anders ausgedrückt: Ihr Verhalten wird vor allem von negativer Verstärkung bestimmt.

Die Verhaltensaktivierung (Behavioral Acitvation, BA) ist eine Therapie auf verhaltensanalytischer Basis. Sie geht zurück auf eine Untersuchung von Jacobson und anderen (1996), die (entgegen ihrer eigentlichen Erwartung) festgestellt hatten, dass eine reine verhaltensorientierte Form der kognitve Verhaltensthearpie (CBT) genauso effizient ist wie die komplette CBT (auch bis zu zwei Jahre nach der Behandlung, vgl. Gortner et al., 1998). Das Ziel der BA ist es, eine angemessene Verteilung der Verstärkung im Leben des Patienten zu erreichen. Seit Jacobson und Kollegen (1996) wurde die BA deutlich weiter entwickelt hin zu einer ideographischen und funktional-analytischen Therapie.

Die kognitive Verhaltensthearpie (CBT) und die kognitive Therapie (CT) gehen auf einen Aspekt der sogenannten kognitiven Wende zurück, nach dem es nicht genügen sollte, „nur“ das Verhalten zu ändern, sondern dass eine Veränderung der „depressiven Schemata“ und „kognitiven Strukturen“ erforderlich ist. Mittlerweile gilt die CBT als der „beste Standard“ für die Behandlung von Depressionen. Doch die Studien von Jacobson und anderen (1996) stellten das Dogma der CBT, dass die depressiven Schemata und kognitiven Strukturen „direkt“ behandelt werden müssten, in Frage.

Die Verhaltensaktiviationstherapie (BA) ist eine wesentlich sparsamere, schnellere und kostengünstigere Therapie als die komplette CBT. Sie ist auch sowohl für den Therapeuten als auch für den Klienten leichter zu bewältigen als die CBT. Die Aktivationstherapie (behavioral activation) wurde als ein fundiertes Verfahren zur Behandlung von Depressionen von der amerikanischen Psychologenvereinigung APA anerkannt (Mazzucchelli et al., 2009). In einer randomisierten, placebokontrollierten Studie (RCT) wurde festgestellt, dass die Aktivationstherapie genauso wirksam ist wie eine Medikation mit Antidepressiva und während der akuten Behandlung wirksamer als die als Gold-Standard geltende kognitive Verhaltenstherapie (CBT). In der Prävention von Rückfällen war sie im Beobachtungszeitraum von zwei Jahren der KVT vergleichbar und nachhaltiger und kosteneffizienter als die Medikation mit Antidepressiva (Dobson et al., 2008). Einen Überblick über die Forschung zur Wirksamkeit der Aktivationstherapie geben mehrere Metaanalysen (Cuijpers et al. 2007, 2008; Ekers et al., 2007, 2014; Mazzucchelli et al., 2009, 2010). Diese Studien und Metaanalyse zeigen durchgehend, dass die Effektstärke der Verhaltensaktivierung mit der der kognitiven Therapie vergleichbar oder ihr überlegen war. Zudem gibt es Hinweise, dass die Verhaltensaktivierung seltener zu Therapieabbrüchen führt. In einer Studie zeigte sich die Verhaltensaktivierung auch der Pharmakotherapie als überlegen, da sie seltener zu Rückfällen führte (vgl. auch Sturmey, 2009). Verhaltensaktivierung wird mittlerweile vielfältig eingesetzt, insbesondere bei Populationen, die bei der CBT weniger Erfolgsaussichten haben (Lehmann & Bördlein, 2020; Martin & Oliver, 2019; Martínez-Vispo et al., 2018).

Literatur

Cuijpers, P., van Straten, A., Andersson, G., & van Oppen, P. (2008). Psychotherapy for depression in adults: a meta-analysis of comparative outcome studies. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 76(6), 909-922. https://doi.org/10.1037/a0013075

Cuijpers, P., van Straten, A., & Warmerdam, L. (2007). Behavioral activation treatments of depression: A meta-analysis. Clinical Psychology Review, 27(3), 318-326. https://doi.org/https://doi.org/10.1016/j.cpr.2006.11.001

Cullen, J. M., Spates, C. R., Pagoto, S., & Doran, N. (2006). Behavioral activation treatment for major depressive disorder: A pilot investigation. The Behavior Analyst Today, 7(1), 151-166. https://doi.org/10.1037/h0100150

Dobson, K. S.; Hollon, S. D.; Dimidjian, S.; Schmaling, K. B.; Kohlenberg, R. J.; Gallop, R.; Rizvi, S. L.; Gollan, J. K.; Dunner, D. L. & Jacobson, N. S. (2008). Randomized trial of behavioral activation, cognitive therapy, and antidepressant medication in the prevention of relapse and recurrence in major depression. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 76(3), 468-477. doi: 10.1037/0022-006X.76.3.468 PDF 1,29 MB

Ekers, D.; Richards, D. & Gilbody, S. (2008). A meta-analysis of randomized trials of behavioural treatment of depression. Psychological Medicine, 38(5), 611-623. https://doi.org/10.1017/S0033291707001614

Ekers, D., Webster, L., Van Straten, A., Cuijpers, P., Richards, D., & Gilbody, S. (2014). Behavioural activation for depression; an update of meta-analysis of effectiveness and sub group analysis. PLoS One, 9(6), e100100-e100100. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0100100

Gortner, E. T.; Gollan, J. K.; Dobson, K. S. & Jacobson, N. S. (1998). Cognitive behavioral treatment for depression: Relapse prevention. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 66(2), 377-384. https://doi.org/10.1037//0022-006x.66.2.377

Jacobson, N. S.; Dobson, K. S.; Truax, P. A.; Addis, M. E.; Koerner, K.; Gollan, J. K. et al. (1996). A component analysis of cognitive-behavioral treatment for depression. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 64, 295-304. https://doi.org/10.1037/0022-006X.64.2.295

Lehmann, D. C., & Bördlein, C. (2020). A systematic review of culturally adapted behavioral activation treatments for depression. Research on Social Work Practice. https://doi.org/10.1177/1049731520915635

Martin, F., & Oliver, T. (2019). Behavioral activation for children and adolescents: a systematic review of progress and promise. European child & adolescent psychiatry, 28(4), 427-441. https://doi.org/10.1007/s00787-018-1126-z

Martínez-Vispo, C., Martínez, Ú., López-Durán, A., Fernández Del Río, E., & Becoña, E. (2018). Effects of behavioural activation on substance use and depression: a systematic review. Substance abuse treatment, prevention, and policy, 13(1), 36-36. https://doi.org/10.1186/s13011-018-0173-2

Mazzucchelli, Trevor G.; Kane, Robert T. & Rees, Clare S. (2009). Behavioral activation treatments for depression in adults: A meta-analysis and review. Clinical Psychology: Science and Practice, 16(4), 383-411. https://doi.org/10.1111/j.1468-2850.2009.01178.x

Mazzucchelli, Trevor G.; Kane, Robert T. & Rees, Clare S. (2010). Behavioral activation interventions for well-being: A meta-analysis. The Journal of Positive Psychology, 5(2), 105-121. https://doi.org/10.1080/17439760903569154

Sturmey, Peter. (2009). Behavioral activation is an evidence-based treatment for depression. Behavior Modification, 33(6), 818-829. https://doi.org/10.1177/0145445509350094

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Mythen der Psychologie: Die „kognitive Wende“

Die USA und Europa in den 50er Jahren: Die Psychologie ist komplett in den Händen einer menschenverachtenden Ideologie. Der Behaviorismus leugnet, dass Menschen denken oder fühlen und unterdrückt jede andere Meinung. Doch da naht Rettung in Form einiger weniger Lichtgestalten. Sie beginnen eine glorreiche Revolution, die der Psychologie einen ungeahnten Erkenntnisfortschritt bringt. Seitdem liegt das Reich der bösen Behavioristen in Trümmern. Freundliche und einfühlsame kognitive Psychologen verbreiten ihre Erkenntnisse in Talkshows und populären Büchern.

So oder ähnlich geht die Geschichte von der „kognitiven Wende“. Sie ist ein Märchen*.

Bereits O’Donohue, Ferguson und Naugle (2003) untersuchten die tatsächlichen Abläufe bei der sogenannte kognitive Wende in der Psychologie (cognitive revolution) und erklärten, das sie weder eine „wissenschaftliche Revolution“ noch ein „Paradigmenwechsel“ war, sondern am Besten als ein sozio-kulturelles Phänomen verstanden werden kann. Die selbst- und fremderklärten Gründerfiguren der kognitiven Psychologie sind sich zudem nicht einig darüber, was die kognitive Wende auslöste und wann sie stattfand.

Hobbs und Chiesa (2011) untersuchen, von wem und in welchem Zusammenhang der Begriff der kognitiven Wende zum ersten Mal verwendet wurde. An prominenter Stelle wird der Begriff von Gardner (1985) und Baars (1986) verwendet. Letzterer nennt eine Reihe von Autoren, die zuvor schon die kognitive Wende beschrieben hätten, darunter Dember (1974). Dabei scheint es sich tatsächlich um die früheste Erwähnung dieses Begriffs zu handeln. Von Dember stammt auch die Wendung, die Psychologie habe mit Watsons Behaviorismus ihren Geist verloren (lost its mind). Erst mit der kognitiven Wende habe man wieder begonnen, sich mit dem Denken, Fühlen usw. zu beschäftigen.

Hobbs und Chiesa (2011) unterziehen diese Behauptung einer kritischen Prüfung und finden auf Anhieb viele Belegstellen in einführenden Lehrbüchern der Jahre 1941-1964 (angeblich der Blütezeit des Behaviorismus), in denen Psychologie als die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben (oder Bewusstsein etc.) definiert und behandelt wird. Kein einziges Lehrbuch beschreibt Psychologie nur als die Wissenschaft vom Verhalten. Überhaupt fällt auf, dass Dembers (1974) Artikel voller unbelegter Behauptungen ist. Dies trifft auch für die späteren Autoren, die den Begriff „kognitive Wende“ aufgriffen, zu: Die Behauptung, die Psychologie sei bis zum Zeitpunkt der Wende vom Behaviorismus dominiert worden, was zur Folge hatte, dass innerpsychische Vorgänge nicht untersucht worden seien, wird nirgends belegt, ebensowenig die Behauptung, ab da habe es kaum mehr Arbeiten in der behavioristischen Tradition gegeben (was definitiv falsch ist, vgl. Friman et al., 1993: ). Über den Zeitpunkt, zu dem die Wende stattfand, besteht keine Einigkeit, die Angaben reichen von den 1940er (Lefton, 1982) bis zu den 1970er Jahren (z. B. Bernstein, 2003). Die Phrasen, in denen die Wende beschrieben wird, sind – wie bei Legenden üblich – immer die gleichen: Der Behaviorismus habe die Psychologie dominiert, die Psychologie habe ihren Geist verloren und innerpsychische Vorgänge geleugnet. Als herausragende Behavioristen werden vor allem Watson und Skinner genannt, selten Hull oder Tolman, obschon letztere zu ihrer Zeit viel einflussreicher waren. Tolmans und Hulls Einfluss reicht bis in die heutige Zeit, indem sie die Grundlagen für die Methodologie der heutigen kognitiven Psychologie lieferten (vgl. Chiesa, 1994, S. 200). Skinner übte seinen größten Einfluss im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts aus (erkennbar an der Gründung von Division 25 der APA und der Zeitschriften JEAB und JABA), zu einer Zeit als die kognitive Wende, nach Ansicht ihrer Autoren, bereits im Gange oder abgeschlossen war.

Der Behaviorismus ist nicht die einzige Richtung in der Psychologie, die in einführenden Lehrbüchern grob falsch dargestellt wird. Dies gilt ebenso für den Hawthorneeffekt, Aschs Konformitätsexperimente u. a. m. (vgl. Jarrett, 2008). Den Grund für die fortgesetzte Falschdarstellung sehen Hobbs und Chiesa (2011) in der Tatsache, dass einführende Lehrbücher kommerzielle Produkte sind, deren Verleger sich gegen Korrekturen wehren und v. a. in der Verbreitung von Gerüchten. Jede Ideologie braucht einen Gründungsmythos, auch die kognitive Psychologie. In Gründungsmythen kommen oft illustre Gründerfiguren (Halbgötter) vor und die Gründung ist meist mit der Überwindung einer übermächtigen bösen Kraft (Dämonen) verbunden.

Hobbs und Chiesa (2011) fordern die Behavioristen auf, sich gegen diese Falschdarstellungen zu wenden. Millionen von Haupt- und Nebenfachstudenten der Psychologie werden mit dem Behaviorismus nur über die Mythen, die in den einführenden Texten stehen, konfrontiert. Diese prägen ihr Bild und verhindern, dass sie sich je ernsthaft mit der Verhaltensanalyse befassen oder dass sie erwarten, dass verhaltensanalytische Interventionen hilfreich sein könnten. Verhaltensanalytiker sollten an die Autoren solcher Lehrbücher schreiben und sie bitten, die Falschdarstellungen zu korrigieren.

*Zitat aus dem Wikipedia-Artikel „Kognitive Wende„:

„Kritikersprechen der kognitiven Wende (engl: cognitive revolution) den Charakter einer wissenschaftlichen Revolution (im Sinne Kuhns) ab [O’Donohue et al., 2003]. Der behavioristische Ansatz wurde demnach – auch nach Ansicht führender Vertreter der kognitiven Wende – nicht im Sinne Poppers falsifiziert, er ertrank nicht in einem „Meer von Anomalien“ und er war kein „degenerierendes Forschungsprogramm“ im Sinne Lakatos‘. Auslöser der kognitiven Wende war kein Versagen des behavioristischen Konzepts bei der Erklärung von Phänomenen, sondern vielmehr ein (soziologisch zu erklärender) Wechsel der Interessen der Forscher. Die Empirie widerspricht zudem der These, dass die kognitive Wende einen Umbruch in der wissenschaftlichen Psychologie darstellt [Friman et al., 1993]: So wurden von 1979 bis 1988 mehr Artikel in behavioristischen als in kognitiven Fachzeitschriften veröffentlicht; zudem wurden diese Artikel häufiger zitiert. Wäre der behavioristische durch den kognitivistischen Ansatz abgelöst worden, wäre als Befund zu erwarten gewesen, dass zunehmend kognitivistische Arbeiten veröffentlicht und diskutiert werden.“

Literatur

Chiesa, M. (1994). Radical behaviorism: The philosophy and the science. Boston: Authors Cooperative.

Friman, P. C., Allen, K. D., Kerwin, M. L. E. & Larzelere, R. (1993). Changes in modern psychology: A citation analysis of the Kuhnian displacement thesis. American Psychologist, 48, 658 – 664.

Hobbs, Sandy & Chiesa, Mecca. (2011). The myth of the “cognitive revolution”. European Journal of Behavior Analysis, 12(2), 385-394.

Jarrett, C. (2008). Foundations of sand? The Psychologist, 21, 756-759.

O’Donohue, W.; Ferguson, K.E. & Naugle, A.E. (2003). The structure of the cognitive revolution. An examination from the philosophy of science. The Behavior Analyst, 26(1), 85-110. PDF, 4,01 MB

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Bewusstsein ist nur ein Wort

Wenn wir nach dem Bewusstsein suchen, werden wir nichts finden. Das Bewusstsein liegt in der Sprache, so Henry Schlinger.

Die Neurowissenschaften suchen nach dem Bewusstsein in den Gehirnprozessen. Die Gehirnprozesse erklären jedoch nicht, was Bewusstsein ist. Die endgültige Erklärung, woher das Bewusstsein kommt, kann nur die Geschichte der Art und die Lerngeschichte des Individuums liefern.

Bewusstsein ist kein Ding oder ein Ort oder ein kognitiver Prozess (was auch immer das ist). Die Gelehrten, die sich mit dem Bewusstsein beschäftigten, interessierte vor allem die subjektive Erfahrung, die sogenannten Qualia, wie z. B. die Frage, was rote Dinge rot sein lässt. Nach Schlinger (2008) erlernt man das Konzept „Rot“, wenn man lernt, auf viele verschiedene Objekte, die unterschiedliche Gestalten haben, aber alle eine bestimmte Wellenlänge des Lichts reflektieren, mit dem Wort „rot“ zu reagieren.

Das Bewusstsein ist ein unbefriedigendes Konstrukt, denn es hat keinen klar abgrenzbaren Referenten. Es kann auch keine Naturwissenschaft des Geistes geben (wie es die kognitive Psychologie zu sein vorgibt), denn Naturwissenschaften befassen sich mit realen Ereignissen und der Geist ist kein reales Ereignis.

Schlinger (2008) veranschaulicht den Ursprung des Bewusstseins folgendermaßen: Wenn man zur Arbeit fährt und am Ende sich an diese Fahrt nicht mehr erinnert, dann sagt man, man sei sich der Fahrt nicht bewusst gewesen. Was aber tat man, als man zur Arbeit fuhr? Man redete (im Stillen) zu sich selbst oder man stellte sich etwas vor – etwas anderes als die Reize, die mit dem Autofahren zu tun haben. Vielleicht dachte man an ein Gespräch oder das, was in der Nacht zuvor passiert ist. Bewusstsein heißt, etwas zu tun: Wenn wir sagen, wir waren uns einer Sache bewusst, dann sprachen darüber wir (im Stillen) oder stellten uns unsere äußere und innere Umwelt und unser offenes und verdecktes Verhalten vor.

Thomas Nagel fragte einmal, wie es sei, eine Fledermaus zu sein. Schlinger antwortet: Es ist gar nichts. Es gibt keine bewusste Erfahrung, also auch keine Qualia. Für die Fledermaus wird es nie Qualia geben, denn sie hat keine Sprache, um ihre Erfahrung zu beschreiben. Die Fledermaus kann auch fühlen – innere Zustände haben, Schmerz und Befriedigung empfinden usw. Ein Hund mag ein noch reichhaltigeres inneres Leben haben. So lange sie aber weder laut noch im Stillen darüber reden können, haben weder die Fledermaus noch der Hund ein Bewusstsein

Wir bringen unseren Kinder das Bewusstsein bei, indem wir sie fragen, was sie gerade sehen, was sie gerade tun und was sie gerade fühlen. Ein Kind wird sich seiner Umwelt bewusst, wenn es über sie sprechen kann. Je mehr Worte das Kind hat, um sein eigenes, von anderen beobachtbares Verhalten zu beschreiben, desto bewusster ist es seiner selbst. Am schwierigsten lernt man, seine eigenen innern Zustände zu beschreiben. Zu Beginn des Lernprozesses äußert das Kind hörbar, was es sieht, was es tut und was es fühlt. Mit der Zeit tut es das nur noch im Stillen. Doch neurologische Untersuchungen zeigen, dass dieselben Gehirnregionen aktiviert sind, wenn wir laut sprechen und wenn wir nur „denken“.

Die physiologische Basis des Bewusstseins sind die Sprachmechanismen im Gehirn. Dies zeigen auch verschiedene Funktionsstörungen des Gehirns. Menschen, die an visueller Agnosie leiden, können keine Objekte, die sie sehen, erkennen. Mit „erkennen“ meinen wir, dass sie nicht sagen können, was sie sehen – weder laut zu anderen noch still zu sich selbst. Daher sind sie sich der Objekte, die sie sehen, nicht „bewusst“. Kinder lernen meist, Objekte zu erkennen (das heißt zu benennen), wenn sie sie sehen oder hören, selten, wenn sie sie fühlen oder riechen. Jede dieser Aufgaben erzeugt einen anderen neuronalen Pfad. Bei der visuellen Agnosie wird einer dieser Pfade durchtrennt, die anderen bleiben intakt. Die Patienten, die an dieser Störung leiden, können sich sicher durch ihre Umwelt bewegen, sie sind nicht blind. Sie verhalten sich auch den Objekten, die ihnen gezeigt werden, gegenüber auf richtige Weise. Sie sind sich dessen aber nicht bewusst, d.h. sie können über Objekte, die sie nur sehen, nicht sprechen. Berühren sie beispielsweise das Objekt, können sie es dann häufig benennen. Man denke hier an den Fall eines Musikprofessors, den Oliver Sacks beschreibt. Als er einen Handschuh sieht, kann er diesen zwar beschreiben, aber nicht sagen, um was für ein Objekt es sich handelt. Als er seine Hand in den Handschuh stecken soll, spürt er das Objekt und kann es nun richtig benennen.

In uns ist kein Bewusstsein. In uns sind nur anatomische Strukturen und physiologische Prozesse.

„We skeptics find it all too easy to fault obvious pseudosciences, but when it comes to our own messy, unscientific thinking about ourselves, we’re a lot less critical“ (p. 63).

Literatur

Schlinger, Henry D. (2008). Consciousness is nothing but a word. Skeptic, 13(4), 58-63.

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Schlechtes Wetter steigert die Produktivität

Man könnte meinen, dass Menschen bei gutem Wetter besser gelaunt sind und deshalb flotter arbeiten. Mitnichten: Jooa Julia Lee und Kollegen fanden, dass die Produktivität bei schlechtem Wetter höher ist als bei gutem Wetter.

Dieser Befund wurde in vier unabhängigen Teilstudien bestätigt, nämlich in

  • einer Untersuchung mit Angestellten einer japanischen Bank,
  • zwei Studien bei einer Online-Stellenbörse in den USA und
  • einem Laborversuch.

An Schlechtwettertagen war die Produktivität jeweils höher als an Tagen mit gutem Wetter. Die Autoren vermuten, dass die Beschäftigten an diesen Tagen einfach weniger abgelenkt waren („kognitive Ablenkung“). Bei schönem Wetter guckt man einfach öfter aus dem Fenster, man plant für die Freizeit und ist gedanklich eher weniger bei der Arbeit.

Literatur

Lee, Jooa Julia; Gino, Francesca; Staats, Bradley R. (2014). Rainmakers: Why Bad Weather Means Good Productivity. Journal of Applied Psychology, Jan 13 ,  2014. doi: 10.1037/a0035559.

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Kognitive Karten und latentes Lernen

Wenn wir einen Raum erkunden, bildet sich in unserem Kopf eine „kognitive Landkarte“ heraus, die wir später dazu benutzen können, um uns in diesem Raum zu orientieren – oder? – Schön, wenn es so wäre, die Hersteller von Navigationssystemen könnten einpacken. Tatsächlich läuft die zunehmend bessere Orientierung im Raum ganz anders ab, als uns die meisten einführenden Lehrbücher der Psychologie weismachen wollen.

Das (behauptete) latente Lernen ist von entscheidender Bedeutung für den Kognitivismus. Latentes Lernen bedeutet, dass bestimmte Inhalte (Verhaltensweisen oder Pläne für Verhaltensweisen), ohne dass ein Verhalten verstärkt wurde, „im Kopf“ gespeichert werden. Erkennen könne man latentes Lernen daran, dass ein zuvor nicht trainiertes Verhalten auf einmal spontan gezeigt werde. Dies widerspricht angeblich dem behavioristischen Grundsatz, dass Lernen nur dann stattfindet, wenn ein offenes Verhalten verstärkt wird. Latentes Lernen ist beispielsweise relevant für die Theorie des Modelllernens nach Albert Bandura (1986). Bandura geht davon aus, dass das beobachtete Verhalten einer anderen Person zunächst nur gespeichert wird. Der Abruf dieses Verhaltens erfolgt dann, wenn das imitative Verhalten des Beobachters verstärkt wird. Verhaltensanalytiker gehen dagegen davon aus, dass Lernen eine Änderung im Verhalten ist (nicht eine Änderung in den „Verhaltensmöglichkeiten“). Latentes Lernen ist so gesehen nicht möglich.

Der häufig zitierte experimentelle Beleg für latentes Lernen ist ein Experiment von Edward Tolman (Tolman & Honzik, 1930a, 1930b). Tolman und Honzik ließen drei Gruppen von (nahrungsdeprivierten) Ratten einmal täglich ein vierzehnteiliges T-Labyrinth über zweiundzwanzig Tage hinweg durchlaufen. Die erste Gruppe fand vom ersten Tag an immer am Ende des Labyrinths eine Futterbelohnung. Die zweite Gruppe fand nie Futter am Ende des Labyrinths. Die dritte Gruppe fand an den ersten zehn Tagen kein Futter, aber ab dem elften und an allen darauffolgenden Tagen. Gemessen wurde die Zahl der Fehler, die die Ratte beim Durchlaufen des Labyrinths machte und die Zeit, die sie dazu benötigte. Sowohl die Zeit als auch die Fehlerzahl nahm in allen drei Gruppen von Anfang an ab, wobei die erste Gruppe (die immer Futter fand) ab etwa dem fünften Tag deutlichere Fortschritte machte als die anderen Gruppen. Der entscheidende Beleg für latentes Lernen soll nun aber sein, dass die dritte Gruppe vom elften auf den zwölften Tag deutlich weniger Fehler machte und weniger Zeit benötigte. Die Leistungen waren nun sogar besser als die der ersten Gruppe. Tolman vermutete, dass die Ratten schon die ganze Zeit über den Plan des Labyrinths (latent) gelernt hatten (ohne auch nur ein Krümelchen Futter dafür zu bekommen). Das Futter am Ende des Labyrinths motivierte die Ratten lediglich, das bereits Gelernte auch offen zu zeigen.

Die Frage nach dem latenten Lernen inspirierte eine über dreißig Jahre währende Debatte unter den Anhängern der Stimulus-Response-Psychologie. Auf der einen Seite dieser Debatte standen Watson, Tolman, Spence, Guthrie und Leeper, die leugneten, dass die Erreichung eines Ziels oder Verstärkung notwendig sei, damit die (hypothetischen) Lernvorgänge im Organismus stattfinden können. Auf der anderen Seite standen Hull, Thorndike, Meehl und MacCorquodale, die daran festhielten, dass für das Lernen eine motivationaler Zustand (z. B. ein Bedürfnis oder ein Trieb) und eine Art von Verstärker notwendig sind. Für Hull (1952, S. 7) etwa stellte das „latente Lernen“ den Aufbau und die Veränderung von Stimulus-Response-Assoziationen infolge einer Veränderung des Erregungs- oder Reaktionspotenzials dar. Hull (1952, S. 145-150)  konnte zeigen, dass die von ihm so bezeichnete fraktionale vorwegnehmende Zielreaktion in Kombination mit der Größe des Anreizes (das heißt der Einführung des Futters) am elften Tag des Experiments die Ergebnisse von Tolman und Honzik erfolgreich vorhersagen konnte. Dies wiederum wurde von Guthrie und anderen angezweifelt. Immer elaboriertere Experimente wurden durchgeführt, um immer komplexere Theorien zu bestätigen oder zu widerlegen.

Spätestens Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die Debatte von vielen Psychologen als überholt betrachtet. Doch hatte keine Theorie über die andere gesiegt, die Frage nach dem latenten Lernen wurde einfach als unbeantwortbar ad acta gelegt. Dennoch wird das Experiment von Tolman und Honzik in vielen einführenden Lehrbüchern der Psychologie als Beleg für das latente Lernen angeführt. Während frühe Texte noch eine ausgewogenere Position einnehmen, haben neuere Autoren die Angelegenheit längst in ein Schema gepresst, dass sich wie folgt darstellen lässt: Da im Experiment gelernt wurde und da es keine Verstärkung gab und die S-R-Theorien dies nicht erklären konnten, muss es einen kognitiven Faktor geben, der verursacht, dass gelernt wurde. Dieser „kognitive Faktor“ ist die von Tolman (1948) vorgeschlagene „kognitive Karte“. Da nun aber die S-R-Psychologie nur noch von historischem Interesse ist, wird Skinner als der einzig relevante Behaviorist betrachtet und zum Mit-Schuldigen gemacht. Das latente Lernen soll somit nicht nur die frühen Behavioristen diskreditieren, sondern auch Skinners Behaviorismus widerlegen – obschon Skinner an dieser Debatte nicht aktiv beteiligt war und die Unterschiede zwischen Skinners radikalem Behaviorismus und der S-R-Psychologie kaum zu übersehen sind. Argumentiert wird (wenn überhaupt), dass auch Skinners Theorie auf S-R-Assoziationen fuße, dass Verstärkung für das Lernen als notwendig angesehen werde und dass kognitive oder mentale Faktoren als Erklärungen zurückgewiesen werden. Daher können auch Skinner nicht das (behauptete) latente Lernen erklären.

So versichert Gleitman (1981) dass Skinner nicht erklären könne, was geschehe, wenn ein Schüler auf einmal die Lösung einer mathematischen Aufgabe finde, oder ein Mechaniker nach langem Nachdenken auf die Lösung eines Problems komme. Auch Kosslyn und Rosenberg (2001) behaupten, dass sowohl klassisches als auch operantes Konditionieren das Speichern von Informationen, welche sodann das Verhalten leiten, erfordere. Unglücklicherweise vermengen sie dabei Tolman und Honziks Forschungen mit deren Experimenten zum Lernen durch Einsicht (siehe Ciancia, 1991, für eine Bewertung dieser Studien). Zimbardo (1988) erklärt uns, dass man bis vor kurzem glaubte, das Individuum spiele bei der Konditionierung eine passive Rolle. Man hätte geglaubt, dass Lernen feste Assoziationen und spezifische Reaktionen bedeute. Tolman dagegen habe die Bedeutung kognitiver Prozesse entdeckt.

Jensen (2006) evaluierte 48 einführende Lehrbücher der Psychologie und fand in praktisch keinem eine angemessene Darstellung der Debatte ums latente Lernen. Was nie erwähnt wird, ist, dass auch Hull und Guthrie eine auf der Stimulus-Response-Theorie fußende Theorie hatten, die dieses Phänomen erklären konnte. Insbesondere wird das letztliche Ergebnis der Debatte verfälscht: Es sei bewiesen worden, dass Verstärkung für das Lernen nicht nötig sei. Dagegen entdeckt man beim Studium der zeitgenössischen Literatur ein anderes Ergebnis: Es gab kein Ergebnis, die Debatte wurde beendet, ohne das es zu einer Entscheidung gekommen wäre, weil ihre Proponenten starben oder sich anderen Themen zuwendeten.

Auf der Höhe der Debatte um das latente Lernen legte Skinner (1950) in einem klassischen Artikel seine Position dar. Skinner stellte hier klar, dass man nicht „Assoziationen“ lernt, die sich dann in Verhalten ausdrücken. Vielmehr ist das Verhalten an sich der Untersuchungsgegenstand. Skinner behauptete zudem nie, dass Verstärkung nötig ist, damit man lernt. Dies war vielmehr Hulls Position.

Weder Skinner noch ein anderer Verhaltensanalytiker hat sich je aktiv mit dem Problem des angeblichen latenten Lernens auseinandergesetzt. Zum Teil liegt dies daran, dass Skinner das T-Labyrinth für keine geeignete Untersuchungsapparatur hielt. Zudem hatte sich der Schwerpunkt, den andere Forscher auf das Thema latentes Lernen legten, als fruchtlos erwiesen.

Jensen (2006) versucht sich an einer konzeptuellen Analyse des latenten Lernens. Verhaltensanalytiker beziehen sich auf die Artgeschichte und die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Verhalten und Umweltereignissen, wenn sie ein Verhalten erklären wollen. Lernen wird dabei als eine Veränderung im Verhalten betrachtet, das Augenmerk gilt nicht den damit korrelierenden Veränderungen im Nervensystem.

Ironischerweise ist es Tolmans eigener Bericht, der hilft, das Phänomen verhaltensanalytisch zu erklären. Zunächst einmal fällt auf, dass sich bei allen drei Gruppen von Tolmans Ratten während der ersten fünf Tage die Zahl der Fehler verringerte. Anscheinend lernten die Ratten in allen Gruppen bereits zu diesem Zeitpunkt. In den folgenden sechs Tagen war in der dritten Gruppe, die immer Futter am Ziel vorfand, ein deutlicherer Rückgang der Fehler zu registrieren als in den andern Gruppen. Die Fehlerzahl ging ab dem elften Tag dann auch in der dritten Gruppe (die ab diesem Zeitpunkt Futter am Ziel vorfand) stark zurück.

Wie Tolman bemerkt hatte, fingen alle Ratten, sobald sie ins Labyrinth gesetzt wurden, an, sich umherzubewegen. Dabei zeigten sie ein sehr deutliches Muster an Kombinationen von Abbiegerichtungen (links, rechts, links, rechts, links usw.). Eine Öffnung, die geradeaus vor der Ratte lag, wurde häufiger betreten als eine, die auf der Seite lag. Wenn eine Ratte aus einer Sackgasse kam, war es wahrscheinlicher, dass sie weiterging als dass sie wieder zurücklief.

Nichts an dem Verhalten der Ratten erscheint einem Verhaltensanalytiker ungewöhnlich: Man weiß, dass eine normale Ratte sich umher bewegt, statt still zu sitzen. Warum? – Eine sitzende Ratte ist in der Natur bald eine tote Ratte, denn sie wird entweder bald von einem Raubtier gefressen oder aber sie verhungert. Eine von Futter deprivierte Ratte, die still sitzt, wird nicht mit Futter in Kontakt kommen. Tolmans Ratten zeigten also das zu erwartende Explorationsverhalten, das hungrige Ratten nun mal zeigen. Die Ratten gingen in eine Sackgasse nicht zurück. Natürlich taten sie das nicht, denn dort hatten sie kein Futter gefunden, das heißt „den Weg zurücklaufen, wenn man kein Futter gefunden hat“ war nie verstärkt worden, weder im Leben der Ratte noch hätte es je in der Entwicklungsgeschichte der Ratten einen Überlebensvorteil bedeutet.

Die bis jetzt genannten Faktoren haben die Ratte also in Bewegung gesetzt: Sie läuft im Labyrinth umher und zeigt dabei eine zu erwartenden Variabilität im Verhalten mit den genannten Einschränkungen: Die Startbox öffnet sich und die Ratte fängt an umherzulaufen, recht-links oder links-rechts, sie läuft bis ans Ende eines Weges und sucht nach neuen Bereichen, ohne alte Bereiche mehrfach aufzusuchen. Soweit erklärt die Artgeschichte der Ratten das Verhalten zufriedenstellend.

Welche Kontingenzen bestimmen nun das Verhalten der Ratten in Tolmans Experiment? Tolman bemerkt, dass die Ratten eine Sackgasse, die sie schon untersucht hatten, nicht noch mal betraten. Das lässt den Verhaltensanalytiker an den Prozess der Bestrafung oder der Extinktion denken. Das Betreten einer Sackgasse ist die Folge eines Abbiegens an einer T-Kreuzung. Nehmen wir an, die Ratte bog nach links ab und landete in der Sackgasse. Dieses Verhalten hat bei einer Sackgasse zur Folge, dass die Bewegung zu einem Ende kommt. Die Ratte muss umdrehen. Wenn die Ratte bei späteren Gelegenheiten an dieselbe T-Kreuzung kommt, steht sie wieder vor der Entscheidung, links oder rechts zu gehen. Das Abbiegen nach links wurde zuvor jedoch (in dieser Situation) bestraft oder extingiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Ratte wieder links abbiegt, ist also herabgesetzt. Je öfter dies passiert, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, an dieser Kreuzung links abzubiegen. Alles in allem biegt die Ratte nach und nach immer seltener falsch ab. Durch diese Vorgänge kommt das Verhalten der Ratte im Labyrinth unter Stimuluskontrolle. Bestimmte Kreuzungen werden diskriminative Stimuli für ein bestimmtes Verhalten (links oder rechts abbiegen, geradeaus laufen). Das ursprünglich stark variierende Explorationsverhalten wird so geformt. Nichts in den Daten von Tolman erfordert die Annahme einer „kognitiven Karte“.

Welche Bedeutung hat nun das Futter in dieser Situation? Offenkundig kann der Rückgang der Fehler in den ersten fünf Tagen nicht auf Futter zurückgeführt werden (denn er verläuft bei allen drei Gruppen gleichartig). Wenn Futter die einzig interessierende Variable wäre, dann gäbe es entweder keinen Rückgang der Fehlerrate bei den nicht-gefütterten Ratten oder aber einen viel stärkeren Rückgang der Fehler bei den gefütterten Ratten in den ersten fünf Tagen.

Eine andere Versuchsanordnung von Tolman und Honzik (1930b) bringt uns zur Lösung des Problems: Auch hier gab es drei Gruppen von Ratten: Eine fand nie Futter am Ende des Labyrinths, eine zweite Gruppe fand immer Futter. Die dritte Gruppe aber fand die ersten elf Tage über Futter am Ende des Labyrinths, die letzten elf Tage aber nicht mehr. Wieder gab es nach den ersten Tagen einen deutlichen Unterschied zwischen den Fehlerraten der Ratten, die Futter am Ende des Labyrinths fanden und denen, die keines fanden; die „gefütterten“ machten schneller weniger Fehler. Die Ratten der dritten Gruppe machten jedoch ab dem zwölften Tag auf einmal wieder viel mehr Fehler als zuvor. Die entsprechende Grafik ist nahezu eine Spiegelung der Grafik des ursprünglichen Versuchs. Was haben wir nun hier vorliegen? Unter Anwendung derselben Logik wie im ursprünglichen Experiment müsste man jetzt von „latentem Vergessen“ ausgehen. – Verhaltensanalytiker überrascht dieser Befund nicht: Nachdem das Verhalten, das zum schnellen Erreichen des Ziels führte, nicht mehr durch Futter verstärkt wurde, trat die aus Extinktionsexperimenten bekannte Varianz im Verhalten (wieder) auf.

Betrachten wir nun die Variable Futter im Rahmen einer Kontingenzmatrix: Das Futter machte im Grunde nicht nur das „Laufen zum Ziel“ wahrscheinlicher, es machte das Explorationsverhalten (oder anderes Verhalten, das nicht zum Ziel des Labyrinths führte) unwahrscheinlicher. Sobald gewissermaßen die „Konkurrenz“ durch das Futter weg fiel, ging das explorative Verhalten (und die damit verbunden „Fehler“ im Labyrinth) wieder auf sein altes Niveau.

Weitere Forschungen, die Tolmans kognitive Karte belegen sollen, stützen dieses Konzept nicht. O’Keefe und Nadel (1978) meinten, den Sitz der kognitiven Karten im Hippocampus zu finden, jedoch ließen sich diese Ergebnisse nicht bestätigen (Ellen, 1980).

Jensen (2006) bemerkt, dass der Reiz, den die recht einfache Metapher von der kognitiven Karte hatte, dazu führte, dass nach neuronalen Substraten dieser Karten gesucht wurde und Kombinationen von Metaphern zum Leben erweckt wurden (die Karte und der Computerprozessor), Die Autoren einführender Lehrbücher beziehen sich irrigerweise immer auf Tolman und Honzik (1930a, 1930b), wenn sie die kognitiven Karte besprechen. Tolmans Konzept der kognitiven Karte stützt sich jedoch auf seine Arbeit von 1946 (Tolman, Ritchie & Kalish, 1946). Hier wurde eine ganz andere Apparatur verwendet, ein sogenanntes Strahlenlabyrinth. Doch Olton (1979) stellt fest, dass sich die Ergebnisse dieser originalen Experimente zur kognitiven Karte nicht wiederholen ließen. Auch spätere Forschungen konnten das Konzept nicht wirklich stützen. Bennnett (1996) fasste die Theorien verschiedener Forscher zur kognitiven Karte zusammen und wertete die Forschungen aus. Sein Urteil ist eindeutig: Die kognitive Karte ist keine nützliche Hypothese, um das Verhalten von Menschen oder Tieren im Raum zu erklären. Der Begriff sollte vermieden werden.

Literatur

Bandura, A. (1986). Social foundations of thought and action. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall.

Bennett, A. T. D. (1996). Do animals have cognitive maps? Journal of Experimental Biology, 199, 219-242.

Ciancia, F. (1991). Tolman and Honzik (1930) revisited or the mazes of psychology (1930-1980). The Psychological Record, 41, 461-472.

Ellen, P. (1980). Cognitive maps and the hippocampus. Physiological Psychology, 8, 168-174.

Gleitman, H. (1981). Psychology. New York: Norton.

Hull, C. L. (1952). A behavior system: An introduction to behavior theory concerning the individual organism. New Haven, CT: Yale University Press.

Jensen, Robert. (2006). Behaviorism, latent learning and cognitive maps: Needed revisions in introductory psychology textbooks. The Behavior Analyst, 29(2), 187-209. PDF, 619 KB

Kosslyn, S. M. & Rosenberg, R. S. (2001). Psychology: The brain, the person, the world. Boston: Allyn & Bacon.

O’Keefe, J. & Nadel, L. (1978). The hippocampus as a cognitive map. Oxford: Clarendon Press.

Olton, D. S. (1979). Mazes, maps, and memory. American Psychologist, 34, 583-596.

Skinner, B. F. (1950). Are theories of learning necessary? Psychological Review, 57, 193-216.

Tolman, E. C. & Honzik, C. H. (1930a). Degrees of hunger, reward, and non reward, and maze learning in rats. University of California Publications in Psychology, 4, 241-256.

Tolman, E. C. & Honzik, C. H. (1930b). Introduction and removal of reward, and maze performance in rats. University of California Publications in Psychology, 4, 257-275.

Tolman, E. C.; Ritchie, B. F. & Kalish, D. (1946). Studies in spatial learning. I. Orientation and the short-cut. Journal of Experimental Psychology, 36, 13-24.

Zimbardo, P. G. (1988). Psychology and life (12th ed.). Glenview. IL: Scott, Foresman.

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Es gibt keine Sprachuniversalien

Nativisten behaupten, dass die Sprache größtenteils „fest verdrahtet“ ist: Wenn wir als Kinder zu sprechen lernen, füllen wir nur mehr die bereits genetisch angelegten Leerstellen (Sprachuniversalien) mit dem Inhalt unserer Muttersprache. Nativisten meinen, man könne Sprache nicht – wie B. F. Skinner (1957) dies in Verbal Behavior darlegt – allein mit Hilfe der allgemeinen Lernmechanismen erlernen. Es müsse einen besonderen Lernmechanismus (Language Acquisition Device) zum Lernen von Sprache geben. Je mehr man über den Spracherwerb forscht, desto unhaltbarer wird die Position der Nativisten. Insbesondere scheint es wohl praktisch keine Sprachuniversalien zu geben.

Evans und Levinson (2009) überprüften die Behauptung, dass es Unversalien, allen Sprachen gemeinsame Merkmale gebe. Sie stellen fest, dass es auf praktisch allen Ebenen der Organisation einer Sprache grundlegende Unterschiede gibt. Dies betrifft die Phonetik, die Phonologie, die Morphologie, die Syntax und die Semantik. Die Annahme, alle Sprachen zeigten grundsätzliche Gemeinsamkeiten, kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn man seine Vergleiche lediglich auf das Englische und nahe verwandte Sprachen beschränkt. Die wenigen Merkmale, die wohl tatsächlich allen Sprachen gemeinsam sind, lassen sich besser durch die gemeinsame Umwelt, in der alle Menschen leben, erklären als durch angeborene Mechanismen des Spracherwerbs. Sie schätzen die Behauptungen der Universalgrammatik (wie sie etwa von Noam Chomsky und anderen Nativisten vertreten wird) als „entweder empirisch falsch, unwiderlegbar oder irreführend, da sie sich auf Tendenzen und nicht auf strikte Universalien beziehen“ (S. 429), ein. So zeigen Evans und Levinson (2009) auf, dass kein einziger der von Steven Pinker (Pinker & Bloom; 1990) angeführten „unstrittigen Fakten“ über universelle Merkmale von Substantiven auf alle Sprachen zutrifft. Ähnliche Beweise lassen sich – oft mit Leichtigkeit – gegen alle anderen, je von Nativisten behaupteten Sprachuniversalien ins Feld führen.

Schon Christiansen und Charter (2008) zeigten auf, dass angeborene Einschränkungen beim Spracherwerb evolutionär gesehen nicht möglich sind. Palmer (1981) wies daraufhin, dass eine angeborene Universalgrammatik keinerlei Adaptionsvorteil darstellen würde und daher auch nicht im Lauf der Evolution erworben werden konnte.

Literatur

Christiansen, M. H. & Chater, N. (2008). Language as shaped by the brain. Behavioral and Brain Sciences, 31(5), 489-558. Abstract

Evans, Nicholas & Levinson, Stephen. (2009). The myth of language universals: Language diversity and its importance for cognitive science. Behavioral and Brain Sciences, 32(5), 429-448. Abstract

Palmer, D.C. (1981 / 2000). Chomsky’s nativism. A critical review. The Analysis of Verbal Behavior, 17, 39-50. PDF 36 KB

Pinker, S. & Bloom, P. (1990). Natural language and natural selection. Behavioral and Brain Sciences, 13(4), 707-726. Abstract

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Wider den Mentalismus 1

Unsere Sprache fördert den Mentalismus, die Annahme, dass es in unseren Köpfen ein „Bewusstsein“ oder ein „Gedächtnis“ gibt, das aus uns heraus handelt. Tatsächlich aber handeln wir und wir erinnern uns dabei oder wir denken dabei nach. Der Denkfehler, der dem Mentalismus zugrunde liegt, ist die Reifikation, die Verdinglichung von Handlungen.

Die meisten Verhaltensanalytiker finden die kognitive Terminologie für eine wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens untauglich. Samuel Deitz (1986) vertritt den Standpunkt, dass kognitive Ausdrücke tatsächlich nur Verhalten in einem bestimmten Kontext beschreiben.

Die meisten kognitiven Ausdrücke sind sogenannte Idiome. Ein Idiom ist ein Ausdruck, der entweder grammatikalisch auffällig ist oder aber inhaltlich eine eigene Bedeutung hat, die sich nicht aus seinen Bestandteilen ableitet.

So ist etwa der Ausdruck „I stoped smoking cold turkey“ („ich habe das Rauchen ohne Hilfe komplett aufgehört“) ein inhaltliches Idiom, das man nicht mit der Frage „What do you smoke now, warm ham?“ beantworten sollte.

Kognitive Ausdrücke sind insofern grammatikalische Idiome, als sie überwiegend Substantive oder aus Substantiven abgeleitete Wörter anderer Wortarten sind. Substantive bezeichnen ursprünglich Personen, Orte oder Dinge. Kognitive Ausdrücke tun dies nicht. Die „Dinge“, die mit ihnen bezeichnet werden, sind in der Regel Handlungen. So ist der Satz „Ich habe meine Absichten geändert“ („I changed my mind“) nicht vergleichbar mit dem Satz „Ich habe meine Kleider geändert“ („I changed my shirt“). „Ich habe meine Absichten geändert“ bedeutet so viel wie „Ich werde nicht das tun, was ich ursprünglich im Begriff war zu tun (oder sagte, dass ich es tun werde)“. Sie beschreiben als Idiome nicht einen inneren Zustand (meine „Absichten“), sondern ein bestimmtes Verhalten (eine Verhaltensänderung) in einem bestimmten Umfeld.

Ein weiteres Problem mit kognitiven Ausdrücken ist, dass sie scheinbar Ursachen des Handelns benennen, in Wirklichkeit aber nur Gründe angeben. Deitz (1986) berichtet, dass er seinen 2,5-jähigen Sohn beobachtete, wie er seine 6 Monate alte Schwester, die gerade sitzen konnte, mehrmals anstupste, so dass diese umfiel. Er fragte seinen Sohn, warum er dies tue und dieser antwortet, er wisse es nicht. Dieser Fall ist typisch und er wirft ein Licht darauf, wie man Kindern beibringt, Gründe für ihr Handeln anzugeben. Die genannten Gründe sind aber nicht notwendigerweise die Ursache des Verhaltens. Hätte der Sohn angegeben, er stoße seine Schwester, weil er wütend auf diese sei, wäre dies eine Antwort, die als hinreichend akzeptiert worden wäre (im Gegensatz zu der wahren Aussage, dass er es schlicht nicht weiß – evtl. hat er die Schwester nur deshalb umgestoßen, weil diese Verhalten durch seinen Effekt automatisch verstärkt wurde; dies kann der 2,5-jährige aber nicht wissen, die wenigsten Erwachsenen wissen es). Natürlich hätten die Eltern nachgefragt, warum er wütend sei usw. – Dies soll aber hier außer Acht gelassen werden. Entscheidend ist: Der Grund, den der Sohn angibt, klingt wie eine Ursache. Ebenso klingt es wie eine Ursache, wenn man sagt, der Sohn habe die Schwester wegen der Geschwisterrivalität umgestoßen. Tatsächlich aber wäre das „wegen“ durch ein „ist“ zu ersetzen: Wenn Kinder u. a. ihre Geschwister umstoßen, nennt man das Geschwisterrivalität. Das eine ist aber nicht die Ursache des anderen.

Deitz (1986) legt mitnichten nahe, kognitive Ausdrücke generell in die Sprache der Verhaltensanalyse aufzunehmen. So sollte man nicht den Begriff „positiver Verstärker“ durch „Belohnung“ ersetzen. Dies wäre ein Schritt zurück. Jedoch kann man kognitive Ausdrücke sehr wohl in der Beschreibung abhängiger Variablen (in der Regel: des Verhaltens) benutzen, wenn man mit Laien kommuniziert. So kann man mehrere Fälle von Umstoßen usw. der Schwester als „Geschwisterrivalität“ zusammenfassen, so lange klar ist, dass man damit nicht die Ursache des Verhaltens benannt hat, sondern nur das Verhalten in seinem Kontext beschrieben hat.

Literatur

Deitz, Samuel M. (1986). Understanding cognitive language: The mental idioms in children’s talk. The Behavior Analyst, 9(2), 161-166. PDF 937 KB

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Sinnsuche aus verhaltensanalytischer Sicht – Manchmal ist es ein Segen, dumm zu sein

Wray et al. (2012) erklären das menschliche Bedürfnis, einen Sinn in allem sehen zu wollen, aus verhaltensanalytischer Sicht und versuchen zu verstehen, warum manche Menschen nach Sinn suchen, obwohl es Ihnen dadurch nicht besser geht.

Kognitive Verhaltensweisen wie die Selbstaufmerksamkeit, sich wiederholende Gedanken und Grübelei kann man auch als Versuche auffassen, einen Sinn zu erkennen. Diese (kognitiven oder sprachlichen) Verhaltensweisen treten vor allem in solchen Situationen auf, in denen (so Skinner, 1953) zwar positive Verstärkung verfügbar ist, aber (gerade) kein Verhalten, diese zu erlangen. Wenn ich ein Problem löse, muss ich erst das Verhalten generieren, um an die positive Verstärkung heran zu kommen. Wenn ich den Sinn eines Problems erkenne, kann ich effektiver handeln. Wenn ich z. B. durch Nachdenken herausfinde, warum ich krank geworden bin (z. B. ich habe verdorbene Lebensmittel gegessen), kann ich effektiver handeln (z. B. solche Lebensmittel künftig meiden). Schwierig wird es allerdings, wenn ich nach der Lösung eines Problems suche, für das es keine Lösung gibt, z. B. nach dem Grund für eine Erkrankung suche, für die sich kein Grund finden lässt, den ich beeinflussen könnte. So fragen sich viele Menschen, die an einer schweren Erkrankung leiden, warum gerade sie dieses Schicksal ereilt hat. Oft gibt es darauf keine Antwort. Die Suche nach dem Sinn hinter der Krankheit belastet den Kranken dann nur noch mehr.

Warum wir nach Sinn suchen

Eine „Geschichte“ zu haben, warum etwas so ist, wie es ist, hilft nicht nur dabei, (normalerweise) effektiver zu handeln. Die soziale Gemeinschaft, in der wir uns befinden, fordert das auch von uns. Eine Geschichte macht uns berechenbarer und damit akzeptabler für unsere Mitmenschen. Gergen und Gergen (1988) erläutern, die wie die Neigung Gründe für das eigene Verhalten und einen Sinn in allem zu suchen, im Lauf des Lebens geformt wird. Angenommen, ein Kind kommt von der Schule nach Hause und hat eine gute Note. Die Eltern fragen, wie es das geschafft hat, eine so gute Note zu schreiben. Wenn die Antwort des Kindes mehreren Kriterien genügt, wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Eltern verstärkt, z. B. gelobt. Sie sollte grammatikalisch korrekt sein, sinnvoll und mit den Werten der Eltern übereinstimmen. Eine unsinnige Antwort („Der Dschungel hat mein Buch gegessen“) wird nicht verstärkt, sondern eher sogar bestraft, ebenso wie eine sinnvolle, aber mit den Werten der Eltern nicht übereinstimmende Antwort ( „Ich hatte einfach Glück“). Eine Antwort wie „Ich habe fleißig gelernt“ dagegen erfüllt alle Kriterien, um (von den Eltern durch Lob) verstärkt zu werden, sie ist grammatikalisch korrekt, sie ist sinnvoll und sie entspricht den elterlichen Werten. Man beachte: Die „Gründe“ sind nicht unbedingt die „Ursachen“ des Ereignisses.

Sinnsuche als generalisierte Verhaltensweise

Das sprachliche Verhalten, sozial akzeptable Gründe für das eigene Verhalten anzugeben, wird in so vielen Situationen verstärkt, dass es generalisiert. „Sinnsuchen“ (und Gründe angeben) wird zu einer generalisierten Operantenklasse, ähnlich wie das imitative Verhalten (Gewirtz & Stengle, 1968). Wenn ein Verhalten in fast allen Situationen verstärkt wird, dann wird das Verhalten selbstverstärkend. Alleine die gelungene Ausführung des Verhaltens (jemanden erfolgreich imitieren, eine sinnvolle Lösung für ein Problem finden) hat Verstärkung zur Folge. Verhalten, das auf diese Weise automatisch verstärkt (Vaughan & Michael, 1982) wird, wird auch gezeigt, ohne dass es einen unmittelbaren Nutzen hat. Das Sinnsuchen (wie oben am Beispiel der Krankheit beschrieben) tritt auch dann auf, wenn es nicht anderweitig verstärkt wird (z. B. indem man eine Erklärung findet, warum man krank wurde und daraufhin geheilt wird).

Die Neigung, in allem Möglichen einen Sinn zu suchen und auch zu erkennen, ist mitnichten angeboren, sondern erlernt.  Beispielsweise hören Menschen in unklaren auditiven Reizen sinnvolle Wörter. Dieses Verhalten wird automatisch verstärkt.

Einen Sinn zu suchen und zu erkennen, erhöht die Chancen, Ereignisse vorauszusagen und effektiv zu handeln (Mineka & Henderson, 1985). Auch das Verhalten, einen Sinn in persönlichen Problemen zu suchen, kann adaptiv sein. Wem es gelingt, einen Sinn in traumatisierenden Lebensereignissen zu finden, der bewältigt dieses Ereignis besser als andere. Mendola et al. (1990) fanden beispielsweise, dass unfruchtbare Frauen mit Kinderwunsch, die ihrem vergeblichen Versuch, schwanger zu werden, eine positive Seite abgewinnen konnten (z. B. mit dem Partner nun noch verbundener zu sein), weniger psychische Probleme hatten. Wer einen Sinn erkennt, der lebt auch letztlich gesünder. Das Schreiben über die eigenen Probleme kann es einem erleichtern, einen Sinn zu finden.

Nachteile der Sinnsuche

Die Suche nach Sinn bei einem psychischen Problem ist aber nicht immer nützlich. Man stelle sich das gleiche Kind aus dem obigen Beispiel vor, das nun mit einer schlechten Note nach Hause kommt. Wenn es auf die Frage der Eltern, warum es eine schlechte Note geschrieben hat, antwortet, dass es zu wenig gelernt hat, muss es unmittelbare negative Konsequenzen befürchten (geschimpft werden, Hausarrest bekommen). Wenn es z. B. antwortet, es habe die schlechte Note geschrieben, weil es zu dumm ist (auch das könnte wahr sein), muss es gleichfalls negative Folgen befürchten. Gerade diese Art, Sinn zu suchen, ist problematisch.

Ingram (1990) berichtet von mehreren Studien, die einen Zusammenhang zwischen der Neigung, Sinn zu suchen und einer Vielzahl von psychischen Problemen belegen. Gerade bei Depressionen kann die Neigung zu Sinnsuche den Erfolg der Behandlung beeinträchtigen. Addis und Jacobson (1996) zeigten, dass das Verhalten Sinn zu suchen mit schlechteren Ergebnissen in einer verhaltensaktivierenden Therapie korreliert. Klienten, die die Ursachen ihrer Depressionen in der Kindheit und in Beziehungsproblemen suchten, sprachen schlechter auf kognitive und verhaltenstherapeutische Interventionen an. Meine eigene Erfahrung ist übrigens auch, dass Depressive, die bereits einmal eine tiefenpsychologische, psychoanalytische oder ähnlich geartete Therapie (in der es vor allem um die Kindheit und um Beziehungsaspekte geht) durchlaufen haben, für die Verhaltenstherapie „verdorben“ sind. Sie sind gewohnt, Heilung aus dem Reden über Dinge und Ereignisse zu erwarten, für die sie nicht verantwortlich gemacht können. Ihr Therapeut hat dieses Reden bislang ja immer verstärkt. Wenn der Verhaltenstherapeut nun auf einmal möchte, dass sie selbst etwas tun, um ihre Situation zu verbessern, empfinden sie das leicht einmal als Zumutung.

Wray et al. (2012) interessierte besonders die Frage, warum Menschen mit psychischen Problemen weiterhin nach dem Sinn dahinter suchen, obwohl diese Suche nur zu ungünstigen Resultaten führt. Unangebrachte Versuche, Sinn zu erkennen, wie das Grübeln oder das Sich-Sorgen-Machen können aus verhaltensanalytischer Sicht als Verhaltensexzess oder Verhalten, das in einer unangebrachten Situation auftritt, aufgefasst werden.

Der Versuch, einen Sinn zu finden, ist bei vielen Problemen hilfreich. Jedoch ist es hinderlich, wenn man versucht, bestimmte psychische Probleme zu lösen, insbesondere, wenn es darum geht, emotionale Erfahrungen zu kontrollieren. Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie lehrt unter anderem, emotionale Erfahrungen nicht zu verdrängen oder zu bekämpfen, sondern zu akzeptieren. Die Erfahrungsvermeidung (experiential avoidance) ist die eigentliche Ursache vieler psychischer Probleme. Vermeide ich die Auseinandersetzung mit meiner Angst, so wird dieses Verhalten zwar unmittelbar negativ verstärkt (ich bin die Angst los), langfristig aber habe ich die Ursachen der Angst nicht beseitigt. Wray et al. (2012) sehen in der damit verbundenen Erfahrungsvermeidung den eigentlichen Grund, warum Menschen fortgesetzt nach Sinn suchen, obwohl sie zu keinem befriedigendem Ergebnis kommen.

Was ist Erfahrungsvermeidung?

Erfahrungsvermeidung ist ein Übermaß an regelgeleitetem Verhalten auf Kosten des kontingenzgeformten Verhaltens. Wir alle lernen, dass es sich rentiert, in der Gegenwart auf Belohnungen zu verzichten, um in der Zukunft eine größeren Gewinn zu haben (z. B. heute lernen um in einer Woche eine Prüfung zu bestehen). Wir haben gelernt, uns an Regeln zu halten, die uns momentan keinen Vorteil bringen, langfristig aber zu unserem Besten sind oder sein sollten. Das Problem mit dem regelgeleiteten Verhalten ist der relative Mangel an Verstärkung. Solange wir uns an die Regel halten (jeden Tag lernen), entbehren wir der unmittelbaren Verstärkung, die uns andere Aktivitäten (sich mit Freunden treffen, den Tag verbummeln usw.) brächten. Insgesamt haben wir natürlich mehr davon: Wenn wir die Prüfungen bestehen, bekommen wir leichter einen Job, verdienen mehr Geld, können uns schöne Sachen kaufen usw. Nur auf dem Weg dahin drohen wir, was die Verstärkung angeht, zu verhungern.

Sinn zu finden ist ein Verstärker

In drei Experimenten wollen Wray et al. (2012) in insgesamt drei Experimenten (mit 17, 15 und 20 Versuchspersonen) nachweisen, dass das Finden von Sinn ein Verstärker ist. Ihre Versuchspersonen sollten eine „matching to sample“-Aufgabe bearbeiten, bei der sie einen Reiz einem anderen zuordnen sollten. Diese Aufgaben waren entweder lösbar ober nicht lösbar. Beide Varianten waren mit der gleichen Menge an externer Verstärkung verbunden. In beiden Fällen erfuhren die Versuchspersonen genauso häufig, dass ihre Antwort „richtig“ war. Als sie anschließend die Wahl hatten, welche Aufgaben sie bearbeiten möchten, zogen die meisten (65 %) Versuchspersonen die lösbaren Aufgaben vor. Dieses Ergebnis hat zwei mögliche Erklärungen: Entweder werden die lösbaren Aufgaben (die Aufgaben, die „Sinn“ ergaben) deshalb vorgezogen, weil sie positive Verstärker sind oder aber die unlösbaren Aufgaben werden gemieden, weil sie negative Verstärker (Strafreize) sind. Neben den lösbaren und den unlösbaren Aufgaben ließen Wray et al. (2012) ihre Versuchspersonen daher auch neutrale Aufgaben bearbeiten. Nun wurden die lösbaren und die neutralen Aufgaben in etwa gleich häufig gewählt. Dies deutet darauf hin, dass die Versuchspersonen es vor allem vermieden, Aufgaben zu bearbeiten, die nicht lösbar waren, weniger, dass sie die lösbaren Aufgaben an sich bevorzugten.  Dabei gab es individuelle Unterschiede. Diejenigen Versuchspersonen, die die neutralen Aufgaben wählten, begründeten dies damit, dass diese für sie weniger verwirrend waren. Die Versuchspersonen, die die lösbaren Aufgaben bevorzugten, gaben an, dass es ihnen Spaß mache, herauszufinden, wie die Aufgaben funktionierten.

Wary et al. (2012) sehen in ihren Experimenten einen ersten Hinweis darauf, dass es verstärkend ist, wenn etwas Sinn ergibt. Sie vermuten, dass es vor allem diejenigen Versuchspersonen waren, die sehr stark zur Erfahrungsvermeidung neigten, die die neutralen Aufgaben den lösbaren und unlösbaren vorzogen.

Literatur

Addis, M. E. & Jacobson, N. S. (1996). Reasons for depression and the process and outcome of cognitive-behavioral psychotherapies. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 64, 1417-1424.

Gergen, K. J. & Gergen, M. M. (1988). Narrative and the self as relationship. In L. Berkowitz (Ed.), Advances in experimental social psychology (Vol. 21, pp. 17-56). New York, NY: Academic Press.

Gewirtz, J.L. & Stingle, K.G. (1968). Learning of generalized imitation as the basis for identification. Psychological Review, 75, 374-397.

Ingram, R. E. (1990). Self-focused attention in clinical disorders: Review and a conceptual model. Psychological Bulletin, 107, 156-176.

Mineka, S. & Henderso, R. W. (1985). Controllability and predictability in acquired motivation. Annual Review of Psychology, 36, 495-529.

Vaughan, M.E. & Michael, J.L. (1982). Automatic reinforcement: An important but ignored concept. Behaviorism, 10, 217‑227.

Wray, Alisha M.; Dougher, Michael J.; Hamilton, Derek A. & Guinther, Paul M.  (2012). Examining the reinforcing properties of making sense: A preliminary investigation. The Psychological Record, 62(4), 599-622.

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