Wray et al. (2012) erklären das menschliche Bedürfnis, einen Sinn in allem sehen zu wollen, aus verhaltensanalytischer Sicht und versuchen zu verstehen, warum manche Menschen nach Sinn suchen, obwohl es Ihnen dadurch nicht besser geht.
Kognitive Verhaltensweisen wie die Selbstaufmerksamkeit, sich wiederholende Gedanken und Grübelei kann man auch als Versuche auffassen, einen Sinn zu erkennen. Diese (kognitiven oder sprachlichen) Verhaltensweisen treten vor allem in solchen Situationen auf, in denen (so Skinner, 1953) zwar positive Verstärkung verfügbar ist, aber (gerade) kein Verhalten, diese zu erlangen. Wenn ich ein Problem löse, muss ich erst das Verhalten generieren, um an die positive Verstärkung heran zu kommen. Wenn ich den Sinn eines Problems erkenne, kann ich effektiver handeln. Wenn ich z. B. durch Nachdenken herausfinde, warum ich krank geworden bin (z. B. ich habe verdorbene Lebensmittel gegessen), kann ich effektiver handeln (z. B. solche Lebensmittel künftig meiden). Schwierig wird es allerdings, wenn ich nach der Lösung eines Problems suche, für das es keine Lösung gibt, z. B. nach dem Grund für eine Erkrankung suche, für die sich kein Grund finden lässt, den ich beeinflussen könnte. So fragen sich viele Menschen, die an einer schweren Erkrankung leiden, warum gerade sie dieses Schicksal ereilt hat. Oft gibt es darauf keine Antwort. Die Suche nach dem Sinn hinter der Krankheit belastet den Kranken dann nur noch mehr.
Warum wir nach Sinn suchen
Eine „Geschichte“ zu haben, warum etwas so ist, wie es ist, hilft nicht nur dabei, (normalerweise) effektiver zu handeln. Die soziale Gemeinschaft, in der wir uns befinden, fordert das auch von uns. Eine Geschichte macht uns berechenbarer und damit akzeptabler für unsere Mitmenschen. Gergen und Gergen (1988) erläutern, die wie die Neigung Gründe für das eigene Verhalten und einen Sinn in allem zu suchen, im Lauf des Lebens geformt wird. Angenommen, ein Kind kommt von der Schule nach Hause und hat eine gute Note. Die Eltern fragen, wie es das geschafft hat, eine so gute Note zu schreiben. Wenn die Antwort des Kindes mehreren Kriterien genügt, wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Eltern verstärkt, z. B. gelobt. Sie sollte grammatikalisch korrekt sein, sinnvoll und mit den Werten der Eltern übereinstimmen. Eine unsinnige Antwort („Der Dschungel hat mein Buch gegessen“) wird nicht verstärkt, sondern eher sogar bestraft, ebenso wie eine sinnvolle, aber mit den Werten der Eltern nicht übereinstimmende Antwort ( „Ich hatte einfach Glück“). Eine Antwort wie „Ich habe fleißig gelernt“ dagegen erfüllt alle Kriterien, um (von den Eltern durch Lob) verstärkt zu werden, sie ist grammatikalisch korrekt, sie ist sinnvoll und sie entspricht den elterlichen Werten. Man beachte: Die „Gründe“ sind nicht unbedingt die „Ursachen“ des Ereignisses.
Sinnsuche als generalisierte Verhaltensweise
Das sprachliche Verhalten, sozial akzeptable Gründe für das eigene Verhalten anzugeben, wird in so vielen Situationen verstärkt, dass es generalisiert. „Sinnsuchen“ (und Gründe angeben) wird zu einer generalisierten Operantenklasse, ähnlich wie das imitative Verhalten (Gewirtz & Stengle, 1968). Wenn ein Verhalten in fast allen Situationen verstärkt wird, dann wird das Verhalten selbstverstärkend. Alleine die gelungene Ausführung des Verhaltens (jemanden erfolgreich imitieren, eine sinnvolle Lösung für ein Problem finden) hat Verstärkung zur Folge. Verhalten, das auf diese Weise automatisch verstärkt (Vaughan & Michael, 1982) wird, wird auch gezeigt, ohne dass es einen unmittelbaren Nutzen hat. Das Sinnsuchen (wie oben am Beispiel der Krankheit beschrieben) tritt auch dann auf, wenn es nicht anderweitig verstärkt wird (z. B. indem man eine Erklärung findet, warum man krank wurde und daraufhin geheilt wird).
Die Neigung, in allem Möglichen einen Sinn zu suchen und auch zu erkennen, ist mitnichten angeboren, sondern erlernt. Beispielsweise hören Menschen in unklaren auditiven Reizen sinnvolle Wörter. Dieses Verhalten wird automatisch verstärkt.
Einen Sinn zu suchen und zu erkennen, erhöht die Chancen, Ereignisse vorauszusagen und effektiv zu handeln (Mineka & Henderson, 1985). Auch das Verhalten, einen Sinn in persönlichen Problemen zu suchen, kann adaptiv sein. Wem es gelingt, einen Sinn in traumatisierenden Lebensereignissen zu finden, der bewältigt dieses Ereignis besser als andere. Mendola et al. (1990) fanden beispielsweise, dass unfruchtbare Frauen mit Kinderwunsch, die ihrem vergeblichen Versuch, schwanger zu werden, eine positive Seite abgewinnen konnten (z. B. mit dem Partner nun noch verbundener zu sein), weniger psychische Probleme hatten. Wer einen Sinn erkennt, der lebt auch letztlich gesünder. Das Schreiben über die eigenen Probleme kann es einem erleichtern, einen Sinn zu finden.
Nachteile der Sinnsuche
Die Suche nach Sinn bei einem psychischen Problem ist aber nicht immer nützlich. Man stelle sich das gleiche Kind aus dem obigen Beispiel vor, das nun mit einer schlechten Note nach Hause kommt. Wenn es auf die Frage der Eltern, warum es eine schlechte Note geschrieben hat, antwortet, dass es zu wenig gelernt hat, muss es unmittelbare negative Konsequenzen befürchten (geschimpft werden, Hausarrest bekommen). Wenn es z. B. antwortet, es habe die schlechte Note geschrieben, weil es zu dumm ist (auch das könnte wahr sein), muss es gleichfalls negative Folgen befürchten. Gerade diese Art, Sinn zu suchen, ist problematisch.
Ingram (1990) berichtet von mehreren Studien, die einen Zusammenhang zwischen der Neigung, Sinn zu suchen und einer Vielzahl von psychischen Problemen belegen. Gerade bei Depressionen kann die Neigung zu Sinnsuche den Erfolg der Behandlung beeinträchtigen. Addis und Jacobson (1996) zeigten, dass das Verhalten Sinn zu suchen mit schlechteren Ergebnissen in einer verhaltensaktivierenden Therapie korreliert. Klienten, die die Ursachen ihrer Depressionen in der Kindheit und in Beziehungsproblemen suchten, sprachen schlechter auf kognitive und verhaltenstherapeutische Interventionen an. Meine eigene Erfahrung ist übrigens auch, dass Depressive, die bereits einmal eine tiefenpsychologische, psychoanalytische oder ähnlich geartete Therapie (in der es vor allem um die Kindheit und um Beziehungsaspekte geht) durchlaufen haben, für die Verhaltenstherapie „verdorben“ sind. Sie sind gewohnt, Heilung aus dem Reden über Dinge und Ereignisse zu erwarten, für die sie nicht verantwortlich gemacht können. Ihr Therapeut hat dieses Reden bislang ja immer verstärkt. Wenn der Verhaltenstherapeut nun auf einmal möchte, dass sie selbst etwas tun, um ihre Situation zu verbessern, empfinden sie das leicht einmal als Zumutung.
Wray et al. (2012) interessierte besonders die Frage, warum Menschen mit psychischen Problemen weiterhin nach dem Sinn dahinter suchen, obwohl diese Suche nur zu ungünstigen Resultaten führt. Unangebrachte Versuche, Sinn zu erkennen, wie das Grübeln oder das Sich-Sorgen-Machen können aus verhaltensanalytischer Sicht als Verhaltensexzess oder Verhalten, das in einer unangebrachten Situation auftritt, aufgefasst werden.
Der Versuch, einen Sinn zu finden, ist bei vielen Problemen hilfreich. Jedoch ist es hinderlich, wenn man versucht, bestimmte psychische Probleme zu lösen, insbesondere, wenn es darum geht, emotionale Erfahrungen zu kontrollieren. Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie lehrt unter anderem, emotionale Erfahrungen nicht zu verdrängen oder zu bekämpfen, sondern zu akzeptieren. Die Erfahrungsvermeidung (experiential avoidance) ist die eigentliche Ursache vieler psychischer Probleme. Vermeide ich die Auseinandersetzung mit meiner Angst, so wird dieses Verhalten zwar unmittelbar negativ verstärkt (ich bin die Angst los), langfristig aber habe ich die Ursachen der Angst nicht beseitigt. Wray et al. (2012) sehen in der damit verbundenen Erfahrungsvermeidung den eigentlichen Grund, warum Menschen fortgesetzt nach Sinn suchen, obwohl sie zu keinem befriedigendem Ergebnis kommen.
Was ist Erfahrungsvermeidung?
Erfahrungsvermeidung ist ein Übermaß an regelgeleitetem Verhalten auf Kosten des kontingenzgeformten Verhaltens. Wir alle lernen, dass es sich rentiert, in der Gegenwart auf Belohnungen zu verzichten, um in der Zukunft eine größeren Gewinn zu haben (z. B. heute lernen um in einer Woche eine Prüfung zu bestehen). Wir haben gelernt, uns an Regeln zu halten, die uns momentan keinen Vorteil bringen, langfristig aber zu unserem Besten sind oder sein sollten. Das Problem mit dem regelgeleiteten Verhalten ist der relative Mangel an Verstärkung. Solange wir uns an die Regel halten (jeden Tag lernen), entbehren wir der unmittelbaren Verstärkung, die uns andere Aktivitäten (sich mit Freunden treffen, den Tag verbummeln usw.) brächten. Insgesamt haben wir natürlich mehr davon: Wenn wir die Prüfungen bestehen, bekommen wir leichter einen Job, verdienen mehr Geld, können uns schöne Sachen kaufen usw. Nur auf dem Weg dahin drohen wir, was die Verstärkung angeht, zu verhungern.
Sinn zu finden ist ein Verstärker
In drei Experimenten wollen Wray et al. (2012) in insgesamt drei Experimenten (mit 17, 15 und 20 Versuchspersonen) nachweisen, dass das Finden von Sinn ein Verstärker ist. Ihre Versuchspersonen sollten eine „matching to sample“-Aufgabe bearbeiten, bei der sie einen Reiz einem anderen zuordnen sollten. Diese Aufgaben waren entweder lösbar ober nicht lösbar. Beide Varianten waren mit der gleichen Menge an externer Verstärkung verbunden. In beiden Fällen erfuhren die Versuchspersonen genauso häufig, dass ihre Antwort „richtig“ war. Als sie anschließend die Wahl hatten, welche Aufgaben sie bearbeiten möchten, zogen die meisten (65 %) Versuchspersonen die lösbaren Aufgaben vor. Dieses Ergebnis hat zwei mögliche Erklärungen: Entweder werden die lösbaren Aufgaben (die Aufgaben, die „Sinn“ ergaben) deshalb vorgezogen, weil sie positive Verstärker sind oder aber die unlösbaren Aufgaben werden gemieden, weil sie negative Verstärker (Strafreize) sind. Neben den lösbaren und den unlösbaren Aufgaben ließen Wray et al. (2012) ihre Versuchspersonen daher auch neutrale Aufgaben bearbeiten. Nun wurden die lösbaren und die neutralen Aufgaben in etwa gleich häufig gewählt. Dies deutet darauf hin, dass die Versuchspersonen es vor allem vermieden, Aufgaben zu bearbeiten, die nicht lösbar waren, weniger, dass sie die lösbaren Aufgaben an sich bevorzugten. Dabei gab es individuelle Unterschiede. Diejenigen Versuchspersonen, die die neutralen Aufgaben wählten, begründeten dies damit, dass diese für sie weniger verwirrend waren. Die Versuchspersonen, die die lösbaren Aufgaben bevorzugten, gaben an, dass es ihnen Spaß mache, herauszufinden, wie die Aufgaben funktionierten.
Wary et al. (2012) sehen in ihren Experimenten einen ersten Hinweis darauf, dass es verstärkend ist, wenn etwas Sinn ergibt. Sie vermuten, dass es vor allem diejenigen Versuchspersonen waren, die sehr stark zur Erfahrungsvermeidung neigten, die die neutralen Aufgaben den lösbaren und unlösbaren vorzogen.
Literatur
Addis, M. E. & Jacobson, N. S. (1996). Reasons for depression and the process and outcome of cognitive-behavioral psychotherapies. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 64, 1417-1424.
Gergen, K. J. & Gergen, M. M. (1988). Narrative and the self as relationship. In L. Berkowitz (Ed.), Advances in experimental social psychology (Vol. 21, pp. 17-56). New York, NY: Academic Press.
Gewirtz, J.L. & Stingle, K.G. (1968). Learning of generalized imitation as the basis for identification. Psychological Review, 75, 374-397.
Ingram, R. E. (1990). Self-focused attention in clinical disorders: Review and a conceptual model. Psychological Bulletin, 107, 156-176.
Mineka, S. & Henderso, R. W. (1985). Controllability and predictability in acquired motivation. Annual Review of Psychology, 36, 495-529.
Vaughan, M.E. & Michael, J.L. (1982). Automatic reinforcement: An important but ignored concept. Behaviorism, 10, 217‑227.
Wray, Alisha M.; Dougher, Michael J.; Hamilton, Derek A. & Guinther, Paul M. (2012). Examining the reinforcing properties of making sense: A preliminary investigation. The Psychological Record, 62(4), 599-622.