Monatsarchiv: Januar 2013

Sinnsuche aus verhaltensanalytischer Sicht – Manchmal ist es ein Segen, dumm zu sein

Wray et al. (2012) erklären das menschliche Bedürfnis, einen Sinn in allem sehen zu wollen, aus verhaltensanalytischer Sicht und versuchen zu verstehen, warum manche Menschen nach Sinn suchen, obwohl es Ihnen dadurch nicht besser geht.

Kognitive Verhaltensweisen wie die Selbstaufmerksamkeit, sich wiederholende Gedanken und Grübelei kann man auch als Versuche auffassen, einen Sinn zu erkennen. Diese (kognitiven oder sprachlichen) Verhaltensweisen treten vor allem in solchen Situationen auf, in denen (so Skinner, 1953) zwar positive Verstärkung verfügbar ist, aber (gerade) kein Verhalten, diese zu erlangen. Wenn ich ein Problem löse, muss ich erst das Verhalten generieren, um an die positive Verstärkung heran zu kommen. Wenn ich den Sinn eines Problems erkenne, kann ich effektiver handeln. Wenn ich z. B. durch Nachdenken herausfinde, warum ich krank geworden bin (z. B. ich habe verdorbene Lebensmittel gegessen), kann ich effektiver handeln (z. B. solche Lebensmittel künftig meiden). Schwierig wird es allerdings, wenn ich nach der Lösung eines Problems suche, für das es keine Lösung gibt, z. B. nach dem Grund für eine Erkrankung suche, für die sich kein Grund finden lässt, den ich beeinflussen könnte. So fragen sich viele Menschen, die an einer schweren Erkrankung leiden, warum gerade sie dieses Schicksal ereilt hat. Oft gibt es darauf keine Antwort. Die Suche nach dem Sinn hinter der Krankheit belastet den Kranken dann nur noch mehr.

Warum wir nach Sinn suchen

Eine „Geschichte“ zu haben, warum etwas so ist, wie es ist, hilft nicht nur dabei, (normalerweise) effektiver zu handeln. Die soziale Gemeinschaft, in der wir uns befinden, fordert das auch von uns. Eine Geschichte macht uns berechenbarer und damit akzeptabler für unsere Mitmenschen. Gergen und Gergen (1988) erläutern, die wie die Neigung Gründe für das eigene Verhalten und einen Sinn in allem zu suchen, im Lauf des Lebens geformt wird. Angenommen, ein Kind kommt von der Schule nach Hause und hat eine gute Note. Die Eltern fragen, wie es das geschafft hat, eine so gute Note zu schreiben. Wenn die Antwort des Kindes mehreren Kriterien genügt, wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Eltern verstärkt, z. B. gelobt. Sie sollte grammatikalisch korrekt sein, sinnvoll und mit den Werten der Eltern übereinstimmen. Eine unsinnige Antwort („Der Dschungel hat mein Buch gegessen“) wird nicht verstärkt, sondern eher sogar bestraft, ebenso wie eine sinnvolle, aber mit den Werten der Eltern nicht übereinstimmende Antwort ( „Ich hatte einfach Glück“). Eine Antwort wie „Ich habe fleißig gelernt“ dagegen erfüllt alle Kriterien, um (von den Eltern durch Lob) verstärkt zu werden, sie ist grammatikalisch korrekt, sie ist sinnvoll und sie entspricht den elterlichen Werten. Man beachte: Die „Gründe“ sind nicht unbedingt die „Ursachen“ des Ereignisses.

Sinnsuche als generalisierte Verhaltensweise

Das sprachliche Verhalten, sozial akzeptable Gründe für das eigene Verhalten anzugeben, wird in so vielen Situationen verstärkt, dass es generalisiert. „Sinnsuchen“ (und Gründe angeben) wird zu einer generalisierten Operantenklasse, ähnlich wie das imitative Verhalten (Gewirtz & Stengle, 1968). Wenn ein Verhalten in fast allen Situationen verstärkt wird, dann wird das Verhalten selbstverstärkend. Alleine die gelungene Ausführung des Verhaltens (jemanden erfolgreich imitieren, eine sinnvolle Lösung für ein Problem finden) hat Verstärkung zur Folge. Verhalten, das auf diese Weise automatisch verstärkt (Vaughan & Michael, 1982) wird, wird auch gezeigt, ohne dass es einen unmittelbaren Nutzen hat. Das Sinnsuchen (wie oben am Beispiel der Krankheit beschrieben) tritt auch dann auf, wenn es nicht anderweitig verstärkt wird (z. B. indem man eine Erklärung findet, warum man krank wurde und daraufhin geheilt wird).

Die Neigung, in allem Möglichen einen Sinn zu suchen und auch zu erkennen, ist mitnichten angeboren, sondern erlernt.  Beispielsweise hören Menschen in unklaren auditiven Reizen sinnvolle Wörter. Dieses Verhalten wird automatisch verstärkt.

Einen Sinn zu suchen und zu erkennen, erhöht die Chancen, Ereignisse vorauszusagen und effektiv zu handeln (Mineka & Henderson, 1985). Auch das Verhalten, einen Sinn in persönlichen Problemen zu suchen, kann adaptiv sein. Wem es gelingt, einen Sinn in traumatisierenden Lebensereignissen zu finden, der bewältigt dieses Ereignis besser als andere. Mendola et al. (1990) fanden beispielsweise, dass unfruchtbare Frauen mit Kinderwunsch, die ihrem vergeblichen Versuch, schwanger zu werden, eine positive Seite abgewinnen konnten (z. B. mit dem Partner nun noch verbundener zu sein), weniger psychische Probleme hatten. Wer einen Sinn erkennt, der lebt auch letztlich gesünder. Das Schreiben über die eigenen Probleme kann es einem erleichtern, einen Sinn zu finden.

Nachteile der Sinnsuche

Die Suche nach Sinn bei einem psychischen Problem ist aber nicht immer nützlich. Man stelle sich das gleiche Kind aus dem obigen Beispiel vor, das nun mit einer schlechten Note nach Hause kommt. Wenn es auf die Frage der Eltern, warum es eine schlechte Note geschrieben hat, antwortet, dass es zu wenig gelernt hat, muss es unmittelbare negative Konsequenzen befürchten (geschimpft werden, Hausarrest bekommen). Wenn es z. B. antwortet, es habe die schlechte Note geschrieben, weil es zu dumm ist (auch das könnte wahr sein), muss es gleichfalls negative Folgen befürchten. Gerade diese Art, Sinn zu suchen, ist problematisch.

Ingram (1990) berichtet von mehreren Studien, die einen Zusammenhang zwischen der Neigung, Sinn zu suchen und einer Vielzahl von psychischen Problemen belegen. Gerade bei Depressionen kann die Neigung zu Sinnsuche den Erfolg der Behandlung beeinträchtigen. Addis und Jacobson (1996) zeigten, dass das Verhalten Sinn zu suchen mit schlechteren Ergebnissen in einer verhaltensaktivierenden Therapie korreliert. Klienten, die die Ursachen ihrer Depressionen in der Kindheit und in Beziehungsproblemen suchten, sprachen schlechter auf kognitive und verhaltenstherapeutische Interventionen an. Meine eigene Erfahrung ist übrigens auch, dass Depressive, die bereits einmal eine tiefenpsychologische, psychoanalytische oder ähnlich geartete Therapie (in der es vor allem um die Kindheit und um Beziehungsaspekte geht) durchlaufen haben, für die Verhaltenstherapie „verdorben“ sind. Sie sind gewohnt, Heilung aus dem Reden über Dinge und Ereignisse zu erwarten, für die sie nicht verantwortlich gemacht können. Ihr Therapeut hat dieses Reden bislang ja immer verstärkt. Wenn der Verhaltenstherapeut nun auf einmal möchte, dass sie selbst etwas tun, um ihre Situation zu verbessern, empfinden sie das leicht einmal als Zumutung.

Wray et al. (2012) interessierte besonders die Frage, warum Menschen mit psychischen Problemen weiterhin nach dem Sinn dahinter suchen, obwohl diese Suche nur zu ungünstigen Resultaten führt. Unangebrachte Versuche, Sinn zu erkennen, wie das Grübeln oder das Sich-Sorgen-Machen können aus verhaltensanalytischer Sicht als Verhaltensexzess oder Verhalten, das in einer unangebrachten Situation auftritt, aufgefasst werden.

Der Versuch, einen Sinn zu finden, ist bei vielen Problemen hilfreich. Jedoch ist es hinderlich, wenn man versucht, bestimmte psychische Probleme zu lösen, insbesondere, wenn es darum geht, emotionale Erfahrungen zu kontrollieren. Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie lehrt unter anderem, emotionale Erfahrungen nicht zu verdrängen oder zu bekämpfen, sondern zu akzeptieren. Die Erfahrungsvermeidung (experiential avoidance) ist die eigentliche Ursache vieler psychischer Probleme. Vermeide ich die Auseinandersetzung mit meiner Angst, so wird dieses Verhalten zwar unmittelbar negativ verstärkt (ich bin die Angst los), langfristig aber habe ich die Ursachen der Angst nicht beseitigt. Wray et al. (2012) sehen in der damit verbundenen Erfahrungsvermeidung den eigentlichen Grund, warum Menschen fortgesetzt nach Sinn suchen, obwohl sie zu keinem befriedigendem Ergebnis kommen.

Was ist Erfahrungsvermeidung?

Erfahrungsvermeidung ist ein Übermaß an regelgeleitetem Verhalten auf Kosten des kontingenzgeformten Verhaltens. Wir alle lernen, dass es sich rentiert, in der Gegenwart auf Belohnungen zu verzichten, um in der Zukunft eine größeren Gewinn zu haben (z. B. heute lernen um in einer Woche eine Prüfung zu bestehen). Wir haben gelernt, uns an Regeln zu halten, die uns momentan keinen Vorteil bringen, langfristig aber zu unserem Besten sind oder sein sollten. Das Problem mit dem regelgeleiteten Verhalten ist der relative Mangel an Verstärkung. Solange wir uns an die Regel halten (jeden Tag lernen), entbehren wir der unmittelbaren Verstärkung, die uns andere Aktivitäten (sich mit Freunden treffen, den Tag verbummeln usw.) brächten. Insgesamt haben wir natürlich mehr davon: Wenn wir die Prüfungen bestehen, bekommen wir leichter einen Job, verdienen mehr Geld, können uns schöne Sachen kaufen usw. Nur auf dem Weg dahin drohen wir, was die Verstärkung angeht, zu verhungern.

Sinn zu finden ist ein Verstärker

In drei Experimenten wollen Wray et al. (2012) in insgesamt drei Experimenten (mit 17, 15 und 20 Versuchspersonen) nachweisen, dass das Finden von Sinn ein Verstärker ist. Ihre Versuchspersonen sollten eine „matching to sample“-Aufgabe bearbeiten, bei der sie einen Reiz einem anderen zuordnen sollten. Diese Aufgaben waren entweder lösbar ober nicht lösbar. Beide Varianten waren mit der gleichen Menge an externer Verstärkung verbunden. In beiden Fällen erfuhren die Versuchspersonen genauso häufig, dass ihre Antwort „richtig“ war. Als sie anschließend die Wahl hatten, welche Aufgaben sie bearbeiten möchten, zogen die meisten (65 %) Versuchspersonen die lösbaren Aufgaben vor. Dieses Ergebnis hat zwei mögliche Erklärungen: Entweder werden die lösbaren Aufgaben (die Aufgaben, die „Sinn“ ergaben) deshalb vorgezogen, weil sie positive Verstärker sind oder aber die unlösbaren Aufgaben werden gemieden, weil sie negative Verstärker (Strafreize) sind. Neben den lösbaren und den unlösbaren Aufgaben ließen Wray et al. (2012) ihre Versuchspersonen daher auch neutrale Aufgaben bearbeiten. Nun wurden die lösbaren und die neutralen Aufgaben in etwa gleich häufig gewählt. Dies deutet darauf hin, dass die Versuchspersonen es vor allem vermieden, Aufgaben zu bearbeiten, die nicht lösbar waren, weniger, dass sie die lösbaren Aufgaben an sich bevorzugten.  Dabei gab es individuelle Unterschiede. Diejenigen Versuchspersonen, die die neutralen Aufgaben wählten, begründeten dies damit, dass diese für sie weniger verwirrend waren. Die Versuchspersonen, die die lösbaren Aufgaben bevorzugten, gaben an, dass es ihnen Spaß mache, herauszufinden, wie die Aufgaben funktionierten.

Wary et al. (2012) sehen in ihren Experimenten einen ersten Hinweis darauf, dass es verstärkend ist, wenn etwas Sinn ergibt. Sie vermuten, dass es vor allem diejenigen Versuchspersonen waren, die sehr stark zur Erfahrungsvermeidung neigten, die die neutralen Aufgaben den lösbaren und unlösbaren vorzogen.

Literatur

Addis, M. E. & Jacobson, N. S. (1996). Reasons for depression and the process and outcome of cognitive-behavioral psychotherapies. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 64, 1417-1424.

Gergen, K. J. & Gergen, M. M. (1988). Narrative and the self as relationship. In L. Berkowitz (Ed.), Advances in experimental social psychology (Vol. 21, pp. 17-56). New York, NY: Academic Press.

Gewirtz, J.L. & Stingle, K.G. (1968). Learning of generalized imitation as the basis for identification. Psychological Review, 75, 374-397.

Ingram, R. E. (1990). Self-focused attention in clinical disorders: Review and a conceptual model. Psychological Bulletin, 107, 156-176.

Mineka, S. & Henderso, R. W. (1985). Controllability and predictability in acquired motivation. Annual Review of Psychology, 36, 495-529.

Vaughan, M.E. & Michael, J.L. (1982). Automatic reinforcement: An important but ignored concept. Behaviorism, 10, 217‑227.

Wray, Alisha M.; Dougher, Michael J.; Hamilton, Derek A. & Guinther, Paul M.  (2012). Examining the reinforcing properties of making sense: A preliminary investigation. The Psychological Record, 62(4), 599-622.

Ein Kommentar

Eingeordnet unter Verhaltensanalyse, Verstärkung

Buchempfehlung: The Power of Reinforcement

Stephen Ray Flora (2004) wendet sich im ersten Teil des Buches gegen die uninformierte Kritik am Einsatz von Verstärkungstechniken, wie sie in den USA z. B. von einem Alfie Kohn (1993) vorgebracht wurde (vgl. meine Kritik am sogenannten Korrumpierungseffekt). Im zweiten Teil des Buches berichtet Flora von den vielen positiven Effekten des Einsatzes von Verstärkungstechniken und davon, wie allgegenwärtig positive Verstärkung ist. Auch das Verhalten einer Person, die leugnet, dass die positive Verstärkung für ihr Handeln eine Rolle spielt, wird verstärkt. Flora illustriert das u. a. anhand der Autobiographie des Autors Steven King. King leugnet einerseits, dass das Geldverdienen für ihn eine Motivation fürs Schreiben ist, andererseits ist seine Autobiographie voll von Hinweisen auf die Formung seines Verhaltens als Schriftsteller durch positive Verstärkung. Flora zeigt, dass er sowohl die Forschung wiedergeben kann, als auch alltägliche Vorgänge vor dem Hintergrund dieser Forschungen interpretieren kann (im Sinne Donahoes, 2004, PDF 156 KB).

Doughty und Shields (2009, PDF 524 KB) empfehlen Floras „The Power of Reinforcement“ als zusätzliches Werkzeug in einem Einführungskurs zur Lernpsychologie. Allerdings sollten die Leser mit der verhaltensanalytischen Terminologie schon etwas vertraut sein. Das Lexikon der Fachbegriffe am Ende des Buches ist da keine ausreichende Vorbereitung.

Flora, Stephen R. (2004). The Power of Reinforcement. New York: State University of New York Press.

ISBN: 0-7914-5915-2

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Molarer und molekularer Behaviorismus

Die molekulare Sichtweise auf das Verhalten betrachtet momentane Ereignisse und die momentane Verursachung. Dies führt dazu, dass oft hypothetische momentane Ereignisse und Ursachen angenommen werden müssen, wenn sich keine anderen finden lassen. Die molare Sichtweise auf das Verhalten dagegen betrachtet eher den Verhaltensstrom und ausgedehnte Ereignisse. Die molare Sichtweise geht zurück auf Baum und Rachlin (1969, PDF 1,74 MB), ausgearbeitet von Baum (1973, PDF 2,71 MB). Baum (2003) erläutert die Unterschiede zwischen den beiden Sichtweisen.

Ein Beispiel für den Unterschied zwischen molekularer und molarer Sichtweise ist die Betrachtung von Münzwürfen. Die molekulare Sichtweise fragt, warum dieser eine Münzwurf „Kopf“ oder „Zahl“ ergeben hat und sucht nach Ursachen in der unmittelbaren Situation. Nur die molare Sichtweise kennt dagegen das Konzept der Wahrscheinlichkeit. Bei einem einzelnen Münzwurf ist es unsinnig, zu sagen, der Wurf ergebe mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,5 „Kopf“. Betrachtet man aber viele Münzwürfe über die Zeit hinweg, dann ist es sehr wohl sinnvoll, eine Wahrscheinlichkeit anzugeben.

Der Begriff der „Auftretenswahrscheinlichkeit“ eines Verhaltens ist nur dann sinnvoll, wenn man den Verhaltensstrom über die Zeit hinweg betrachtet. Ebenso ist die Wahrscheinlichkeit, beim Würfeln eine „6“ zu bekommen nur dann ein Sechstel, wenn man viele Würfe hintereinander betrachtet.

Aus molekularer Sicht heraus ist jede einzelne Verhaltensweise ein einzelnes Vorkommnis, die Häufigkeit des Verhaltens ist eine abgeleitete Größe. Aus molarer Sicht ist es genau umgekehrt: Das Verhaltensmuster (die Verhaltenshäufigkeit) ist die konkrete Größe, die momentane Handlung ist das Abstrakte. Die Verhaltenshäufigkeit existiert als ein Muster des Verhaltens über die Zeit hinweg. Da jedes Verhalten Zeit braucht, ist die Idee einer Verhaltensweise zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Abstraktion, eine abgeleitete Vorstellung nach dem Ereignis. Zum Beispiel ist das Picken einer Taube auf eine Scheibe ein Verhaltensmuster über die Zeit hinweg, das den Bruchteil einer Sekunde dauert. Wie klein man den Zeitraum fasst und wie weit man das Picken in Unter-Handlungen aufteilt, ist eine Frage des Forschungsinteresses und nichts, was von Natur aus gegeben wäre.

Die molekulare Betrachtungsweise bedingt, dass Verstärker immer unmittelbar auf das Verhalten folgen müssen. Aus molarer Sicht sollten Verstärker mit den Verhaltensmustern, die sie verstärken, kovariieren. Die molekulare Sichtweise ist verbreiteter, denn ihr hilft das Vorurteil, dass Ursachen den Wirkungen immer unmittelbar vorausgehen müssen.

Um etwa Vermeidungsverhalten zu erklären, muss der molekulare Behaviorist auf eine Zwei-Faktoren-Theorie zurückgreifen. Es muss eine Vermeidungshandlung geben, auf die ein Verstärker folgt. Wenn es keinen Verstärker gibt, muss man einen erfinden, z. B. die Reduzierung der Angst vor dem vermiedenen Reizereignis. Angst ist jedoch ein Verhalten, sie kann nicht anderes (offenes) Verhalten (negativ) verstärken. Oft ist auch kein angstauslösender Reiz vorhanden, der durch das Vermeidungsverhalten beendet oder vermieden wird. Der molekulare Behaviorist muss nun auch diesen Reiz erfinden, etwa indem er ihn „im Geiste“ der Person vorhanden sein lässt.

Die molare Sichtweise auf das Vermeidungsverhalten ist eine andere. Vermeidungsverhalten tritt auf, weil während des Vermeidungsverhaltens die Häufigkeit des schädlichen Ereignisses geringer ist, als wenn das Vermeidungsverhalten nicht gezeigt wird. Menschen vermeiden z. B. sensible Themen in Gesprächen, um die Wahrscheinlichkeit, dass es zu peinlichen Situationen kommt, zu verringern. Menschen schließen Versicherungen ab, um die Wahrscheinlichkeit, dass sie finanzielle Härten erleiden müssen, zu verringern.

Ein anderes Beispiel, das den Unterschied zwischen der molekularen und der molaren Sichtweise auf das Verhalten verdeutlicht, ist das regelgeleitete Verhalten. Regelgeleitetes Verhalten ist ein Problem für den molekularen Behavioristen, weil es wegen der langfristigen Konsequenzen auftritt (z. B. jetzt lernen, um später die Prüfung zu bestehen). Aus Sicht des molekularen Behavioristen muss es also eine unmittelbar wirksame Konsequenz geben, die das Verhalten aufrechterhält. Mallott (2001, PDF 2,53 MB)

) z. B. nimmt an, dass Gedanken und Selbstbestrafungen das regelgeleitete Verhalten aufrechterhalten. Wir verhalten uns regelgeleitet, weil wir die unangenehmen Gedanken (z. B. das „schlechte Gewissen“), vermeiden oder beenden wollen, die mit dem Verzicht auf dieses Verhalten verbunden wären. Auch hier wird eine hypothetische unmittelbare Ursache erfunden, um das unmittelbare Verhalten zu erklären.

Aus molarer Sicht dagegen ist eine Regel ein diskriminativer Stimulus, der von einer Person erzeugt wird, die das Verhalten einer anderen Person kurzfristig verstärkt, wenn sie sich nach dieser Regel verhält (ich lerne und werde gelobt). Langfristig wird das Verhalten aufgrund der Wirkung der Regel an sich verstärkt (ich lerne und bestehe die Prüfung). Die Regel muss dafür nicht „internalisiert“ werden.

Verhalten beinhaltet immer eine Entscheidung, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt so und nicht anders zu verhalten. Aus molarer Sicht ist dieses Muster die interessierende Größe. Aus molekularer Sicht dagegen hat jedes Verhalten eine bestimmte Reaktionsstärke, die im Moment nicht beobachtbar ist. Gegenstand der molekularen Sicht ist das einzelne Verhalten. Die molare Sicht beschäftigt sich mit dem Verhaltensmuster. Eine nicht-beobachtbare Reaktionsstärke muss nicht angenommen werden.

Auch in praktischer Hinsicht ist die molare Sicht von Vorteil. Sie ermöglicht mehr Flexibilität in Hinsicht auf die Ziele und Behandlungsoptionen. Statt nach der Verhaltenshäufigkeit fragt man eher nach der Zeit, die auf bestimmte Verhaltensweisen verwendet wird. Man zählt also nicht Häufigkeiten sondern man misst die Zeit.

Literatur

Baum, William M. (2003). The molar view of behavior and its usefulness in behavior analysis. The Behavior Analyst Today, 4(1), 78-81.

PDF der Zeitschrift 1,42 MB

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Theory and Philosophy Conference

Anfang November 2012 besuchte ich die Theory and Philosophy ConferenceInn and Spa at Loretto, Santa Fe der Association for Behavior Analysis International in Santa Fe. Abgesehen davon, dass Santa Fe sehr nett ist, konnte ich auch einiges in Hinsicht auf das Konferenzthema für mich mitnehmen. Besonders haften geblieben sind mir die Beiträge von William Baum und Howard Rachlin. Beide vertreten den sogenannten molaren Ansatz der Verhaltenswissenschaft (mehr dazu später).

Beide betonen auch die Nähe der Verhaltensanalyse zur Biologie. Die Ähnlichkeit von operantem Konditionieren und der biologischen Evolution wird schon bei Skinner (1984) diskutiert (vgl. die Ausführungen zum „Selektionismus“ auf diesem Blog).

Baum betrachtet Verhalten explizit als phänotypische Plastizität. Ähnlich wie sich ein Chamäleon seiner Umgebung äußerlich anpasst, dient Verhalten dazu, sich der Umwelt anzupassen. Er betont den fließenden Übergang zwischen biologischer Evolution und der ontogenetischen Anpassung des Verhaltens. Oft kann man nicht letztgültig sagen, ob ein bestimmtes Merkmal „ererbt“ oder „erworben“ wurde, man wird aber feststellen können, dass es adaptiv ist.

Er bezieht sich auf Richard Dawkins, der Organismen als Behältnisse für die DNS betrachtet, die deren Überleben und Reproduktionserfolg dienen. Baum definiert: Organismen gibt es, damit sie sich verhalten können, damit sie die Umwelt, in der sie sich befinden, verändern / modifizieren können. Wir haben einen Körper, damit wir uns verhalten können.

Bei Rachlin sind mir vor allem seine Bemerkungen zur Wahrnehmung haften geblieben. Verhaltensanalytiker betrachten Wahrnehmung als Verhalten. Wir sehen nur dann etwas bewusst, wenn wir uns gegenüber diesem Wahrgenommenen verhalten können. Die Gefangenen in Platos Höhlengleichnis würden nichts wahrnehmen, wenn sie von Geburt an in dieser Höhle waren.

Literatur

Skinner, B.F. (1984). Selection by consequences. The Behavioral and Brain Sciences, 7(4), 477-510.

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Wie sehbehinderte Kinder Münzen unterscheiden lernen

Durch ein strukturiertes Training auf verhaltensanalytischer Grundlage lernten zwei sehbehinderte Kinder, wie sie Münzen anhand ihrer Größe und der Riffelung am Rand der Münze unterscheiden können. Ein Einblick in die Art und Weise wie Verhaltensanalytiker arbeiten.

US-amerikanische Münzen unterscheiden sich durch

  • ihre unterschiedliche Größe,
  • das aufgeprägte Motiv und
  • eine vorhandene oder nicht vorhandene Riffelung an ihren Rändern.

Diese Münzen haben einen Wert (1, 5, 10 und 25 Cent) und eigene Namen (Penny, Nickel, Dime und Quarter). Die Unterscheidung und richtige Benennung dieser Münzen ist nicht ganz einfach, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann. Es dauert eine Weile, bis man in der Lage ist, beim Bezahlen an der Supermarktkasse die richtigen Münzen aus dem Portemonnaie zu fischen oder eine Münze richtig zu benennen. Besonders nervig fand ich die Unterscheidung zwischen Nickel und Dime. Was war noch mal das 5-Cent- und was das 10-Cent-Stück? Erschwerend kommt hinzu, dass die vom Wert her kleinere Nickel-Münze größer ist als ein Dime. Üblicherweise hat man das am Ende eines mehrwöchigen USA-Urlaubes mehr oder weniger gut gelernt. Schwerer aber ist diese Aufgabe für blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder, selbst wenn sie Einheimische sind.

Schon Miller und Kollegen (1977) konnten mittels verhaltensanalytischer Trainingsmethoden 14 geistig behinderten Kindern beibringen, die amerikanischen Münzen zu erkennen. Sie waren auch noch vier Wochen nach dem Training in der Lage, die Münzen, wenn sie ihnen gezeigt wurden, richtig zu benennen und umgekehrt, auf die richtige Münze zu zeigen, wenn sie den Namen der Münze hörten.

Nicole Hanney und Jeffrey Tiger (2012) trainierten diese Unterscheidungsleistung mit zwei hochgradig sehbehinderten Kindern. Maddie war ein sechsjähriges, intellektuell normal entwickeltes Mädchen, Chris ein achtjähriger Junge mit einer leichten Entwicklungsverzögerung. Hochgradig sehbehinderte Menschen können nur zwei der oben genannten drei Merkmale zur Unterscheidung der Münzen nutzen, die Größe und die Riffelung am Rand der Münze; das aufgeprägte Motiv können sie nicht ertasten. Gerade für sehbehinderte und blinde Menschen ist es sehr wichtig, die Münzen zuverlässig und schnell zu unterscheiden. Diese Fähigkeit ist mit-entscheidend für ihre Selbständigkeit im Alltag. Selber bezahlen zu können und zu wissen, dass man beim Bezahlen nicht übers Ohr gehauen wird, macht viel aus.

Ein Vortest

Zunächst prüften Hanney und Tiger, ob die Kinder überhaupt in der Lage waren, die unterschiedliche Größe und das Vorhandensein der Riffelung am Rand der Münze festzustellen. Entgegen der landläufigen Meinung haben blinde nicht per se ein besseres Tastvermögen als normalsehende Menschen. Diese sensorische Voraussetzung für die Unterscheidungsleistung war bei beiden Kindern gegeben.

Größe und Riffelung zuverlässig erkennen können

Diese Unterscheidungsleistung wurde anschließend trainiert. Zunächst wurde die Unterscheidung nach der Größe geübt. Der Therapeut legte den Kindern hierzu zwei unterschiedlich große Münzen auf die Handfläche und forderte sie auf, ihm die kleinere oder die größere Münze zu geben. Wenn dies gelang, ließ der Therapeut eine Murmel in ein Glas fallen, was ein Geräusch erzeugte. Das Kind konnte die Murmeln anschließend für eine bevorzugte Freizeitaktivität eintauschen, eine Murmel entsprach 30 Sekunden Zugang zu dieser Aktivität. Man nennt ein solches Verfahren, bei dem ein Gegenstand, ein Gutschein oder Punkte gegen einen positiven Verstärker eingetauscht werden kann, ein Tokensystem. Wenn das Kind nicht die richtige Münze aushändigte, wurde es vom Therapeuten entsprechend korrigiert. Ähnlich liefen die Übungseinheiten für das Unterscheiden der Riffelung ab. Das Kind musste dabei von zwei Münzen immer diejenige vorweisen, die entweder eine Riffelung oder keine Riffelung hatte. Die Übungseinheiten wurden so lange wiederholt, bis das Kind in der Lage war, die Unterscheidung schnell und zuverlässig („flüssig“, engl. fluent) zu erbringen.

Die Münze zeigen können, wenn ihr Name genannt wird

Anschließend wurde die Zuordnung der Münzen zu ihren Namen (Name der Münze – Münze) trainiert. Jede Übungseinheit begann mit der Aufforderung „Finde den [Namen der Münze]!“ Bei den ersten Sitzungen lag jeweils nur eine einzige Münze (die Münze, die es „finden“ musste) vor dem Kind auf dem Tisch. Das Kind konnte so natürlich keine Fehler machen (errorless teaching procedure). Für jede richtige Antwort (wenn das Kind die richtige Münze in die Hand nahm und dem Therapeuten übergab) wurde es gelobt und bekam wie oben beschrieben eine Murmel. Sobald dies gut (fluent) gelang, wurde die Aufgabe verändert: Nun lag neben der verlangten Münze immer noch zusätzlich eine zweite Münze auf dem Tisch. Auch jetzt wurde das Kind immer dann gelobt und erhielt eine Murmel, wenn es dem Therapeuten die richtige Münze übergab. Die Übungseinheiten wurden wiederum so lange wiederholt, bis die Unterscheidungsleistung flüssig gelang. Nun wurden nach und nach mehr Münzen auf den Tisch gelegt, bis das Kind auch dann, wenn alle vier Münzsorten auf dem Tisch lagen, die (mit ihrem Namen) gefragte Münze vorzeigen konnte.

Die Münze zeigen können, wenn ihr Wert genannt wird

Anschließend wurde das Training für die Kombination „Wert der Münze – Münze“ in der gleichen Weise wiederholt. Der Therapeut fragte „Finde die [Zahlenwert der Münze]“ und das Kind erhielt Lob und eine Murmel, wenn es die richtige Münze vorzeigte. Auch diese Unterscheidungsleistung wurde so lange trainiert, bis sie flüssig gelang.

Nicht trainierte, letztlich aber doch gelernte Fähigkeiten

Aus der Forschung zum Sprachverhalten ist das Prinzip der „funktionellen Unabhängigkeit“ bekannt. Wenn ein Kind beispielsweise lernt, dass es Milch bekommt, wenn es Durst hat und „Milch!“ sagt (das Wort „Milch“ wird hier als sogenanntes Mand verwendet), dann heißt das noch lange nicht, dass das Kind auch „Milch“ sagt, wenn man ihm Milch zeigt (das Wort „Milch“ wird hier als Tact verwendet). Auch wenn es das Wort Milch sowohl als Mand als auch als Tact verwenden kann, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass es auf die Milchpackung deuten kann, wenn man es fragt, wo auf dem Frühstückstisch die Milch steht. Normaler- und natürlicherweise geschieht das Erlernen dieser Relationen so schnell (und „nebenher“), dass die Eltern nicht bemerken, dass das Kind hier eigentlich mehrere verschiedene Verhaltensweisen jeweils individuell erwerben muss. In Extremfällen (etwa bei einigen geistig behinderten Kindern) müssen – und können! – aber tatsächlich alle Relationen einzeln geübt und erlernt werden. Mehr zum Thema in dem Wikipedia-Artikel zu B. F. Skinners Buch Verbal Behavior.

Bei Maddie und Chris war es nicht erforderlich, auch die anderen Relationen explizit zu trainieren. Bislang hatten sie ja beide nur gelernt, die Münzen zu zeigen, wenn ihnen der Name oder der Wert der Münze genannt wurde. Was sie nicht trainiert hatten, war

  • den Namen der Münze zu sagen, wenn ihnen die Münze in die Hand gegeben wurde.
  • den Wert der Münze zu sagen, wenn ihnen die Münze in die Hand gegeben wurde.
  • den Namen der Münze zu sagen, wenn sie den Wert der Münze hörten (Bsp.: „Ein 25-Cent-Stück nennt man auch wie?“).
  • den Wert der Münze zu sagen, wenn sie den Namen der Münze hörten (Bsp.: „Ein Quarter ist wie viel wert?“).

Diese Fähigkeiten wurden im Lauf der ganzen Untersuchung immer wieder getestet (d. h. die Kinder wurden gefragt, bekamen aber für die richtige Antwort kein Lob oder eine Murmel). Zu Beginn konnten die Kinder diese Fragen kaum beantworten (sie antworteten nicht oder errieten die Antwort). Über die Trainingseinheiten hinweg stieg der Prozentsatz der richtigen Antworten jedoch schnell an. Auch Maddie und Chris konnten also die anderen Relationen auf natürliche Weise, ohne explizites Training erlernen.

Der Erfolg des Trainings hält an

Das Training zog sich über insgesamt 12 (bei Maddie) respektive 18 (bei Chris) Sitzungen hin. Fünf Monate nach dem Ende des Trainings wurde bei Maddie getestet, ob sie noch in der Lage war, die verschiedenen trainierten und nicht-trainierten Unterscheidungsleistungen zu erbringen. Dies gelang ihr zu nahezu 100 %. Zu vermuten ist, dass sie die im Training erlernten Fähigkeiten nun auch nutzbringend im Alltag einsetzen konnte.

Ein aufwändiges Training?

Ein solches Training klingt relativ aufwändig, wenn man bedenkt, dass viele Kinder diese Unterscheidungsleistung ohne oder nur mit wenig explizitem Training erwerben. Jedoch ist dies nicht immer so und bei blinden und hochgradig sehbehinderten Kindern nicht die Regel. Diese müssen das Unterscheiden und Benennen der Münzen oft lange und umständlich lernen. Vor diesem Hintergrund relativiert sich der Aufwand für das beschriebene Training. Zudem ist der Aufwand für einen in den Methoden der Verhaltensanalyse geschulten Therapeuten nicht so groß, wie man denken mag. Üblicherweise dauern solche Sitzungen nur wenige Minuten und sind weder für den Therapeuten noch für das Kind besonders anstrengend. Im Gegensatz zum oft zähen und durch Strafen und negative Verstärkung gekennzeichneten traditionellen Schulunterricht wirkt verhaltensanalytisches Lehren und Lernen spielerisch.

Literatur

Hanney, Nicole M. & Tiger, Jeffrey H. (2012). Teaching coin discrimination to children with visual impairments. Journal of Applied Behavior Analysis, 45(1), 167-172. PDF 336 KB

Miller, M. Ann; Cuvo, Anthony J. & Borakove, Larry S. (1977). Teaching naming of coin values comprehension before production versus production alone. Journal of Applied Behavior Analysis, 10(4), 735–736. PDF 149 KB

Warum stelle ich gerade diese Studie so ausführlich vor?

Diese Studie ist weder besonders groß angelegt, noch vom Ergebnis her sensationell. Es ist einfach ein kleiner Forschungsbericht wie viele andere auch. Warum habe ich sie hier so ausführlich vorgestellt? Zum einem aus persönlichem Interesse: Ich habe über sieben Jahre lang mit (erwachsenen) blinden und sehbehinderten Menschen gearbeitet. Das Thema lässt einen dann nie mehr ganz los. Zum anderen wollte ich anhand dieser Studie einige Prinzipien der verhaltensanalytischen Vorgehensweise illustrieren und auch einen kleinen Einblick in übergeordnete Themen (sprachliches Verhalten, Spracherwerb, funktionelle Unabhängigkeit) geben. Die Studie von Hanney und Tiger erschien im Journal of Applied Behavior Analysis (JABA), das zusammen mit dem Journal of the Experimental Analysis of Behavior (JEAB) zu den wichtigsten Zeitschriften in der Welt der Verhaltensanalyse zählt. Es handelt sich nur um einen (x-beliebigen) aus Tausenden von Artikeln, die seit Jahrzehnten die wissenschaftlichen Grundlagen und die Wirksamkeit der angewandten Verhaltensanalyse dokumentieren.

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Eingeordnet unter Pädagogik, Verhaltensanalyse, Verstärkung

„Tauben, die Bomben lenken“ – definitiv tödlicher als „Männer, die auf Ziegen starren“

B. F. Skinner (1960) trainierte während des 2.Weltkriegs Tauben, sodass diese eine Flugbombe vom Typ „Pelican ins Ziel lenken konnten (Project Pigeon). Die Tauben lernten, das Bild eines Kriegsschiffes zu erkennen und durch ihr Picken eine Flugbombe so zu steuern, dass sie direkt auf dieses Ziel hinsteuerte. Das Projekt war erfolgreich, wurde aber nicht umgesetzt, da die zuständigen Militärs ihre Bomben nicht den angeblich dummen Vögeln anvertrauen wollten.

Ein gut gemachtes, kurzes Video über B. F. Skinners Tauben, die Bomben lenken konnten.

Skinner hatte bei seiner Arbeit an Project Pigeon im Jahr 1943 das Shaping – das willkürliche Formen von Verhalten – entdeckt (Peterson, 2004). Er und seine Mitarbeiter brachten einer Taube „von Hand“, d. h. durch Betätigung der Füttervorrichtung per Hand (nicht automatisch) das Kegeln mit einer kleinen Holzkugel bei. Dies war eine echte Überraschung für Skinner, der zwar schon ein solches Experiment beschrieben hatte, bislang aber nur Shaping, das durch eine Vorrichtung in der Box erzeugt wurde, untersucht hatte. Insbesondere wurde Skinner dabei bewusst, dass der Versuchsleiter und die Taube eine Art Sprachgemeinschaft bilden. Von diesem „Tag der Erleuchtung“ gingen daher auch wichtige Impulse für die Arbeit an Verbal Behavior aus.

Auf die Tauben als Versuchstiere war Skinner wohl nur gekommen, weil sie in der Mühle, in der er mit seinem von den US-Streitkräften nur sparsam finanzierten Projekt residieren musste, ständig ein- und ausflogen. Skinner blieb der Taube als Versuchsobjekt anschließend treu. Die meisten „rattenpsychologischen“ Experimente sind eigentlich „taubenpsychologische“ (Bjork, 1997).

Vgl. auch den Beitrag auf dem Blog des „Smithsonian“ vom 18.8.2011.

Mehr zum Thema im Cybernetic Zoo.

Literatur

Bjork, D. W. (1997). B. F. Skinner. A life. Washington, DC: American Psychological Association.

„Hunde, die Auto fahren“

Ebenfalls schön finde ich diesen BBC-Beitrag:

http://www.bbc.co.uk/news/world-asia-20614593

Auch dies ist ein Resultat der Anwendung der Erkenntnisse der Verhaltensanalyse.

Im Übrigen wurden viele Prinzipien der Verhaltensanalysen schon vor ihrer wissenschaftlichen Erforschung von Praktikern beschrieben.  Burch und Pickel (2004) erwähnen z. B. den Saarbrücker Polizeikommissar Konrad Most (1910), der viele verhaltensanalytische Prinzipien der Tierdressur in seinem Buch „Abrichtung des Hundes: Individuell und ohne Strafen“ vorwegnahm.

(Danke an die Autoren der Mailingliste Teaching Behavior Analysis für die Hinweise auf die Videos).

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11/01/2013 · 19:34

Für wissenschaftlich fundierte Pädagogik, gegen Esoterik

Gibt’s das eigentlich, „wissenschaftlich fundierte Pädagogik“? – Das Lehren scheint noch immer mehr als eine Kunst betrachtet zu werden. Anthroposophen dagegen machen die Pädagogik zur Esoterik. Gegen den Versuch, das staatliche Bildungssystem zu unterwandern, wendet sich eine Petition der Skeptiker.

Pädagogik wird in Deutschland noch meistenteils wie eine Geisteswissenschaft betrieben. Man kann aber auch mit den Methoden der Erfahrungswissenschaften erforschen, ob eine bestimmte Lehrmethode erfolgreich ist oder nicht. Verhaltensanalytisch fundierte Lehrmethoden sind vielfach empirisch auf ihre Wirksamkeit geprüft worden, d. h.

  • Ob sie dazu führen, dass die Schüler schneller und besser lernen,
  • ob die Kinder auch sonst – emotional, in Hinsicht auf ihre Persönlichkeitsentwicklung usw. – profitieren und
  • ob die Schüler und deren Eltern mit diesen Lehrmethoden zufrieden sind.

In allen Bereichen schnitten die verhaltensanalytischen Methoden besser ab als die anderen getesteten Lehrmethoden. In den siebziger Jahren fand eine große Studie zum Thema statt, bei der auch die verhaltensanalytisch fundierte Methode der direct instruction mit anderen Methoden verglichen wurde.

  • In den Vereinigten Staaten wurde 1967 eine groß angelegte Studie gestartet, deren Zweck es war, geeignete Methoden zu finden, um diese Lücke zu schließen: Project Follow Through. Es handelt sich um die größte, je durchgeführte Studie zum Vergleich der Effektivität verschiedener Unterrichtskonzepte. 700 000 Schüler in 170 Gemeinden der USA nahmen daran teil. Es handelte sich um eine experimentelle Studie: Die Eltern der Schüler an den verschiedenen Schulen konnten entscheiden, welches von 22 zur Wahl stehenden Modellen an ihrer Schule umgesetzt werden sollte. Die Schule wurde dann mit einer anderen Schule verglichen, in der das Modell nicht eingeführt wurde, die aber ansonsten in allen denkbaren Parametern der Experimentalschule entsprach. Letztlich wurden so 12 verschiedene Modelle getestet, darunter vier kind-zentrierte Pädagogik-Konzepte und die direkte Instruktion (Direct instruction), welche von vielen Eltern bevorzugt wurde und allein in 18 Schuldistrikten getestet wurde. 1977 wurden die Ergebnisse verglichen. Zum Einsatz kamen dabei neben verschiedenen Schulleistungs- und Intelligenztests auch Erhebungsverfahren für die emotionale Reife und die soziale Kompetenz der Schüler. Dabei zeigte sich, dass die direkte Instruktion in allen Bereichen (auch den emotionalen und sozialen) den anderen Konzepten und natürlich auch dem traditionellen Unterricht deutlich überlegen war. (Verhalten.org)

Die Entscheidung, mit welchen Methoden unsere Kinder unterrichtet werden, hängt jedoch (leider, möchte man sagen) nicht nur von Forschungsergebnissen, sondern auch und vor allem von politischen und weltanschaulichen Vorstellungen ab.

  • Dies führte nun aber nicht dazu, dass die direkte Instruktion in vielen Schulen begeistert aufgenommen wurde. Noch bevor die Ergebnisse der Studie offiziell veröffentlicht wurden, meldete sich ein Sponsor der Studie, die Ford Foundation, mit einer Kritik zu Wort, die dazu führte, dass das Erziehungsministerium eine Blanko-Empfehlung für alle getesteten Verfahren herausgab (Watkins, 1995). Ein Kritiker (Glass, 1993) von Project Follow Through gab gar an, dass Lehrer keine statistischen Ergebnisse von Experimenten bräuchten, um entscheiden zu können, wie sie Kinder am besten unterrichten sollen: Eine Absage an wissenschaftliches Vorgehensweisen.

In Hamburg versucht man zurzeit, einer empirisch nicht fundierten, esoterischen Form der Pädagogik besondere Förderung zu verschaffen. Geplant ist, die erste staatliche Waldorfschule zu gründen. Bisher waren Waldorfschulen „freie“, d. h. private Schulen. Durch die staatliche Finanzierung und Verwaltung soll nun der Waldorfpädagogik (vgl. Jacob & Drewes, 2004; Wagner, 2012)  die höhere Weihe und Anerkennung verschafft werden, die ihr bisher noch fehlt. Und all das soll mit Steuergeldern finanziert werden.

Dagegen protestiert die Skeptikervereinigung GWUP:

  • Wir wünschen uns eine Schulbildung, in der man die Vielfalt der wissenschaftlichen Erkenntnis vermittelt wird, anstatt sich mit der Wiedergabe alter Mythen und Märchen zufriedenzugeben. Wir wünschen uns eine Schulbildung, die Kindern Freude und Staunen über eine Welt lehrt, die man untersuchen, erforschen und verstehen kann. Wir wünschen uns eine Schulbildung, in der Kinder ermutigt werden, sich selbst, ihre Lehrer und das bisher Erforschte zu hinterfragen, zu testen und zu korrigieren. Mit der Waldorfpädagogik sind diese Wünsche nicht vereinbar. Wir fordern daher eindringlich, vom geplanten Schulversuch Abstand zu nehmen und statt esoterischer Lehren ein aufgeklärtes, modernes, wissenschaftliches Weltbild ins Zentrum der Schulbildung zu stellen.

Mehr Informationen zur Waldorfpädagogik und die Möglichkeit zur Zeichnung der Petition finden Sie hier.

Literatur

Jacob, Sybille Christin & Drewes, Detlef. (2004). Aus der Waldorf-Schule geplaudert. Warum die Steiner-Pädagogik keine Alternative ist. Aschaffenburg: Alibri.

ISBN 3-932710-84-3

€ 14,50

Wagner, Irene. (2012). Rudolf Steiners langer Schatten. Aschaffenburg: Alibri.

ISBN 978-3-86569-069-2

€ 24,00

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Eingeordnet unter Pädagogik, Skepsis, Verhaltensanalyse

Wider die Neuro-Blender

Felix Hasler (2012) hat mit „Neuromythologie“ ein dringend notwendiges Buch vorgelegt, das sich an all jene wendet, die der Überzeugungskraft der bunten Bildchen der Neurowissenschaften erlegen sind. Die Neurowissenschaften gelten als die neuen Leitwissenschaften: Jede noch so banale These wird mit den Ergebnissen von Hirnscans belegt. Bei genauerer Betrachtung aber ist der Kaiser nackt.

Eine Frage an die Skeptiker: Wie nennt man eine Wissenschaft, deren Ergebnisse sich nicht reproduzieren lassen und deren Behauptungen oft unwiderlegbar (im Sinne Poppers) formuliert sind? Die sich unzuverlässiger Forschungsmethoden bedient, ihre Ergebnisse erst nach umfangreicher, extrem leicht manipulierbarer statistischer Aufbereitung gewinnt, zumeist ohne eine Ausgangshypothese gehabt zu haben, also nach der Methode des texanischen Scharfschützen? – So eine „Wissenschaft“ nennt man eine Pseudowissenschaft.

Hasler geht zwar nicht so weit, die Neurowissenschaften zu Pseudowissenschaften zu erklären, aber nach der Lektüre seines Buches ist dies die für mich angemessene Schlussfolgerung (zumindest für den Großteil der Neurowissenschaften). Er nennt sein Buch eine „Streitschrift“, dennoch ist es kein Pamphlet, sondern eine akribische Bestandsaufnahme, hundertfach mit Belegen untermauert. Er legt dar, dass man mit den Methoden der Hirnforscher (v. a. fMRT und PET) durchaus nicht „das Gehirn bei der Arbeit“ beobachten kann. Das, was die Scans zeigen, muss nicht nur interpretiert werden. Der Vorgang der Datengewinnung ist schon ausgesprochen fehleranfällig, ganz zu schweigen von der statistischen Auswertung (meine Meinung: Wo Statistik drin ist, kommt oft Humbug raus). Die Befunde, die produziert werden, sind entweder banal oder nicht replizierbar.

Ein noch größeres Problem als die Forschungsmethoden sind jedoch die Konzepte der Neurowissenschaften. Es scheint, als habe es über 100 Jahre Psychologie und vor allem die Verhaltensanalyse nie gegeben. Munter werden alltagspsychologische oder die mit ihnen korrelierenden „kognitiven“ Begriffe und Vorstellungen untersucht, ohne sich auch nur Gedanken zu machen, ob „Liebe“ und „Hass“ oder „soziale Wahrnehmung“ wirklich die angemessenen Untersuchungseinheiten für die bildgebenden Verfahren ist. Man sucht drauflos, in der Annahme, schon irgendwas im Hirn zu finden, dass „Liebe“ anzeigt.

Ich habe auf verhalten.org schon vor einigen Jahren die ebenfalls kritische Sicht der Verhaltensanalyse auf die kognitiven Neurowissenschaften wiedergegeben:

  • Eines der Hauptprobleme der kognitiven Neurowissenschaften liegt in der Übernahme ungeprüfter und unbeobachtbarer mentalistischer Konzepte (wie „mentales Vorstellen“). Die kognitiven Neurowissenschaften setzen gewissermaßen voraus, dass die „kognitiven Atome“ bereits entdeckt wurden. Aber es scheint in diesen PET-Experimenten unmöglich zu sein, eine Experimentalbedingung zu schaffen, die von der Kontrollbedingung durch nur eine Aktion des Gehirns unterschieden ist. Die kognitiven Neurowissenschaftler setzen aber voraus, dass es so eine Art Periodensystem der kognitiven Elemente gibt. Das Problem ist, dass man jeden der von den Kognitionswissenschaftlern angenommenen basalen Prozesse ohne weiteres in weitere Subprozesse aufspalten kann (wobei man sich fragen muss, welcher Sinn darin zu sehen ist, ein vages Konstrukt durch drei andere vage Konstrukte zu ersetzen). Bei weitem herrscht hier keine Einigkeit.

Seit etwa 30 Jahren neigt man im öffentlichen Diskurs immer mehr dazu, das Erleben und Verhalten des Menschen auf eine vermeintliche „biologische“ Grundlage zurückzuführen. Insbesondere hat die pharmazeutische Industrie ein großes Interesse daran, dass psychische Krankheiten als „Störungen des Neurotransmitterhaushaltes“ angesehen werden. Als solche können sie dann mit deren Produkten behandelt werden. Doch, wie auch Hasler aufzeigt, die Belege für die biologische Verursachung psychischer Erkrankungen (jenseits der schon lange offenkundig organisch bedingten Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson) sind null. Hasler – von Haus aus ein Dr. pharm. – widmet diesem Aspekt des Neuro-Hypes den weitaus größten Raum.

Die üble Verquickung von Genforschung, Neurowissenschaften und pharmazeutischer Industrie wurde 2006 in einem Themenheft der Zeitschrift Behavior and Social Issues diskutiert. Auf verhalten.org habe ich das zusammengefasst:

  • Die „biologische Psychiatrie“ geht davon aus, dass neurochemische Dysbalancen, genetische Defekte und andere biologische Phänomene Störungen wie die Schizophrenie, Depressionen, Angststörungen, Drogenmissbrauch und Aufmerksamkeitsdefizit verursachen. Obschon sie die öffentliche Meinung und die Fachöffentlichkeit beherrscht, ist die empirische Grundlage für diese Auffassung dünner als man annehmen möchte. Dasselbe gilt für die Form der Psychiatrie, die vor allem bis ausschließlich auf den Einsatz von Medikamenten setzt: Auch die spezifische Wirksamkeit vieler Psychopharmaka ist zweifelhaft.

Auf nur acht Seiten schneidet Hasler das Problem des „Neuro-Essenzialismus“ an („Bin ich mein Gehirn?“). Die philosophischen Aspekte des Neuro-Hypes, die Frage nach dem Bewusstsein und der Willensfreiheit, sind gerade aus dem Blickwinkel des radikalen Behaviorismus sehr spannend. Hier hätte ich mir mehr „Futter“ erhofft. Ich werde dieses Thema in einem späteren Blogbeitrag aufgreifen.

Alles in allem: Ein Buch, dem ich viele Leser wünsche.

Hasler, Felix. (2012). Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld: transcript Verlag.

ISBN 978-3-8376-1580-7

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Einige kritische Anmerkungen zur Wissenschaftlichkeit in der Psychologie

Murray Goddard (2009) zeigt an etlichen Beispielen auf, wie schwer es gute Forschung in der Psychologie hat, wenn ihre Ergebnisse dem „gesunden Menschenverstand“ widersprechen und wie leicht plausibler Unfug Verbreitung findet. Im besonderen Maße leidet die Verhaltensanalyse unter diesen Umständen: Der radikale Behaviorismus widerspricht oft dem, was Laien für selbstverständlich halten. Die kognitive Psychologie tut sich leichter: Viele ihrer Konzepte sind lediglich die in eine wissenschaftlich klingende Sprache übersetzten Begriffe der Vernacular, der Alltagssprache.

Peters und Ceci (1982) reichten zwölf Artikel, die in den letzten 18 bis 32 Monaten in psychologischen Fachzeitschriften veröffentlicht worden waren, erneut bei diesen Zeitschriften ein, jedoch unter einem anderen, unbekannten Namen (z. B. „Dr. Wade M. Johnston vom Tri-Valley Center for Human Potential“). Nur bei drei Artikeln wurde der Umstand, dass derselbe Artikel schon mal erschienen war, überhaupt bemerkt. Bei den anderen neun Artikeln sprachen sich 16 der 18 Gutachter gegen die Veröffentlichung aus. Zumeist wurden „schwere methodische Fehler“ als Grund für die Ablehnung genannt. Der Anteil der abgelehnten Artikel ist in der Psychologie mit rund 75 % höher als in den meisten anderen Disziplinen (in der Physik liegt diese Quote bei etwa 25 %, so Cole, 2000). Goddard (2009) vermutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein eingereichter Artikel veröffentlicht wird, in der Psychologie mehr davon abhängt, ob und wo der Autor bislang veröffentlicht hatte und weniger davon, wie gut oder schlecht der Artikel tatsächlich ist. Doch selbst wenn Artikel anonym eingereicht werden müssen, schützt dies nicht vor Verzerrungen. Goddard (2009) nennt etliche Beispiele:

Ein plausibles Studienergebnis wird mit höherer Wahrscheinlichkeit veröffentlicht als ein kontraintuitives. So wurde etwa Milgrams (1963) berühmtes Gehorsamsexperiment zunächst von zwei Fachzeitschriften abgelehnt, ehe es veröffentlicht werden konnte. Auch die Versuche von Garcia und Kollegen (Garcia & Koelling, 1966; Garcia, Ervin & Koelling, 1966) wurden erst abgelehnt. Die Versuche belegen, dass sich Abneigungen gegen Geräusche eher durch elektrische Schocks und Abneigungen gegen Speisen eher durch Geschmacksreize konditionieren lassen und dass sich letztere auch bei zeitliche Abständen von einer Stunde und mehr zwischen dem Geschmacksreiz und dem Auftreten von Übelkeit konditionieren lassen. Zudem werden Geschmacksaversionen auch dann klassisch konditioniert, wenn sich die Person darüber im Klaren ist, dass die entsprechende Speise nicht die Ursache der Übelkeit ist. Dies ist z. B. bei der Chemotherapie der Fall. Nahrungsmittel, die die Person vor der Chemotherapie gegessen hat (z. B. Speiseeis), werden danach als ekelerregend wahrgenommen, auch wenn der Patient weiß, dass die Übelkeit durch die Chemotherapie und nicht durch das Nahrungsmittel ausgelöst wurde (Carey & Burish, 1988).

In einer Metaanalyse von Rind, Tromovitch und Bauserman (1998) konnte gezeigt werden, dass nur wenige Menschen, die nach ihren Angaben als Kind sexuell missbraucht worden waren, als Erwachsene eine psychische Störung entwickeln (die Korrelationen lagen deutlich unter 0,14). Obwohl sie methodisch einwandfrei ist, rief die Metaanalyse heftige Kritik hervor. In der in den USA populären Radiosendung „Dr. Laura“ wurde der Artikel als pseudowissenschaftlich (junk science) diffamiert. Dr. Laura zweifelte die Motive der Autoren an und schlug vor, dass Studienergebnisse, die dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufen, als falsch angesehen werden sollten. Eine solche Aussage, der nach Goddards Ansicht (2009) die meisten Menschen zustimmen würden, macht jegliche Bemühungen um gute Forschungsmethoden (z. B. den Einsatz von Kontrollgruppen, die experimentelle Verblindung) obsolet. Ähnlich argumentieren auch die Anhänger der Paramedizin: Homöopathie und andere Verfahren „wirkten“ doch augenscheinlich. Wenn in wissenschaftlichen Studien herauskäme, dass diese Wirkung nur auf einem Placeboeffekt beruhe, dann seien diese Forschungen irrelevant. Auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens verschafft sich der „Erfahrungsfundamentalismus“ („ich habe erlebt, dass es wirkt, also müssen die Forschungsergebnisse falsch sein“) immer breitere Geltung. So wird bspw. von konservativen Politikern gerne behauptet, es sei doch selbstverständlich, dass härtere Strafen ein wirksames Mittel gegen kriminelles Verhalten seien. Diese Einschätzung ist vielleicht plausibel, sie lässt sich jedoch empirisch nicht belegen (Genderau, Smith & French, 2006). Sogenannte Boot Camps zeigen wenig Wirkung, aber sie entziehen den empirisch geprüften Methoden die notwendigen Ressourcen (Genderau, Goggin, Cullen & Andrews, 2000).

Auch die klinischen Praktiker (Therapeuten und Ärzte) kümmern  sich oft wenig um wissenschaftliche Erkenntnisse. So ist die Verhaltenstherapie mehrfach als die am besten empirisch geprüfte und effizienteste Methode zur Behandlung von Bulimie bei Erwachsenen empfohlen worden (Wilson, Grilo & Vitousek, 2007), dennoch wird sie in der Praxis kaum eingesetzt. Vielen Therapeuten ist es schlicht egal, was die Wissenschaft sagt.

In besonderem Maße ist die Verhaltenswissenschaft von dieser Bevorzugung „plausibler“ Forschungsergebnisse betroffen. Viele Erkenntnisse sind kontraintuitiv. Auch hier nennt Goddard (2009) einige Beispiele:

Hildum und Brown (1956) konnten in Telefoninterviews die Aussagen der Angerufenen dadurch beeinflussen, dass sie auf bestimmte Äußerungen (in denen die Angerufenen Ausgaben für die Bildung entweder befürworteten oder ablehnten) mit dem Wort „gut“ reagierten, auf andere aber nicht. Mit der Zeit häuften sich die Aussagen, auf die der Interviewer mit „gut“ reagierte, d. h. die Angerufene äußerte sich häufiger positiv (oder negativ) bezüglich der Ausgaben für die Bildung. Die Angerufenen waren sich dessen nicht bewusst und bestritten, durch die Reaktionen des Interviewers in ihren „Meinungen“ beeinflusst worden zu sein.

Wilson und Nisbett (1978) ließen ihre Versuchspersonen Wortpaare lernen (z. B. „Beeren – lila“ oder „Ozean – Mond“). Diese Lernerfahrung hatte Einfluss darauf, welche Antworten die Probanden anschließend in einem Test gaben. Probanden, die „Beeren – lila“ gelernt hatten, gaben z. B. auf die Frage welche Frucht ihnen als erstes einfällt, doppelt so häufig wie die anderen Versuchspersonen die Antwort „Trauben“. Das Gleiche galt für Probanden, die u. a. „Ozean – Mond“ gelernt hatten. Sie antworteten auf die Frage, welches Waschmittel ihnen als erstes einfällt, meist mit „Tide“ (englisch für „Flut“ – eine in den USA verbreitete Marke).

Auch im Bereich des Lernens am Modell (Imitationslernen) gibt es unerwartete Befunde. Phillips (1983) fand etwa, dass die Mordrate in den USA im Anschluss an Boxkämpfe um 10 % anstieg. Zudem scheint nicht nur die Art, wie sich Menschen umbringen, sondern auch die absolute Zahl an Suiziden, mit den in den Medien publizierten Fällen zu korrelieren (sog. Werther-Effekt), was man bedenken sollte wenn wieder mal über den Suizid eines Prominenten berichtet wird (Phillips, 1980).

Literatur

Carey, M. P. & Burish, T. G. (1988). Etiology and treatment of the psychological side effects associated with cancer chemotherapy: A critical review and discussion. Psychological Bulletin, 104(3), 307-325.

Cole, S. (2000). The role of journals in the growth of scientific knowledge. In B. Cronin & H. Barsky Atkins (Eds.), The web of knowledge: A festschrift in honor of Eugene Garfield (pp. 109-142). Medford, NJ: Information Today.

Garcia, J.; Ervin, F. R. & Koelling, R. A. (1966). Learning with prolonged delay of reinforcement. Psychonomic Science, 5, 121-122.

Garcia, J. & Koelling, R. A. (1966). The relation of cue to consequence in avoidance learning. Psychonomic Science, 5, 123-124.

Gendreau, P.; Goggin, C.; Cullen, F. T. & Andrews, D. A. (2000). Does “getting tough” with offenders work? The effects of community sanction and incarceration. Forum on Correctional Research, 12, 10-13.

Gendreau, P.; Smith, P. & French, S. A. (2006). The theory of effective correctional intervention: Empirical status and future directions. In F. T. Cullen, J. P. Wright, & K. R. Blevins (Eds.), Taking stock: The status of criminological theory (pp. 419-446). Piscataway, NJ: Transaction Publishers.

Goddard, Murray J. (2009). The impact of human intuition in psychology. Review of General Psychology, 13(2), 167-174.

Hildum, Donald C. & Brown, Roger W. (1956). Verbal reinforcement and interviewer bias. Journal of Abnormal and Social Psychology, 53(1), 108-111.

Milgram, S. (1963). Behavioral study of obedience. Journal of Abnormal and Social Psychology, 67, 371-378.

Peters, Douglas & Ceci, Stephen J. (1982). Peer-review practices of psychological journals: The fate of published articles, submitted again. Behavioral and Brain Sciences, 5(2), 187-255.

Phillips, D. P. (1980). Airplane accidents, murder, and the mass media: Towards a theory of imitation and suggestion. Social forces, 58, 1001-1024.

Phillips, D. P. (1983). The impact of mass media violence in U.S. homicides. American Sociological Review, 48, 560-568.

Wilson, G. T., Grilo, C. M., & Vitousek, K. M. (2007). Psychological treatment of eating disorders. American Psychologist, 62, 199-216.

Wilson, T. D., & Nisbett, R. E. (1978). The accuracy of verbal reports about the effects of stimuli on evaluations and behavior. Social Psychology,41, 118-131.

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Eingeordnet unter Psychologie, Skepsis, Verhaltensanalyse

Albert und Peter

Beim Bericht über die „Wahrheit über den kleinen Albert“ erwähnte ich, dass das Experiment von Watson und Rayner (1920) trotz seiner vielen Fehler zu den späteren Erfolgen der Verhaltenstherapie beitrug. Die wichtigsten Anwendungen der Verhaltenswissenschaften basieren auf dem operanten Konditionieren. Aber auch die Forschung zur klassischen  Konditionierung, die unter anderem Pawlow und Watson betrieben,  war der Ausgangspunkt für therapeutische Anwendungen.

Die Vorgänge beim klassischen Konditionieren spielen eine große Rolle in der Therapie von Phobien. Watson und Rayner (1920) induzierten mittels der klassischen Konditionierung eine phobische Reaktion auf Ratten bei einem 11 Monate alten Jungen („Albert“), indem sie jedes Mal, wenn sich eine Ratte in der Nähe befand, durch ein lautes Geräusch eine Schreckreaktion bei Albert auslösten. Binnen kurzen zeigte Albert, der zuvor mit den Ratten gespielt hatte, alle Anzeichen der Angst, sobald sich eine Ratte zeigte.

Mary Cover Jones (1924a; 1924b) wiederum konnte durch Techniken auf der Grundlage des klassischen Konditionierens die Angst vor Kaninchen bei einem dreijährigen Jungen („Peter“) therapieren. Jedes Mal, wenn sich ein Kaninchen in Peters Sichtfeld befand, erhielt das Kind Kekse und Milch. Nach und nach wurde der Abstand zwischen Peter und dem Kaninchen verkleinert, sodass das Kind zuletzt dasaß, Kekse aß, Milch trank und dabei das Kaninchen streichelte. Man bezeichnet diese Form der Therapie von Phobien als Gegenkonditionierung.

Literatur

Jones, M. C. (1924a). The elemination of children’s fears. Journal of Experimental Psychology, 7, 382-390.

Jones, M. C. (1924b). A laboratory study of fear: The case of Peter. Pedagogical seminary, 31, 308-315.

Watson, J. B. & Rayner, R. (1920). Conditioned emotional reactions. Journal of Experimental Psychology, 3, 1-4.

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