Wider die Neuro-Blender

Felix Hasler (2012) hat mit „Neuromythologie“ ein dringend notwendiges Buch vorgelegt, das sich an all jene wendet, die der Überzeugungskraft der bunten Bildchen der Neurowissenschaften erlegen sind. Die Neurowissenschaften gelten als die neuen Leitwissenschaften: Jede noch so banale These wird mit den Ergebnissen von Hirnscans belegt. Bei genauerer Betrachtung aber ist der Kaiser nackt.

Eine Frage an die Skeptiker: Wie nennt man eine Wissenschaft, deren Ergebnisse sich nicht reproduzieren lassen und deren Behauptungen oft unwiderlegbar (im Sinne Poppers) formuliert sind? Die sich unzuverlässiger Forschungsmethoden bedient, ihre Ergebnisse erst nach umfangreicher, extrem leicht manipulierbarer statistischer Aufbereitung gewinnt, zumeist ohne eine Ausgangshypothese gehabt zu haben, also nach der Methode des texanischen Scharfschützen? – So eine „Wissenschaft“ nennt man eine Pseudowissenschaft.

Hasler geht zwar nicht so weit, die Neurowissenschaften zu Pseudowissenschaften zu erklären, aber nach der Lektüre seines Buches ist dies die für mich angemessene Schlussfolgerung (zumindest für den Großteil der Neurowissenschaften). Er nennt sein Buch eine „Streitschrift“, dennoch ist es kein Pamphlet, sondern eine akribische Bestandsaufnahme, hundertfach mit Belegen untermauert. Er legt dar, dass man mit den Methoden der Hirnforscher (v. a. fMRT und PET) durchaus nicht „das Gehirn bei der Arbeit“ beobachten kann. Das, was die Scans zeigen, muss nicht nur interpretiert werden. Der Vorgang der Datengewinnung ist schon ausgesprochen fehleranfällig, ganz zu schweigen von der statistischen Auswertung (meine Meinung: Wo Statistik drin ist, kommt oft Humbug raus). Die Befunde, die produziert werden, sind entweder banal oder nicht replizierbar.

Ein noch größeres Problem als die Forschungsmethoden sind jedoch die Konzepte der Neurowissenschaften. Es scheint, als habe es über 100 Jahre Psychologie und vor allem die Verhaltensanalyse nie gegeben. Munter werden alltagspsychologische oder die mit ihnen korrelierenden „kognitiven“ Begriffe und Vorstellungen untersucht, ohne sich auch nur Gedanken zu machen, ob „Liebe“ und „Hass“ oder „soziale Wahrnehmung“ wirklich die angemessenen Untersuchungseinheiten für die bildgebenden Verfahren ist. Man sucht drauflos, in der Annahme, schon irgendwas im Hirn zu finden, dass „Liebe“ anzeigt.

Ich habe auf verhalten.org schon vor einigen Jahren die ebenfalls kritische Sicht der Verhaltensanalyse auf die kognitiven Neurowissenschaften wiedergegeben:

  • Eines der Hauptprobleme der kognitiven Neurowissenschaften liegt in der Übernahme ungeprüfter und unbeobachtbarer mentalistischer Konzepte (wie „mentales Vorstellen“). Die kognitiven Neurowissenschaften setzen gewissermaßen voraus, dass die „kognitiven Atome“ bereits entdeckt wurden. Aber es scheint in diesen PET-Experimenten unmöglich zu sein, eine Experimentalbedingung zu schaffen, die von der Kontrollbedingung durch nur eine Aktion des Gehirns unterschieden ist. Die kognitiven Neurowissenschaftler setzen aber voraus, dass es so eine Art Periodensystem der kognitiven Elemente gibt. Das Problem ist, dass man jeden der von den Kognitionswissenschaftlern angenommenen basalen Prozesse ohne weiteres in weitere Subprozesse aufspalten kann (wobei man sich fragen muss, welcher Sinn darin zu sehen ist, ein vages Konstrukt durch drei andere vage Konstrukte zu ersetzen). Bei weitem herrscht hier keine Einigkeit.

Seit etwa 30 Jahren neigt man im öffentlichen Diskurs immer mehr dazu, das Erleben und Verhalten des Menschen auf eine vermeintliche „biologische“ Grundlage zurückzuführen. Insbesondere hat die pharmazeutische Industrie ein großes Interesse daran, dass psychische Krankheiten als „Störungen des Neurotransmitterhaushaltes“ angesehen werden. Als solche können sie dann mit deren Produkten behandelt werden. Doch, wie auch Hasler aufzeigt, die Belege für die biologische Verursachung psychischer Erkrankungen (jenseits der schon lange offenkundig organisch bedingten Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson) sind null. Hasler – von Haus aus ein Dr. pharm. – widmet diesem Aspekt des Neuro-Hypes den weitaus größten Raum.

Die üble Verquickung von Genforschung, Neurowissenschaften und pharmazeutischer Industrie wurde 2006 in einem Themenheft der Zeitschrift Behavior and Social Issues diskutiert. Auf verhalten.org habe ich das zusammengefasst:

  • Die „biologische Psychiatrie“ geht davon aus, dass neurochemische Dysbalancen, genetische Defekte und andere biologische Phänomene Störungen wie die Schizophrenie, Depressionen, Angststörungen, Drogenmissbrauch und Aufmerksamkeitsdefizit verursachen. Obschon sie die öffentliche Meinung und die Fachöffentlichkeit beherrscht, ist die empirische Grundlage für diese Auffassung dünner als man annehmen möchte. Dasselbe gilt für die Form der Psychiatrie, die vor allem bis ausschließlich auf den Einsatz von Medikamenten setzt: Auch die spezifische Wirksamkeit vieler Psychopharmaka ist zweifelhaft.

Auf nur acht Seiten schneidet Hasler das Problem des „Neuro-Essenzialismus“ an („Bin ich mein Gehirn?“). Die philosophischen Aspekte des Neuro-Hypes, die Frage nach dem Bewusstsein und der Willensfreiheit, sind gerade aus dem Blickwinkel des radikalen Behaviorismus sehr spannend. Hier hätte ich mir mehr „Futter“ erhofft. Ich werde dieses Thema in einem späteren Blogbeitrag aufgreifen.

Alles in allem: Ein Buch, dem ich viele Leser wünsche.

Hasler, Felix. (2012). Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld: transcript Verlag.

ISBN 978-3-8376-1580-7

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Eingeordnet unter Kritik, Psychologie, radikaler Behaviorismus, Skepsis, Verhaltensanalyse

3 Antworten zu “Wider die Neuro-Blender

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