Gemeinhin geht man davon aus, dass der Umstand, ob man eine Äußerung als Gesprochenes oder Gesang wahrnimmt, alleine von den akustischen Merkmalen der Äußerung abhängt. Doch ist die Trennung von Sprache und Nicht-Sprache nicht so eindeutig, wie man meinen möchte. So fand man, dass nichtsprachliche Laute als Sprache interpretiert werden, wenn die Person entsprechend trainiert wurde (Remez et al., 1981; Mottonen et al., 2006) oder wenn die Laute in einem sprachlichen Kontext zu hören waren (Shtyrov et al., 2005).
Diana Deutsch (Deutsch et al., 2011) berichtet von einer akustischen Illusion, die aufzeigt, dass die Entscheidung, ob etwas gesprochen oder gesungen wurde, beim Hörer liegt. In einem ersten Experiment ließ sie ihre Versuchspersonen zehnmal die gleiche gesprochene Phrase hören (sometimes behave so strangely). Die erste und die letzte Wiederholung waren für alle Versuchspersonen identisch. Eine Gruppe von Versuchspersonen hörte nur identische Wiederholungen, die andere Gruppe hörte bei der zweiten bis zur neunten Darbietung Wiederholungen, die sich minimal in Betonung, Lautstärke usw. unterschieden. Die Versuchspersonen sollten auf einer Skala von eins bis fünf angeben, wie sehr die Wiederholungen jeweils nach Sprache (1=exakt wie Sprache) oder nach Gesang (5=exakt wie Gesang) klangen. Die Versuchspersonen, die immer die gleiche Wiederholung hörten, veränderten mit jeder Wiederholung ihr Urteil mehr und mehr in Richtung „klingt exakt wie Gesang“. Die zehnte Wiederholung klang für die Versuchspersonen dieser Gruppe eindeutig so, als ob sie gesungen würde. Dieser Effekt trat nicht auf, wenn die Wiederholungen nicht völlig identisch waren.
In einem zweiten Experiment hörten die Versuchspersonen eine Phrase entweder einmal oder zehnmal identisch wiederholt. Unmittelbar anschließend sollten die Versuchspersonen die Phrase so wiederholen, wie sie sie zuletzt gehört hatten. Die Versuchspersonen, die die Phrase nur einmal gehört hatten, sprachen diese, die Versuchspersonen, die sie zehnmal gehört hatten, sangen sie. Dies belegt, dass dieser Effekt nicht nur einer der Interpretation ist (man könnte die Phrase als Sprache oder als Gesang interpretieren), sondern, dass die Versuchspersonen die Phrase nach zehn identischen Durchläufen tatsächlich als Gesang hörten.
Ich vermute, dass diese Illusion etwas mit dem Wort- und Satzakzent zu tun hat. Die Wiederholungen bewirken, dass die bedeutungstragenden Merkmale der Phrase in den Hintergrund treten, der Akzent dagegen wird prominenter. Diesen Effekt macht sich auch die „Milk“-Übung in der Acceptance und Commitment Therapie (ACT) zunutze. Der Klient soll hier das Wort „Milk“ kurz hintereinander ganz oft sprechen, um dabei erleben zu können, wie das Wort am Ende gar nicht mehr nach „Milch“ klingt. Das, was wir mit Sprache verbinden, ist gelernt. Wenn wir ein sprachliches Verhalten ganz oft wiederholen, ohne dass die Funktionen, die Sprache ansonsten hat, zum Tragen kommen, entspricht dies einer Extinktion. Das, was nach der Löschung der erlernten Funktionen der Sprache übrigbleibt, ist nur Melodie und kein Sinn.
Diana Deutsch selbst vermutet, dass die Versuchspersonen, wenn sie Melodien in der Phrase hören, ihr Langzeitgedächtnis nach passenden Melodien durchsuchen. Deutschs Versuchspersonen gelang dies wohl leichter als anderen, da es sich ausschließlich um Personen handelte, die eine musikalische Ausbildung erhalten hatten. Sobald die Bedeutung des Gesprochenen wegfällt, gleicht sich der Höreindruck den bereits gelernten, passenden Melodien an.
Literatur
Deutsch, Diana et al. (2011). Illusory transformation from speech to song. Journal of the Acoustical Society of America, 129(4), 2245-2252. DOI: 10.1121/1.3562174
Möttönen, R.; Calvert, G. A.; Jaaskelainen, I. P.; Matthews, P. M.; Thesen, T.; Tuomainen, J.; & Sams, M. (2006). Perceiving identical sounds as speech or non-speech modulates activity in the left posterior superior temporal sulcus. Neuroimage 30(2), 563-569. DOI: 10.1016/j.neuroimage.2005.10.002
Remez, R. E.; Rubin, P. E.; Pisoni, D. B. & Carrell, T. D. (1981). Speech perception without traditional speech cues. Science, 212(4497), 947-949. DOI: 10.1126/science.7233191
Shtyrov, Y.; Pihko, E. & Pulvermuller, F. (2005). Determinants of dominance: Is language laterality explained by physical or linguistic features of speech? Neuroimage 27(1), 37-47. DOI: 10.1016/j.neuroimage.2005.02.003