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Dann heul doch!

Weinen ist einerseits so etwas wie ein Reflex, z. B. eine Reaktion auf starken Schmerz. Andererseits wird Weinen aber auch durch die Reaktion der Umwelt aufrechterhalten.

Es gibt relativ wenig verhaltensanalytische Forschung, die sich mit der funktionalen Analyse von emotionalem Verhalten beschäftigt (Hanley et al., 2003). Zumeist geht es dabei um Wutausbrüche und Schreien. Das Weinen wurde wenn, dann nur im Zusammenhang mit anderem Verhalten untersucht. Hinzu kommt, dass emotionales Verhalten von Verhaltensanalytikern zumeist als respondent angesehen wird, d. h. als vornehmlich durch auslösende Ereignisse (z. B. Schmerz) determiniert, nicht als operant (durch Konsequenzen geformt). Dabei ist die Funktion des Weinens, die Aufmerksamkeit anderer zu erlangen, wohl bekannt. Thompson et al. (2007) konnten dies in einer Untersuchung mit zwei Kindern nachweisen, wobei sie das Problem durch die Einführung einer Art Zeichensprache lösen konnten (die Kinder lernten, ein Zeichen zu geben statt zu weinen, wenn sie Aufmerksamkeit wollten).

Lynn Bowman et al. (2013) berichten von einem 14jährigen Jungen mit einer geistigen Behinderung infolge eines Chromosomendefekts. Philip nahm ohnehin aufgrund seines aggressiven Verhaltens an einem verhaltensanalytisch fundierten Programm teil. Die Forscherinnen klärten zunächst, ob nicht doch physische Ursachen für das Weinen bestanden. Die funktionale Analyse bestand darin, dass verschiedene vorausgehende Bedingungen und Konsequenzen auf die Häufigkeit und Dauer des Weinens hin untersucht wurden. Die häufigste vorausgehende Bedingung für das Weinen war die Anwesenheit eines anderen Kindes, das weinte, die häufigsten Konsequenz des Weinens war Aufmerksamkeit in Form von Gedrückt-Werden und tröstenden Worten. Was die Forscherinnen nicht fanden, war eine Flucht-Funktion: Philip weinte nicht, um unangenehme Situationen zu vermeiden. Getestet wurde weiterhin, ob eine Ermahnung („Bitte weine nicht!“) Einfluss auf die Häufigkeit des Weinens hatte. Das war nicht der Fall. Philip weinte unter einer Bedingung am wenigsten, nämlich dann, wenn die Therapeutin mit ihm spielte und redete. Ihre Aufmerksamkeit war dabei explizit auf das gerichtet, was Philip gerade tat (z. B. sagte sie „Du sitzt gerade so schön da“, während sie ihm ein „High Five!“ gab). Wenn Philip weinte, wurde das ignoriert. Diese Methode (differential reinforcement of other behavior, DRO) führte dazu, dass Philip nach einiger Zeit fast gar nicht mehr weinte.

DRO fand auch in Bezug auf das aggressive Verhalten des Jungen Einsatz. Aufgrund des verhaltensanalytischen Trainingsprogramms, das die Eltern des Kindes mit einbezog, konnten die Psychopharmaka, die Philip zuvor erhalten hatte, abgesetzt werden.

Literatur

Bowman, Lynn G.; Hardesty, Samantha & Mendres-Smith, Amber E. (2013). A functional analysis of crying. Journal of Applied Behavior Analysis, 46(1), 317-321. PDF 229 KB

Hanley, G. P.; Iwata, B. A. & McCord, B. E. (2003). Functional analysis of problem behavior: A review. Journal of Applied Behavior Analysis, 36(2), 147-185. PDF 239 KB

Thompson, R.; Cotnoir-Bichelman, N.; McKerchar, P.; Tate, T., & Dancho, K. (2007). Enhancing early communication through infant sign training. Journal of Applied Behavior Analysis, 40(1), 15-23. PDF 168 KB

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Eingeordnet unter Verhaltensanalyse, Verstärkung